Johann Joachim Winckelmann
Geschichte der Kunst des Altertums
Johann Joachim Winckelmann

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Der erste Teil

Das erste Kapitel

Von dem Ursprunge der Kunst, und von der Materie derselben

Einleitung

Die Werke der Kunst sind in ihrem Ursprunge, wie die schönsten Menschen bei ihrer Geburt, ungestalt gewesen; und in ihrer Blüte und Abnahme gleichen sie denjenigen großen Flüssen, die wo sie am breitesten sein sollten, sich in kleine Bäche oder auch ganz und gar verlieren. Die Kunst der Zeichnung unter den Ägyptern ist einem wohlgezogenen Baume zu vergleichen, dessen Wachstum durch den Wurm oder durch andere Zufälle unterbrochen worden: denn es blieb dieselbe ohne Änderung, aber ohne ihre Vollkommenheit zu erreichen, eben dieselbe bis an die Zeit der griechischen Könige daselbst, und ein ähnliches Verhältnis scheint es mit der Kunst der Perser zu haben. Die Kunst der Hetrurier kann in ihrer Blüte mit einem reißenden Gewässer, welches mit Ungestüm zwischen Klippen und Steinen hinschießt, verglichen werden: denn die Eigenschaft ihrer Zeichnung ist hart und übertrieben; die Kunst der Zeichnung unter den Griechen aber gleicht einem Flusse, dessen klares Wasser in öfteren Krümmungen ein weites fruchtbares Tal durchströmt und anwächst, ohne Überschwemmung zu verursachen.

Die Anmerkungen dieses Kapitels betreffen zum ersten den Ursprung der Kunst überhaupt und die älteste Gestalt der Figuren, und zweitens die Materie, in welcher die Künstler gearbeitet haben. 350

 
Ursprünglichkeit der Künste bei den Griechen

Daß die Kunst, Figuren zu bilden, bei den Griechen sowohl als bei den Ägyptern ursprünglich sein könne, und daß die ersten Gestalten nicht durch diese jenen gelehrt worden, ist in der Geschichte der Kunst als wahrscheinlich angegeben, auch aus dem Grunde, weil ein jedes Volk das Nötige bei sich selbst gefunden hat. Dieser Grund wird bestärkt durch die Betrachtung, daß die Kunst der Zeichnung und die Malerei, wie die Poesie, eine Tochter des Vergnügens ist; das Vergnügen aber ist dem Menschen nicht weniger notdürftig als die Notdurft in eigentlichem Verstande. Und man kann behaupten, daß die Malerei und die Bildung der Figuren, oder die Kunst, unsere Gedanken zu malen und zu bilden, älter sei als dieselben zu schreiben, wie [es] aus der Geschichte der Mexikaner und anderer Völker erweislich ist. Wenn man aber zugestehen wollte, daß die Griechen die Kunst von den Ägyptern erhalten, so muß man wenigstens auch bekennen, daß es mit jener wie mit dieser ergangen sei: denn die Fabeln der Ägypter wurden unter dem griechischen Himmel gleichsam von neuem geboren und nahmen eine ganz verschiedene Gestalt und andere Namen an . . .

Daß die Bildhauerei ungleich älter als die Malerei sei, ist von dem gründlichen Verfasser des Werks von dem Ursprunge der Gesetze, der Künste und Wissenschaften mit den möglichsten Beweisen dargetan. Die Stufen, durch welche die Bildhauerei von ihrem Ursprunge an gegangen, sind von mir angezeigt, und es erhellt aus den Nachrichten von den ersten Versuchen in dieser Kunst bei den Griechen, daß diese Nation, ob sie gleich von der Natur selbst geschwinder als andere zum Schönen geführt zu sein scheint, dennoch eine geraume Zeit Kinder gewesen, ehe sie Männer geworden.

 
Die Materie der Kunst

Von der Materie, in welcher die Künstler gearbeitet haben, ist etwas übrig geblieben anzumerken. Was Plinius von dem Abformen der Statuen sagt, welches des Lysippus Bruder soll erfunden haben, ist so, wie es dieser Skribent angibt, nicht glaublich; es ist aber derselbe in dem, 351 was die Kunst betrifft, kein Evangelist, und er scheint vielmals nur vom Hörensagen zu sprechen. Vielleicht waren die Bildnisse berühmter Männer, die, wie eben derselbe meldet, Varro in alle Länder verschickt, in Gips geformt, so wie es die Bildnisse der Gottheiten armer Leute waren. In Marmor haben die Künstler aller Völker, bei welchen die Kunst geblüht hat, gearbeitet . . . Bei den Griechen waren die bekanntesten Arten der Parische und der Pentelische, und ebenso viele Hauptarten von griechischem Marmor werden noch jetzt an Statuen bemerkt, nämlich ein kleinkörniger, welcher ein weißer, gleichförmiger Teig zu sein scheint, und ein zweiter von größeren Körnern, die mit anderen, welche wie Salz glänzen, vermischt sind und daher Marmo Salino genannt wird, und dieser ist vermutlich der Pentelische Marmor aus dem Attischen Gebiete . . .

