Ernst Wichert
Das Duell
Ernst Wichert

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Der Sommer war im Scheiden. Das Blattwerk des wilden Weins vor dem Pavillon färbte sich schon rot, und dem Gärtner wollte es nicht mehr gelingen, die Kieswege des Gartens von dem gelben Falllaub dauernd gesäubert zu halten. Der Kranke empfand jeden warmen Tag, den noch der Himmel schenkte, als ein Labsal; meist aber mußte er schon früh vor Abend ins Haus gebracht werden.

Sein Zustand hatte sich, seit Dürenholz täglich sich nach seinem Befinden zu erkundigen kam, ein wenig gebessert. Doch blieb er noch traurig genug. Die Krampfzufälle waren seltener eingetreten und rascher vorübergegangen; er konnte sich eine Weile aufrecht halten, wenn er sich auch nur mit der linken Hand auf den Krückstock stützte, und er ging am Arm des Freundes eine Anzahl Schritte, den Schmerz verbeißend. Wind und Regenwetter spürte er schon den Tag vorher in den Gliedern. Wenn er zu sonst nichts mehr tauglich sei, scherzte er, werde er sich vom Magistrat als Barometer anstellen lassen.

Dürenholz war sogleich nach seiner Ankunft in die Redaktion eingetreten. Es freute ihn, viel Beschäftigung zu finden, um möglichst wenig freie Zeit zu haben, die er in der Villa hätte verbringen müssen, und er schaffte sie sich, wenn sie bei seiner raschen Art zu arbeiten doch fehlte. In dem alten Schlendrian wollte er nicht fortredigieren. Es sollte täglich zweimal der Bogen nicht nur notdürftig mit allerhand Scheerenabschnitten aus anderen Zeitungen und den zufälligen Eingängen der abonnierten politischen und Feuilleton-Korrespondenzen gefüllt werden, sondern das Blatt seine besondere Physiognomie erhalten. Gegen das Geschäftsprinzip, Farblosigkeit zu bewahren, solange eine bestimmte Parteistellung Anstoß erregen könnte, oder chamäleonartig zu wechseln, um bald dem einen, bald dem anderen Teil des Leserkreises gefällig zu sein, kämpfte er, von Glauberg immer freundlich unterstützt, mit gutem Erfolg. In der Anordnung des Stoffes und in der Methode, die Übersicht zu erleichtern, folgte er seinen amerikanischen Lehrmeistern und gab damit dem Publikum etwas Neues, wofür es dankbar war. Die Leitartikel wurden anregender, und die redaktionellen Anmerkungen überall bewiesen, daß man die Polemik nicht scheute. Es kam schon vor, daß die großen Parteiblätter von solchen Äußerungen Notiz nahmen und sie mit Angabe der Quelle nachdruckten. Die Befürchtung Holms, daß man Abonnenten verlieren werde, ging nicht in Erfüllung; im Gegenteil erfolgten fortwährend Nachbestellungen. Es ließ sich hoffen, bei rüstigem Fortschreiten ein sehr beachtenswertes Organ der öffentlichen Meinung mindestens für die Provinz zu schaffen.

Mit dem Herrn Chefredakteur gestaltete sich der Verkehr, nachdem die anfänglichen Reibungen überwunden waren, ganz freundlich. Holm war träge und hatte gar nichts dagegen, daß Dürenholz den größten Teil seiner Arbeit mit übernahm. Nur durfte bei dem Personal und weiter bei den Freunden in der Stadt der Schein nicht getrübt werden, daß er der eigentliche Leiter sei. Dürenholz behandelte ihn, sobald er ihm erst den festen Willen gezeigt hatte, sich durch Empfindlichkeiten nicht beirren zu lassen, sehr rücksichtsvoll und that keinen entscheidenden Schritt, ohne vorher mit ihm konferiert zu haben. Es sah nun so aus, als ob seine Zustimmung gefordert würde. Glauberg hatte ihn richtig beurteilt: er war klug genug, die Überlegenheit seines Mitarbeiters einzusehen und es auf eine ernstliche Kraftprobe gar nicht ankommen zu lassen.

