Heinrich Wölfflin
Die Kunst Albrecht Dürers
Heinrich Wölfflin

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die große Passion

1.

Die Passionsdarstellungen nehmen im Norden einen ungeheuren Raum ein. Wenn Dürer sagen will, wozu die Malerei gut sei, so nennt er zwei Dinge: daß sie das Bildnis des Menschen über seinen Tod hinaus aufbewahre – der uralte Ruhm der bildenden Kunst – und dann, daß sie die Passion des Herrn zu vergegenwärtigen imstande sei.In den Entwürfen zur Einleitung des großen Kunstbuches. LF 295, 297. Wie undenkbar wäre ein solches Urteil in Venedig oder Florenz! Aber es ist wahr, noch heute sind es die Denkmäler der Passion, die einem in Nürnberg auf Schritt und Tritt begegnen, in den Kirchen und auf den Gassen, da ein Schmerzensmann, dort ein Gekreuzigter, ein Gebet am Ölberg oder eine Kreuztragung. Man hatte das Bedürfnis, die Folge der Situationen nachzuerleben, Stunde um Stunde des großen Leidensdramas sich vor Augen zu stellen. Das Volksgemüt konnte sich nicht ersättigen am Rührenden. Die Peiniger konnten nicht gefühllos genug, Christus und seine Mutter nicht erbarmungswürdig genug dargestellt werden. Die Passionsspiele gehen hierin noch viel weiter als die bildende Kunst. Den biblischen Text ganz hinter sich lassend, versuchen sie alle Tiefen des Mitleiderregenden zu erschöpfen und andrerseits den Haß gegen die jüdischen Schergen zu schärfen, indem die Qualen lang und grausam geschildert werden. Wenn daneben das Burleske auch sich eindrängt, so empfindet man das fast als eine Befreiung, als einen Akt der Selbsterhaltung, den der gesunde Volksinstinkt verlangt.

Die bildende Kunst, wie gesagt, unterscheidet sich in der Stimmung von dem Ton dieser Passionsspiele, aber eine Neigung zum Rührseligen und zur Übertreibung des Grausamen wird man doch im ganzen 15. Jahrhundert bemerken. Nun hatte die graphische Kunst die Aufgabe, bildliche Erbauungsbücher für das Haus zu liefern und auf diesem Boden ist der schönste Passionscyklus vor Dürer erwachsen, die Kupferstichfolge des Martin Schongauer. Er geht nicht immer tief, allein er hat deutlich den Willen, das Gemeine und Triviale zu verdrängen durch eine edlere Darstellung, und in der Regie der Szenen, da wo nun der Künstler im besondern spricht, ist er allen weit überlegen. Um Dürers Passion zu beurteilen, ist die Vergleichung mit Schongauer unerläßlich. 57

2.

Die Anfänge der Dürerschen großen Holzschnittpassion gehen weit in die Zeit der apokalyptischen Arbeit zurück, trotzdem ist die Folge unvollständig geblieben und erst lange nach der zweiten italienischen Reise im Jahre 1510 durch vier Kompositionen ergänzt und dann im folgenden Jahre ausgegeben worden. Auch das Titelbild ist erst damals dazugekommen.

Der Unterschied des Stils in den früheren und den späteren Blättern ist in die Augen springend und bezieht sich auf Entwurf wie Ausführung, so daß man nicht meinen kann, die Zeichnungen seien liegen geblieben und später bloß in einer neuen Manier geschnitten worden.

Es sind die gefühlvollsten Szenen, die Dürer als junger Mensch vorausgenommen hat: das Gebet am Ölberg, das Ecce homo, die Kreuztragung, die Kreuzigung, Beweinung und Grablegung. Auch die bewegte Geißelung ist früh. Was dagegen später erst gemacht wurde, sind das Abendmahl, die Gefangennahme, die Auferstehung und der Niederstieg zur Hölle, ziemlich flüchtig empfundene Geschichten, wobei Dürer sich auf die Wirkung seiner italienischen Kompositionsschemata und die große malerische Haltung verließ. Wir werden seinerzeit darauf zurückkommen.

Die sieben alten Blätter, von denen einstweilen allein die Rede sein soll, unterscheiden sich zeichnerisch nicht von der Apokalypse, doch liegt es im Thema, daß die überraschenden Flächeneinteilungen der apokalyptischen Visionen fehlen. Bei gleichem Format beherrscht die große Figur gleichmäßig die ganze Folge, das bedingt von vornherein einen anderen Eindruck, und dann sieht man deutlich, wie das Figürliche immer mehr aus der dekorativen Linienverflechtung zu plastischer Bestimmtheit und plastischem Eigenwert sich herauszubilden bemüht ist.

