Johann Joachim Winckelmann
Geschichte der Kunst des Altertums
Johann Joachim Winckelmann

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Das dritte Kapitel

Von der Kunst der Hetrurier

Über die Kunst der Hetrurier finde ich nötig, mich deutlicher zu erklären, und von der Geschichte dieses Volks anzufangen . . .

 
Über die alte Geschichte der Hetrurier

Die kurze älteste Geschichte der Hetrurier, die ich voransetze, kann als eine Geschichte ihrer Kunst selbst angesehen werden, da dieselbe bei ihnen sehr alt ist, und die Werke derselben, welche übrig geblieben, vermutlich älter sind als diejenigen, so von den Griechen auf uns gekommen, indem wir auf geschnittenen Steinen und in Figuren von Erz annoch die ersten Versuche ihrer Kunst finden.

Die Kunst der Zeichnung scheint von den Griechen zu den Tyrrheniern oder den Hetruriern gebracht zu sein, und dieses kann man schließen aus den griechischen Kolonien, die sich in Hetrurien niedergelassen haben, sonderlich aber aus den Bildern, die, aus der griechischen Fabel und Geschichte genommen, auf allerlei Art Werken von den hetrurischen Künstlern vorgestellt sind.

Von zwei Wanderungen der Griechen nach Hetrurien findet sich Nachricht bei den alten Skribenten, von welcher der erste Zug sechshundert Jahre früher als der zweite fällt. Diese ist die Wanderung der Pelasger, die aus Arkadien herkamen, von welchen ein Teil sich zuvor in Athen niedergelassen hatte. Die Pelasger werden von Thukydides und von anderen Tyrrhenier genannt . . .

. . . Da aber um diese Zeit weder den Griechen noch den Hetruriern die Kunst der Zeichnung bekannt gewesen zu sein scheint, so gehört 356 diese erste Wanderung der Tyrrhenier nach Hetrurien nicht zu unserem Vorhaben.

Die zweite Wanderung der Pelasger nach Hetrurien geschah ungefähr dreihundert Jahre nach den Zeiten des Homerus, und ebenso lange vor dem Herodotus, wie dieser Geschichtschreiber selbst die Begebenheit bestimmt, das ist: zu der Zeit des Thales und des Lycurgus, des Gesetzgebers zu Sparta. Auch die Lydier, die mit den Phrygiern grenzten, sandten damals Kolonien aus zur See, und Herodotus sagt, daß dieselben unter Anführung eines Tyrrhenus nach Hetrurien gegangen . . . Jene letzteren griechischen Kolonien haben vermutlich die Kunst zu schreiben nach Hetrurien gebracht, und da diese Nation ihre eigne Geschichte vorher nicht aufzeichnen können, wird es den Griechen leicht gewesen sein, den Hetruriern zu jener ihrer Geschichte Lust zu erwecken und die Begebenheiten der griechischen Helden unter ihnen bekannt zu machen. Denn daß die Hetrurier ihre ganze alte Geschichte in Vergessenheit gehen lassen, und die griechische Mythologie und Fabeln nebst der ganzen Geschichte des Trojanischen Krieges sich zugeeignet haben, ist aus ihren Kunstwerken klar und bedarf keines Beweises.

Es müssen jedoch diese Erzählungen, die so sehr von ihrem Ursprunge entfernt waren und in einem entlegenen Lande einer fremden Nation bekannt gemacht wurden, von ihrer Wahrheit verlieren und ihre Gestalt in etwas verändern. Es finden sich daher auf hetrurischen Denkmalen einige Bilder des Homerus in etwas verschieden von der Beschreibung dieses Dichters vorgestellt . . . Aus eben dem Grunde hat die Mythologie der hetrurischen Götter mit der griechischen Theologie der ältesten Zeiten eine große Verwandtschaft, wie man aus den vielen geflügelten Figuren auf hetrurischen Werken sieht . . . Viele geflügelte Genios sieht man auf hetrurischen Begräbnisurnen, sonderlich in den Gemälden der unterirdischen hetrurischen Gräber der uralten hetrurischen Stadt Tarquinium . . .

Die Pelasger gedachter zweiten Kolonie scheinen unter den Hetruriern keinen Krieg oder Staatsveränderungen verursacht zu haben, als welche wie zuvor in dem Besitze der Freiheit blieben unter Häuptern, die sich das Volk erwählte, deren zwölf waren, nach der Zahl der 357 Stämme oder der Völkerschaften in diesem Lande, und diese Häupter oder Könige waren wiederum einem anderen Wahlkönig, wie Porsenna zu Clusium war, unterworfen. Griechenland hingegen befand sich zur Zeit dieser zweiten Wanderung der Pelasger nach Hetrurien in der kläglichsten Verfassung und in beständigen Empörungen, welche die alte Verfassung zerrissen und den ganzen Staat umkehrten, und diese Verwirrung hob sich an im Peloponnesus, wo die Achäer und Ionier die vornehmsten Völker waren . . . Die Dorier, welche Herren vom Peloponnesus waren, übten weder Künste noch Wissenschaften und waren daher wenig auf den Anbau dieses eroberten Landes bedacht; andere Teile von Griechenland waren nicht weniger verheert und ungebaut, so daß die Küsten, da Handel und Schiffahrt lag, beständig von Seeräubern heimgesucht wurden, und die Einwohner sahen sich genötigt, sich von dem Meere und von dem schönsten Lande zu entfernen. Die inneren Gegenden genossen kein besseres Schicksal: denn die Einwohner vertrieben sich einer den andern, und es war daher, da man beständig bewaffnet gehen mußte, keine Ruhe, das Land zu bauen und auf die Künste zu denken.