Doktor Haring suchte Dürenholz sich heranzuziehen. Er war recht brauchbar, wenn ihm die Richtung seiner Thätigkeit fest vorgezeichnet und zu große Pünktlichkeit von ihm nicht beansprucht wurde. Dürenholz hatte nach dem Artikel in der Duellfrage gehofft, in ihm einen Gesinnungs- und Streitgenossen von selbständiger Haltung anzutreffen. Das war ein Irrtum gewesen. Der junge Mann hatte, als er ihm seine Anerkennung dafür aussprach, geschmunzelt und gesagt: »Ja, sehen Sie, der Spektakel war wieder einmal groß wegen des dummen Vorfalls, und unser Philister forderte etwas zum Auftrumpfen. Da hab ich ihm das geschrieben. Prinzipiell bin ich ja natürlich auch gegen das Duell, aber für das praktische Handeln behalte ich mir die volle Freiheit der Entscheidung je nach Umständen vor. Ich schreibe gegen das Duell, um dazu beizutragen,, daß vernünftige Anschauungen die Herrschaft erlangen. Solange aber das Vorurteil noch nicht ausgerottet ist, wäre ich ein Narr, mich persönlich zu opfern und einen Schimpf auf mir sitzen zu lassen. Ich will keinem raten, mich schief anzusehen, solange das noch für eine Beleidigung gilt.« Es war anzunehmen, daß er sehr gut wußte, was Dürenholz erlebt hatte, und sich absichtlich so scharf aussprach, um gleich gegen ihn sehr bestimmt Stellung zu nehmen. Das konnte jedoch auf sich beruhen bleiben. Dürenholz ließ sich auf einen Redekampf mit ihm gar nicht ein und gab ihm auch später keine Gelegenheit, seine Bravour zu beweisen. Es war etwas in seiner Haltung, was Achtung abforderte, und der Doktor merkte zu gut, daß er von ihm viel lernen könnte, um sich nicht willig unterzuordnen.

So viele Stunden des Tages Dürenholz aber auch seinen amtlichen Geschäften widmete, er behielt immer zur Erfüllung seiner Freundespflicht mehr Zeit übrig, als ihm lieb sein durfte, wenn er Adelheid bedachte. Er war regelmäßiger Mittagstischgast. Das hatte Glauberg sich gleich anfangs so ausbedungen. Auch der fleißigste Arbeiter müsse zu Mittag essen, hatte er gemeint, und es werde Walther doch wohl besser bei ihm als im Gasthause schmecken. Er werde auch ein bequemes Sofa finden, die gewohnte Cigarre zu rauchen oder ein kurzes Schläfchen zu halten. Dagegen war gar nicht zu reden gewesen. Aber es verging auch selten ein Abend, an dem Dürenholz nicht zu einem Spiel Karten und einer Partie Schach fest eingeladen war, oder vom Diener manchmal noch spät abgeholt wurde, da der Herr »so großes Verlangen« nach ihm habe. Mitunter waren auch noch andere Gäste da, Holm mit seiner Frau und Leute ihrer eigenen Bekanntschaft, die sie eingeführt hatten, aber meist fand er da sonst niemand in der Villa als das Glaubergsche Ehepaar.

Namentlich bei Tisch hatte er Adelheid in nächster Nähe. Er saß ihr gegenüber und mußte ihr in die Augen sehen, wenn er von seinem Gedeck aufblickte. Sie beteiligte sich gern beim Gespräch, wenn es nicht gar zu politisch wurde, und er mußte dann das Wort so oft an sie als an Veit richten. Anfangs hatten ihr manchmal die Wangen geglüht und die Augenwimpern geflimmert, als ob sie zu hastig Wein getrunken hätte, während doch ihr Glas unberührt stand. Dann wurde ihm selbst heiß, und er glaubte den Schweiß aus allen Poren der Stirn perlen zu fühlen. Es war ein Zeichen, daß sie dieselben Gedanken hatten, weitab von dem Inhalt des Gesprächs, und beide doch genau dieselben Gedanken. Das geschah seltener und seltener, je besser sie sich in ihre sonderbare Lage hineingewöhnten, und je freier der Ton der Unterhaltung auch unter ihnen wurde. Es mußte nun schon zufällig die Rede auf irgend etwas kommen, wozu sich ein Anklang in ihrem gleichgestimmten seelischen Empfinden fand.

Einmal versah es Glauberg unwissentlich schwer. Er fragte, ob Walther nicht ans Heiraten denke. Der suchte abzulenken, indem er kurz daran erinnerte, daß er ja eine Braut gehabt habe, von der er sich trennen mußte. Er könne sie nicht vergessen. Aber Glauberg ließ nicht nach. »Ich wundere mich dann doch,« sagte er, »daß du dich ihr nicht wieder zu nähern versuchst. Ich glaube, du weißt nicht einmal, ob sie noch zu haben wäre. Der Alte mag ja ein sehr wunderlicher Kauz sein; die Jahre mildern aber oft so überstrenge Gesinnungen, und deine Lebensstellung ist ja auch jetzt eine total andere. Oder hast du deine Absicht ganz aufgegeben?« Adelheid war bleich wie das Tischtuch geworden und schnell aufgestanden, um sich der Beobachtung zu entziehen. Sie hatte sich einer Ohnmacht nahe gefühlt und sich im anderen Zimmer erst ausweinen müssen. Durch den Diener ließ sie hineinsagen, sie sei plötzlich von einem Unwohlsein befallen und bäte die Herren, auf sie nicht zu warten. Sie habe in der Nacht schlecht geschlafen, entschuldigte Glauberg, da sie ihm ein paarmal habe beistehen müssen. Es war ihm ganz begreiflich, daß der Freund sich beunruhigte, aber den Kaffee werde ihnen Adelheid wahrscheinlich schon wieder selbst besorgen können. Und so war's auch geschehen. Sie hatte große Macht über sich. Das verfängliche Gespräch war nicht wieder aufgenommen.