Das Gebet am Ölberge. – Dürer hat gerade dieses Thema außerordentlich oft behandelt und ihm die verschiedensten Stimmungen abgewonnen. Es enthält seinem Wesen nach zwei Grundmöglichkeiten: ob man die Angst Christi darstellen will, die sich bis zum lauten Aufschrei steigern kann, oder die Ergebung: »Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine.« Hier spricht noch die Angst. Die Bewegung der Hände sagt so deutlich als es Worte tun könnten: »Ist es möglich, daß dieser Kelch an mir vorübergehe . . .« Vom Ausdruck des Kopfes hat das grobe Messer des Holzschneiders nicht viel übrig belassen, doch wirkt die Figur trotzdem dringlich und ergreifend. Und das ist ein neuer Eindruck. Schongauer wenigstens ist über das bloße Beten kaum hinausgekommen.

Im allgemeinen ist das herkömmliche Schema beibehalten: der Fels links, 58 gegen den Christus kniet; der Ausblick rechts, wo man in der Ferne Judas mit den Häschern kommen sieht; die drei Jünger im Vordergrund. Die Schwierigkeit der Gethsemane-Komposition liegt in diesem letzten Punkt und, um es gleich vorauszusagen, die Tendenz bei Dürer und in der gesamten Kunst geht dahin, die Jünger immer unscheinbarer zu machen. Sie sollen das Auge nicht zu stark auf sich ziehn. Man nimmt sie mehr oder weniger als eine Masse zusammen oder läßt sie zusammengehen in der Bewegung mit dem Terrain, man zeigt nicht bei allen dreien das Gesicht oder setzt es doch in Schatten, damit der Sinn nicht zerstreut und vom Hauptvorgang abgelenkt werde. Dürer ist in seiner Komposition noch altertümlich, indem seine Jünger alle in fast voller Sichtbarkeit und ungefähr gleich stark in ungefügen Ansichten dem Auge sich darbieten. Sie sitzen bloß und haben den Kopf unterstützt, man soll merken, sie sind vom Schlaf überrascht worden; es ist nicht das dicke Schlafen aus dem Bauch, wie es die ältere Kunst hie und da gegeben hat, allein die Bewegung hat auch noch nirgends das Gelöste des Schlafes, und jener ergreifende Ausdruck des Kummers, den Dürer später erreicht, scheint noch nicht einmal angestrebt zu sein.

Auch das ist altertümlich, wie viel vegetabilisches Detail angebracht ist. Auch die Felswand mit dem Buschwerk darauf ist unendlich formenreich: in Platten sich spaltendes Gestein, mannigfach verwittert und ausgefressen. Es sind Dinge, wie sie im Kupferstich der Frühzeit gleichfalls vorkommen, und dort passen sie noch besser hin, denn die Felsen Dürers haben alle einen metallischen Klang.

Die Geißelung ist die Szene der großen physischen Bewegung und als solche für Künstler immer wertvoll gewesen. Die Schlagenden sind dabei meist interessanter als der Geschlagene. Leider hat Dürers Blatt gar nichts von der Schongauerischen Schaubarkeit, es ist mühsam zu besehn, weil alles ineinandergekeilt ist. Die einzelnen Motive an sich aber sind einfach und gehn an Kraftinhalt teilweise schon weit über Schongauer hinaus. Da ist ein Mann, der am Boden hockt und die Füße gegen die Säule stemmt und mit beiden Händen die Stricke festhält, mit denen Christus gebunden ist: solche Arme waren in Deutschland noch nicht gezeichnet worden. Es ist wohl die beste Figur des Bildes. Der Rutenbinder gegenüber wirkt schon darum befangener, weil er noch als reine Flächenfigur in einer Ebene entwickelt ist. An sich aber ist es wichtig, hier den Finger auf den archaischen Stil Dürers legen zu können, ein gesunder Archaismus, der sich die schwierigen Dinge zunächst einmal auf den einfachsten Ausdruck bringt. Das Blatt enthält in den zwei Schlagenden noch weitere Beispiele hierfür. Christus selbst ist ein italienischer Akt. Nicht mehr die grazile spätgotische Gestalt, sondern ein völliger und muskulöser Körper, in Bewegung und Einzelzeichnung nach italienischer Art umgebildet. 59 Der Kopf ist stark verschnitten. Das Motiv des Reißens am Haar würde Dürer später weggelassen haben.