In solchen Umständen befand sich Griechenland, da Hetrurien ruhig und arbeitsam sich vor allen Völkern von Italien in Achtung setzte . . . und den ganzen Handel sowohl im Tyrrhenischen als im Ionischen Meere an sich zog, welchen sie durch ihre Kolonien in den fruchtbarsten Inseln des Archipelagus und sonderlich der Insel Lemnus befestigten. In diesem Flor der mit den Tyrrheniern vereinigten Nation der Hetrurier blühten die Künste zu der Zeit, da die ersten Versuche in denselben in Griechenland untergegangen waren; und unzählige ihrer Werke zeigen offenbar, daß sie gearbeitet worden, ehe die Griechen selbst etwas Förmliches aufweisen konnten.

 
Die zwei Stile der hetrurischen Kunst

Die Kunst wird sich unter den Hetruriern wie bei anderen Völkern auf einerlei Art gebildet haben, das ist: mit Nachahmung der Natur, welche der Vorwurf derselben ist. Von dieser als ihrer Führerin, da sie kaum auf den Weg gebracht worden, trennte sie sich und folgte ihren 358 eignen Fußstapfen, bis sie sich endlich verwirrt fand und sich genötigt sah, von neuem zu ihrer Führerin zurückzukehren, und zu den Grundsätzen, von welchen sie abgewichen war. Ein völlig ähnliches Schicksal hat die Kunst auch in neueren Zeiten erfahren, und die die Geschichte derselben kennen, werden die Gleichförmigkeit einsehen. Von der ersten Nachahmung der Natur ist von den Hetruriern so wenig als von anderen Völkern übrig; von den selbst gebildeten Formen aber und von den Abweichungen von der Natur zeugen ihre allerältesten Werke, als welches der erste Stil ihrer Kunst ist. Die Verbesserung desselben und die Rückkehr zur Natur erscheint in ihren späteren Arbeiten, die ich unter dem zweiten Stil begreife.

Die übriggebliebenen Werke ihres ersten Stils können in verschiedene Klassen und Zeiten abgesondert werden; da aber meine Absicht mehr auf Lehre und Unterricht geht, halte ich mich an das beste aus diesem Stile; und nach Eigenschaften und Kennzeichen, die ich in demselben bemerke, bestimme ich die Form des ersten Stils . . .

. . . Die Bildung der Figuren kann [hier] mit der ägyptischen verglichen werden, sowohl in Absicht der Zeichnung des Ganzen als auch einiger Teile. Denn in unserem Werke [einem Relief mit Figuren beinahe in Lebensgröße] sind alle in geraden Linien gezogen, und sogar das Gewand hat zur Andeutung der Falten bloß parallel laufende Einschnitte, jedesmal zwei derselben aneinandergenäht, die teils völlig senkrecht gehen, teils sich in sehr flache Bogen krümmen wie da, wo das Gewand von der Achsel fällt, so daß eine völlige Monotonie daselbst herrscht. Die Köpfe der fünf Figuren dieses Werks haben platte und aufwärts gezogene Augen, wie die ägyptischen Augen und die an den Köpfen auf den ältesten griechischen Münzen sind. Die Haupthaare, sowohl diejenigen, welche hängen, als die oben auf dem Kopfe, sind in sanft geschlängelte Furchen gezogen; über der Stirn aber und an den Schläfen sind dieselben in reihenweise gelegte kreppige Löckchen gearbeitet. Da nun diese Figuren bekleidet sind und man von der Zeichnung des Nackenden vornehmlich aus der Gestalt des Gesichts urteilen muß, so scheint die angezeigte Form der Augen, welche von der gewöhnlichen Natur abgeht, eine angenommene Bildung oder, wie wir jetzt zu reden pflegen, eine Manier zu verraten, welche später als die 359 erste Nachahmung der Natur selbst sein wird. Denn ehe man von den ersten Versuchen in Bildung der Figuren bis an [die] Ausführung eines erhobenen Werks, wie das gegenwärtige ist, [hat] gelangen können, muß eine geraume Zeit verflossen sein. Es ist auch Manier oder ein angenommenes Systema die angezeigte Art von Falten, welche nicht natürlich ist, da sie sich an einer lebenden und [sich] regenden Figur nicht so steif werfen noch erhalten können.