Es verdient hier insbesondere der Arbeit der Alten in Glas gedacht zu werden, welche in der Geschichte der Kunst nicht berührt ist, und dieses um so vielmehr, da die Alten weit höher als wir die Glas-Kunst getrieben haben . . .

Bis zur Verwunderung aber geht die Kunst in zwei kleinen Stücken von Glas, die im verwichenen Jahre in Rom zum Vorscheine gekommen sind. Beide Stücke haben nicht völlig einen Zoll in der Länge und ein Drittel desselben in der Breite. Auf dem einen erscheint in einem dunkelen, aber vielfarbigen Grunde ein Vogel, welcher eine Ente von verschiedenen, sehr lebhaften Farben, mehr aber im chinesischen, willkürlichen Geschmack als der Natur gemäß, vorgestellt. Der Umriß ist sicher und scharf, die Farben schön und rein und von sehr lebhafter Wirkung, weil der Künstler nach Erforderung der Stellen bald durchsichtiges, bald undurchsichtiges Glas gebraucht hat. Der feinste Pinsel eines Miniaturmalers hätte den Zirkel eines Augapfels sowohl als die scheinbaren schuppigen Federn an der Brust und den Flügeln (hinter deren Anfang dieses Stück abgebrochen war) nicht genauer und unverworrener ausdrücken können. Die größte Verwunderung aber erweckte dieses Stück, wenn man auf der umgekehrten Seite desselben eben diesen Vogel erblickte, ohne in dem geringsten Pünktchen einigen Unterschied wahrzunehmen, da man folglich schließen mußte, daß dieses Bild durch die ganze Dicke des Stücks, welche ungefähr ein Sechstel des Zolls beträgt, fortgesetzt 352 sei und da, wo man dasselbe auch durchschneiden würde, dieselbe Ente wiederholt finden könnte, welches die beobachteten durchsichtigen Stellen einiger schönen Farben an dem Auge und der Brust noch mehr bestätigten. Die Malerei erscheint auf beiden Seiten körnig, und aus einzelnen Stücken, nach Art musaischer Arbeiten, aber so genau zusammengesetzt, daß auch ein scharfes Vergrößerungsglas keine Fugen davon entdecken konnte. Dieser Umstand und das durch das ganze Stück fortgesetzte Gemälde machten es unendlich schwer, sich sogleich einen Begriff von der Bewerkstelligung einer solchen Arbeit zu machen, welches auch vielleicht noch lange Zeit ein Rätsel geblieben wäre, wenn man nicht da, wo dieses Stück abgebrochen ist, an dem Durchschnitte desselben, die ganze Dicke durchlaufende Striche von eben denselben Farben, als die, so auf der oberen Fläche erscheinen, entdeckt hätte und daraus schließen konnte, daß diese Malerei von verschieden gefärbten Glasfäden aneinander gesetzt und nachher im Feuer zusammengeschmolzen sei . . .

Das zweite Stück ist ungefähr von eben derselben Größe und [auf] eben diese Weise verfertigt. Es sind auf demselben Zieraten von grünen, weißen und gelben Farben auf blauem Grunde vorgestellt, die aus Schnirkeln, Perlenschnüren und Blümchen bestehen und auf pyramidalisch aneinanderlaufenden Zügen ruhen. Alles dieses ist sehr deutlich und unverworren, aber so unendlich klein, daß auch ein scharfes Auge Mühe hat, den feinsten Endungen, in welche sich sonderlich die Schnirkel verlieren, nachzufolgen, und dem ohnerachtet sind alle diese Zieraten ununterbrochen durch die ganze Dicke des Stücks fortgesetzt.

. . . Das höchste Werk der Glaskunst bei den Alten scheinen ihre Prachtgefäße gewesen zu sein, auf welchen flach erhobene, helle und öfters vielfarbige Figuren auf dunkelem Grunde, so wie bei echten aus Sardonyx von großen Künstlern geschnittenen Gefäßen, in hoher Vollkommenheit erscheinen. Von diesen Gefäßen ist vielleicht nur ein einziges ganz erhaltenes Stück in der Welt, welches sich in der irrig vorgegebenen Begräbnisurne [des] Kaisers Alexander Severus, mit der Asche der verstorbenen Person angefüllt, fand und unter den Seltenheiten des Barberinischen Palastes aufbewahrt, aber seit einigen Jahren nicht mehr gewiesen wird . . .

Wie unendlich prächtiger müssen nicht solche Geschirre von Kennern 353 des wahren Schönen geachtet werden, als alle so sehr beliebten Porzellangefäße, deren schöne Materie bisher noch durch keine echte Kunstarbeit edler gemacht worden, so daß auf so kostbaren und teuren Arbeiten noch kein würdiges und belehrendes Denkbild jemals eingeprägt worden. Das meiste Porzellan ist in lächerliche Puppen geformt, wodurch der daraus erwachsene kindische Geschmack sich allenthalben ausgebreitet hat, anstatt daß man die ewigen Kunstwerke der Alten, ihrer Dioskorides und ihrer Solons, zu vervielfältigen, und auch im Belustigen zu lehren suchen sollen. Die in Porzellan wiederholten Abbildungen so vollkommener Kunststücke würden nicht wenig beigetragen haben, das Gefühl des Schönen fortzupflanzen und den guten Geschmack zu erhöhen . . .

 


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