Ecce homo. – Der eine, der leidet, und die Menge, die kein Mitleiden hat, werden sich gegenübergestellt. Schongauer hatte in klarem Kontrast, sozusagen Profil gegen Profil, die zwei Parteien einander entgegengesetzt, Dürer glaubte hier perspektivisch interessanter sein zu müssen und orientiert die Flucht des Richthauses mit den Stufen, auf denen Christus steht, schräg zum Beschauer, wodurch er das Blatt von vornherein verdarb, da er die Verkürzung doch nicht richtig zu zeichnen imstande war.Nebenbei bemerkt, es kann auffallen, daß Dürer diese Blätter mit ihren elementaren perspektivischen Fehlern später immer noch weiter nicht nur verkauft, sondern als Geschenke verwendet. Man muß annehmen, daß das Widrige perspektivischer Verstöße damals, wo man den Übergang zum Richtigen eben erst gemacht hatte, doch nicht so empfunden wurde wie von uns.

Die Christusfigur ist klar und ausdrucksvoll gegeben, »erbärmlich«, wie es in der Situation liegt, aber gegenüber Schongauer doch gehaltener und würdiger. Im Tritt noch die spätgotische Zierlichkeit. Nebenfiguren, Dekoration und dunkler Grund verbinden sich zu einem reichen Ganzen. Die Menge unten fällt dagegen ab. Es fehlt der Wille darin. Bis die Kunst eine Volksstimmung darstellen konnte, dauerte es noch lange. Meisterhaft hat Holbein mit ganz wenig Elementen beim Ecce homo den Eindruck der Menge so gegeben, daß man den Sturm der Stimmen zu hören glaubt, aber schon Schongauer ist darin weiter gekommen als Dürer. Hier wirken die paar Personen durchaus vereinzelt. Es sind aber auch sonst matte Redner (der vordere mit charakteristischer Unklarheit in dem eigentümlich spätgotischen Schreiten). Am besten ist der zuschauende Soldat mit Lanze bei Fuß, eine nach damaligen Begriffen moderne Figur. Sie ist ähnlich verwendet im Kupferstich, auf dem frühen Blättchen der sogenannten sechs Soldaten.

Die Kreuztragung

Mit der Kreuztragung tritt Dürer in Konkurrenz mit dem berühmteren Stich Schongauers, dem großen frühen Einzelblatt des Meisters, einer klaren flüssigen Komposition von erstaunlichem Reichtum. Vorzüge und Mängel der jungen Kunst lassen sich hier besonders deutlich erkennen. Das Strömende hat Dürer nicht: der Zug ist still gestellt. Was man wahrnimmt, sind lauter einzelne Figuren. Die Knechte, die bei Schongauer treiben und drängen, sind hier ersetzt durch die Stehfigur des umblickenden Soldaten, die schöne Pose eines Statisten. Aber freilich, es ist eine Figur, wie sie Schongauer nicht hätte geben können, so fest aufstehend auf dem Boden, mit durchgedrücktem Knie und gespannten Muskeln der Waden. Da spricht der neue Stil. Zu 60 allen Zeiten ist es nun so gewesen, daß das Neue, bruchstückweise erfaßt, zunächst zersetzend wirkt, das Interesse wendet sich dem einzelnen zu und das Gefühl für das Ganze wird schwächer. In der Hauptfigur hat Dürer das Bedürfnis gehabt, das Leidende im Ausdruck stärker herauszuarbeiten und die Figur nach ihrer mechanischen Funktion völliger aufzuklären. Der Schongauersche Christus trägt nicht, erst Dürer gibt den gestrafften Stützarm. Die zweite Hand scheint bei Schongauer ganz verloren gegangen zu sein, nach langem Suchen erst kann man unten irgendwo ein paar Finger finden, Dürer läßt den Arm hochgreifen und sichtbarer den Kreuzbalken umschlingen. Doch ist die Lösung noch keine vollkommene, das Motiv ist nicht in der Figur vorbereitet und wird darum leicht ganz übersehn. Am wirkungsvollsten ist die Behandlung des Kopfes: es ist für den Ausdruck wichtig, daß die Drehung keine leichte und flüchtige sei, sondern sich mühsam und schwer vollzieht. Schongauer läßt den Vorgang in den Halsgelenken nur erraten, während die Darstellung Dürers gerade hier einsetzt und dadurch den Vorgang erst erlebbar macht. Auch das ist aber nur ein Anfang. Erst später findet er die abschließende Lösung: daß der Blick über die emporgedrückte Schulter des Stützarmes hinübergehen müße. So ist es gehalten in der kleinen Holzschnittpassion.