Diesen ersten geraden und steifen Stil verließen die hetrurischen Künstler, wie man sieht, und suchten zur Nachahmung der Natur zurückzukehren; sie verfehlten aber den Weg. Denn sie überschritten die Grenzen und verfielen wiederum in eine Manier, welches der zweite und spätere Stil ihrer Kunst ist. Dieser Stil ist durch die Bemühung, bedeutend und gelehrt zu erscheinen, hart und übertrieben geworden, wie ich in der Geschichte der Kunst umständlich glaube angezeigt zu haben.

Dieser hetrurische Stil hat mit dem ersteren zwei gemeinschaftliche Kennzeichen, nämlich den Mangel der Grazie und die gezwungene Arbeit an den Haaren, welche in Reihen weitgelegten Ringelchen besteht. Auf ähnliche Art sind die Haare an der Wölfin von Erz im Campidoglio gearbeitet. Da dieses Werk offenbar eins der urältesten ist, so können auch hier die Haare die gegründete Mutmaßung bestärken, daß dasselbe von der Hand eines hetrurischen Meisters sei, da sich die Römer anfänglich der Künstler dieser Nation bedienten . . .

Kennzeichen außer der Zeichnung und der Ausarbeitung, die insgemein von hetrurischen Figuren gegeben werden, können trüglich sein, wie es der Bart des Mercurius ist: denn es waren auch in Griechenland bärtige Figuren dieser Gottheit . . .

 
Hetrurische Gemälde

Die neuesten Entdeckungen von Werken hetrurischer Kunst sind die . . . Gräber der alten Stadt Tarquinium, einer der zwölf Hauptstädte von Hetrurien. Diese sind alle unter der Erde in einem weichen Steine, welchen man Tuffo nennt, gehauen und liegen in einer Ebene bei Corneto, ungefähr drei Meilen vom Meere und einige Stunden 360 jenseit Civita Vecchia . . . Ohnerachtet diese Grüfte durch keine Öffnung beleuchtet waren, . . . sind dieselben voller Zieraten, nicht allein an der Decke, sondern auch an den Wänden und Pfeilern, unter welchen man auch die sogenannten Meandri bemerkt; ja einige haben von allen Seiten umher einen bemalten breiten Streifen, welcher hier an der Stelle der Friese steht und über die Pfeiler fortläuft; und einige Pfeiler sind von unten an mit großen Figuren bedeckt. Diese Gemälde sind auf einer dicken Bekleidung von Mörtel ausgeführt; einige derselben sind ziemlich kenntlich, andere aber, wo Feuchtigkeit oder die Luft Zugang gehabt hat, sind zum Teil verschwunden.

Die Gemälde einer solchen Gruft an eben diesem Orte hat Buonarroti in schlecht entworfenen Umrissen bekannt gemacht; diejenigen Grüfte, von welchen ich Nachricht gebe, die weit beträchtlichere Vorstellungen enthalten, sind nach der Zeit entdeckt, und es werden dieselben künftig durch . . . Herrn Byres . . . erscheinen. Die meisten der Friese bilden Gefechte oder Gewalttätigkeit wider das Leben einiger Personen; andere stellen der Hetrurier Lehre von dem Zustande der Seelen nach dem Tode vor. In diesen sieht man bald zwei schwarze geflügelte Genios mit einem Hammer in der einen Hand und mit einer Schlange in der andern, die einen Wagen an einer Deichsel ziehen, auf welchem die Figur oder die Seele des Verstorbenen sitzt; bald schlagen zwei andere Genii mit langen Hämmern auf eine zur Erde gefallene nackte männliche Figur. Unter der zuerst erwähnten Art von Gemälden sieht man teils ordentliche Gefechte zwischen Kriegern, von denen sechs unbekleidete Figuren sich nahe aneinander schließen, die ihre runden Schilder einen über den andern legen und also fechten. Andere Krieger haben viereckige Schilder, und die meisten sind nackend. In diesem Gefechte werden von einigen kurze Degen, die Dolchen gleichen, von oben her in die Brust gesunkener Figuren gestoßen. Zu einem solchen Blutvergießen läuft ein betagter König hinzu mit einer zackigen Krone um sein Haupt, welches vielleicht die älteste zackige königliche Krone ist, von welchen sich in alten Werken Nachricht findet; und eben diese Krone kann auch dem Diadem ein höheres Alter geben, da alle neueren Skribenten dasselbe unter den Griechen allererst nach Alexanders des Großen Zeiten in Gebrauch kommen lassen. 361 Eben solche zackige Krone trägt eine männliche Figur auf zwei hetrurischen Begräbnisurnen, welche ebenfalls einen König vorzustellen scheint, ingleichen eine weibliche Figur auf einem Gefäß von gebrannter Erde; und eine unbekleidete schwebende jugendliche männliche Figur, auf einem herkulanischen Gemälde, hält eine ähnliche Krone in der Hand. Auf einem andern Fries, wo keine von beiden Arten Vorstellungen angebracht ist, sieht man unter anderen Figuren eine bekleidete Frau mit einer oberwärts breiten Mütze auf dem Haupte, über welche bis auf das Mittel derselben ihr Gewand herauf gezogen ist . . .

 


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