Christus am Kreuz

Die Kreuzigung. – Das ist ein Stück von grandioser Empfindung. Der Blick richtet sich zuerst auf Maria, die man von älteren Darstellungen her kennt als die ohnmächtig zusammenbrechende, der die Freunde zu Hilfe kommen. Hier ist sie bereits zusammengebrochen; aber nur körperlich, nicht im Bewußtsein. Man sieht, wie sie zu Boden geglitten ist, aber noch will sie die Haltung bewahren. Sie kann nicht mehr blicken, die Lider sind geschlossen, aber wie sie den Kopf hält und wie die Hände bewegt sind, heißt, daß sie bis zum äußersten der Schwäche Widerstand leistet. Hier ist man denn wirklich mit einem Schritt weit hinaus über die Rührseligkeit des 15. Jahrhunderts. Die Begleitfiguren geben den Abstand der gewöhnlichen Menschheit. In Johannes die übliche Ratlosigkeit. Magdalena ist die einzige, die stehend den Blick zu Christus emporführt.

Dieser hat ganz die stracke Form wie sie schon früher gelegentlich vorkommt, im Gegensatz zu einer anderen, mehr auf das Erbarmungswürdige hinzielenden Darstellung, die das Geknickte, namentlich in den Knieen, zur Anschauung bringt. Man würde übel interpretieren, wenn man auf das Motiv der Passionsspiele zurückgreifen wollte, dem Herrn grausam die Glieder zu strecken, um Fuß und Arm an das vorgebohrte Nagelloch heranzubringen; die Behandlung hat im Gegenteil etwas Sieghaftes. Arme und Beine sind straff gespannt, aber man empfindet diese Straffung wie eine Kraftäußerung. Und dazu paßt in der Stimmung die prachtvoll flatternde Fahne des Lendentuches.

61 Das Leiden erscheint erst wieder als Mitleiden in den Engeln, die mit großen Flügeln rauschend das Kreuz umfliegen und das Blut der Wunden auffangen. Sie sind die höhere Entwicklung der apokalyptischen Engel, wo sie diese rauschende Bewegung noch nicht haben. Wie zierlich und nichtssagend sind aber gar die gleichen Gebilde bei Schongauer. Zwei Reiter halten der Familie Christi das Gleichgewicht auf der andern Seite des Kreuzes. Mit gesteiftem Bein sitzt der Hauptmann im Sattel und sein überquellender Federbusch ist für Dürers damaliges Formgefühl ebenso charakteristisch wie die saftige, großlinige Zeichnung des Pferdes, das den Kopf unruhig herumwirft.Es verlohnt sich, bei diesem Anlaß einen Blick auf die typisch quattrocentistische Kreuzigung, die im Kapitel »Grundlagen und Anfänge« abgebildet ist, zurückzuwerfen, um zu spüren, wie jede Form von neuen Säften geschwellt und die Bildfläche in einem neuen Verlangen nach Fülle durchgearbeitet ist.

Die Beweinung

Die Beweinung. – Der Leichnam ist vom Kreuz abgenommen. Man hat ihn auf den Boden gelegt, Johannes faßt ihn unter den Armen, daß der Kopf emporkommt und Maria und die Frauen dürfen ihn so noch eine Weile bei sich haben. Es ist ein Thema, das erst mit dem 16. Jahrhundert in Deutschland eigentlich populär wirdDen bekanntern Typus der Maria mit dem toten Sohn auf dem Schoß hat Dürer auffallenderweise nie behandelt., in Italien ist es von jeher heimisch gewesen und es haben sich früh Gruppenbau, Nuancierung und die Kontraste des Ausdrucks daran ausgebildet. Die Absicht auf das tektonisch regelmäßige Zusammenordnen der Figuren im italienischen Sinn ist auch bei Dürer deutlich und will als etwas Besonderes bemerkt sein. Die schöne Stehfigur der Magdalena mit betenden Händen, die aus der Kreuzigung wiederholt ist, bildet den krönenden Abschluß: gehalten in der Stimmung wie in der Linie des Umrisses. Daneben die laute Klage, mit emporgeworfenen Armen (ein Nachklang Mantegnas), und die krampfhaft erdrückte bei der Frau, die abseits sitzt und mit den Händen die emporgezogenen Kniee preßt, eine volkstümliche Gebärde, die später nicht mehr vorkommt, die aber auch bei Schongauer sich findet; neu ist hier nur das lebhafte Herumdrehen des Kopfes: diese Ausnutzung der Gelenke des menschlichen Körpers hat die deutsche Kunst zuerst bei den Italienern zu sehen bekommen.

Maria selbst hält die Hand des Toten empor, die nun gut und weich auf ihrer Unterlage ruht. Sie scheint mit dem Kopftuch die Wunde (oder die Augen?) trocknen zu wollenSo hat es wenigstens Zeitblom aufgefaßt in seinem Gemälde des Germanischen Museums, das Dürer kopiert, mit Weglassung des Johannes und der Magdalena. Der Holzschnitt ist nicht ganz deutlich.. Die andere Hand des Herrn liegt mit 62 zusammengekrampften Fingern am Boden. Dies Motiv muß Dürer später als roh empfunden haben: so oft er die Beweinung noch behandelt hat, er greift nie mehr darauf zurück. Die Zeichnung hat etwas sehr Gefühltes, was auch in dem stellenweise ganz ungenügenden Schnitt heraustritt. Doch fehlen noch die eigentlich klassischen Leidensaccente, die emporgedrückte Schulter und der zurückfallende Kopf. Hier ist es mehr das Bild eines Kranken und Müden als das eines Toten, der unter ungeheuren Qualen verschieden ist.

Das Gemälde der Beweinung in München, das sich am besten hier einschalten läßt, arbeitet schon mit etwas geschärftern Ausdrucksmitteln in der Führung der Kopf- und Schulterlinien, hat aber in den gekreuzten Beinen etwas Grobes und auch die Überschneidung der Brust durch den angenommenen Arm ist nicht gut, indem sie das Stille und Feierliche in der Erscheinung des Toten zerstört. Der Aufbau der Gruppe im Dreieck stimmt mit der Komposition des Holzschnittes überein. Das Datum 1500 mag das Richtige angeben.Ein anderes Beweinungsbild im Germanischen Museum darf nicht im selben Atem mit dem Münchener genannt werden. Es zeigt in der Christusfigur den klassischen Bewegungstypus schon ganz ausgebildet, den Dürer doch auch in der grünen Passion von 1504 noch nicht hat. Gleichzeitig sind dann wieder ältere Motive verwendet (Magdalena).. Die Gruppierung ist locker und die Besetzung der Landschaft mit Figuren von der sonderbarsten Art. Das Bild steht jedenfalls nur in einem entfernteren Zusammenhang mit Dürer.

Die Grablegung. – Das beliebtere Thema des Nordens an Stelle der Beweinung ist die Grablegung, das heißt im wörtlichen Sinn das Hineinlegen des Leichnams in den Sarkophag, der Abschied von dem teuern Toten am Grabe, eine Szene, zu der das Leben ja täglich die Parallele bot.

Nürnberg besaß in dem großen Relief Adam Kraffts außen an der Sebalduskirche aus neuester Zeit eine hervorragende Darstellung dieser Art. Sie enthält den unvergeßlichen Moment, wie Magdalena sich niederwirft, um dem Leichnam, während man ihn hineingleiten läßt, noch einen letzten Kuß zu entreißen. Bei Dürer ist es nun nicht die eigentliche Grablegung, sondern das Aufnehmen oder vielmehr Forttragen des Leichnams, also das, was Mantegna in einem berühmten Kupferstich gegeben hat. Drei Männer haben angefaßt, der Zug setzt sich in Bewegung. Es ist erstaunlich, wie schlecht der Vorgang zur Darstellung gebracht ist: der Körper völlig zerschnitten und die mechanische Operation kaum zu fassen. Wie man schon der Technik der Zeichnung entnehmen kann, ist es eine ganz frühe Arbeit.Der Kopf des hintersten Trägers findet sich auch in der Apokalypse, im Blatt der babylonischen Hure (B. 73), also in dem ältesten Teil jener Folge.

63 Das Blatt lebt von der Figur der Maria. Diese ist in einem sehr großen Sinne aufgefaßt und der Maria der Kreuzigung vielleicht noch überlegen. Sie sitzt ganz gelähmt am Boden, unfähig, auch nur den Kopf nach dem Vorgang hinzuwenden, die Augen blicken matt vor sich hin, aus den Händen ist alles Leben gewichen, und doch ist in der Haltung noch etwas Königliches übrig geblieben.

 

3.

Es läßt sich denken, daß diese großen Passionsblätter keine eigentlich volkstümliche Wirkung hatten. Es gibt volkstümliche Figuren drin, wie der Christus des Ecce homo, und der Ernst des Gebets am Ölberg oder der große Aufblick in der Kreuztragung mußte wohl allgemein Eindruck machen, aber ob das Heroische in der Maria gleich verstanden wurde, ist zu bezweifeln, und im allgemeinen kann man wohl sagen, daß das Werk etwas Ungleichartiges hat, Anläufe in verschiedener Richtung zeigt, und daß die formalen und die inhaltlichen Interessen darin sich nicht überall durchdringen. Aus einer gleichmäßigen Passionsstimmung ist es jedenfalls nicht hervorgegangen. Und dann fehlt ihm, um populär zu sein, das Verweilende. Es fehlen eine Reihe von Situationen, die dem Gefühl besonders nahe stehen mußten und auch in den Passionsspielen breit behandelt wurden: die Kreuzanheftung, die würfelnden Soldaten am Kreuz, die Dornenkrönung, die Verhöre nach der Gefangennahme und dergleichen. Der junge Dürer wollte offenbar nicht erzählen, seine Phantasie hing sich mehr an die große Einzelfigur oder die sorgsam komponierte Gruppe.

Das ändert sich. Im Jahre 1504 zeichnet er auf zwölf Blättern die Folge der »grünen Passion« (so genannt nach der Farbe des Papiers; Albertina, L. 477 ff.), die im Stil und in der Gesinnung anders ist als die alte Passion. Es sind Federzeichnungen mit weißgehöhten Lichtern, mit entschiedener Tendenz auf malerische Wirkung. Die Gefangennahme wirkt schon fast wie ein Nachtstück. Hier wird Dürer nun mitteilsam. Er gibt gerade die Szenen, die vorhin im Namen des Publikums reklamiert wurden, und er ist dabei ausführlich und bringt nicht nur viel Architektonisches, Hallen und Portale und Treppen, sondern auch viel Leute. Er zeichnet jetzt beim Ecce homo das Gewirr der Juden und Soldaten auf der Gasse und Christus erscheint nur hoch oben als kleine Figur, und bei der Kreuzigung verschwinden die Engel, dafür sieht man die Soldateska. Die Kreuztragung hat jetzt Zug und drängende Bewegung; der lanzenhaltende Statist ist ersetzt durch eine Charakterfigur im alten Sinn.

Die Gefangennahme aus der »Grünen Passion«
Wien, Albertina

Dabei darf man sich aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Auffassung gesunken ist. Es genügt, die Figur der Maria in den Geschichten zu verfolgen. 64 Nirgends ist der Ton hoch genommen, so daß der (seit Sandrart) traditionelle Ruhm dieser Folge doch wohl einmal eine Abschwächung erfahren möchte.

Die wirklichen Fortschritte liegen in der Klärung der Zeichnung und der reicheren Ansicht von Einzelfigur und Ensemble. Trotz dem Vielfigurigen sind die Kompositionen schon leichter faßbar, schaubarer gemacht. Dürer beruhigt sich, er vermeidet die gedrängte Linienfülle der älteren Kompositionen, er nimmt die Figuren auseinander, gibt ihnen Luft und führt den Umriß in glatterem Strich. Die Motive werden klarer durchgebildet, die alten Figuren aber überboten durch Reichtum, wobei für den ersten Fall der Christus der Kreuztragung, für den zweiten der Rutenbinder der Geißelung genannt sein möge.

Wie die Situationen im ganzen gestaltet sind, wird besser an einem andern Ort, im Zusammenhang mit den spätern Passionen, beurteilt werden können.

Abschließend sei nur noch auf einen Holzschnitt (B. 59) verwiesen, der zeitlich zur grünen Passion gehört und die Tendenz zur Darstellung eines vielköpfigen Geschehns sehr deutlich enthält.Auch das Berliner Kabinett besitzt eine gleichzeitige Zeichnung, wo Dürer die Kreuzigung als Massenvorgang zu fassen versucht (L. 15). Sie gilt als Vorstudium zu der (von Lippmann unbezweifelten) Grisaille der Uffizien in Florenz. Es ist dieselbe Bildstimmung, aus der das Marienleben hervorgegangen ist. 67

 

 


 << zurück weiter >>