Wenn Dürenholz am Abend kam, war man an schönen Sommertagen gewöhnlich im Garten zusammen. Er fuhr den Kranken herum, und dann saß man im Pavillon bei der Lampe. Als die Witterung kühler wurde, mußte man früher ins Zimmer hinein oder gleich darin bleiben. Adelheid ließ die Freunde so viel miteinander allein, als ohne Auffälligkeit möglich schien. Es kam öfter vor, daß sie ausging, um ihre Schwägerin oder irgend eine bekannte Dame zu besuchen. Sie könne das jetzt wohl haben, bemerkte sie ihrem Manne, da sie ihn unter bester Aufsicht wisse. Das mußte er bestätigen. War sie aber zu Hause, so hatte er's nicht gern, wenn sie im anderen Zimmer arbeitete oder sich mit Lektüre beschäftigte. Sie könne sich ja mit ihrer Näherei oder dem Buch auch zu den Männern setzen, wenn sie schon nicht an einem Kartenspiel teilnehmen wolle. Es sehe sonst so aus, als ob ihr's nicht lieb sei, daß er Besuch habe, oder als fühle sie sich nicht zugehörig. Sein Freund solle wissen, daß er auch ihr willkommen sei.

Überhaupt konnte er das Verhältnis zwischen beiden sich gar nicht freundschaftlich genug gestalten sehen. Es war ihm Bedürfnis, gleichsam nachzuhelfen, den Ton darauf zu stimmen, daß die rechte Harmonie herauskäme. Sie gingen nach seinem Geschmack miteinander noch immer zu ernst, zu feierlich um. Als befänden sie sich in großer Gesellschaft! Als zögen sie die Handschuhe gar nicht aus! »Euch beide müßte man eigentlich darauf stoßen, Brüderschaft zu trinken,« sagte er einmal, als sie ihm wieder zu förmlich ihre Meinungen auszutauschen schienen. »Meines Freundes Freunde sind meine Freunde.«

»Hier trifft's wirklich zu,« antwortete Walther, »ich hoffe, das wird auch Frau Adelheid bestätigen; laß uns nur unsere Art haben, das Du brächte uns nicht näher zusammen.«

Wie er es meinte, konnte Glauberg freilich nicht verstehen. Ihm fehlte »zur vollen Gemütlichkeit« etwas – »eine ganze Kleinigkeit«. Die würde sich mit der Zeit noch dazufinden, tröstete er sich. »Drei solche Kerle wie wir –! Ha, ha, ha!«

Er hatte zum Freunde das unbedingte Vertrauen, daß er seiner Frau wegen ganz ruhig sein könne. Es kam ihm gar nicht einmal in den Sinn, da sei irgend eine Gefahr denkbar.

Jetzt an den längeren Abenden lasen sie viel zusammen. Walther las vor, meist Philosophisches, worüber man sich, im Bemühen, zum klaren Verständnis durchzudringen, tüchtig die Köpfe zerbrechen konnte, aber auch Abhandlungen populärwissenschaftlichen Inhalts, mitunter einen Akt Shakespeare »zur Belohnung«. Er las sehr gut und konnte mit dem Dichter leidenschaftlich werden. Wenn er so die Augen auf das Buch geheftet und sich in den Gegenstand ganz vertieft hatte, blickte Adelheid gern von ihrer Arbeit auf, um ihn anzuschauen. Vielleicht hörte sie dann doch nicht so gut zu, als Glauberg meinte.

Aber soviel sie auch zusammen waren, allein miteinander waren sie doch sehr selten und dann nur für die kürzeste Zeit; das machte sich so ganz von selbst. Glauberg war an seinen Stuhl gefesselt und fesselte dadurch auch den Gast an ihn. Mit einer gewissen Bewegungsfreiheit allerdings. Aber doch kaum über das Zimmer hinaus, in dem er sich gerade aufhielt. Er war immer zu Hause, und die Besuche galten ihm, konnten nur ihm gellen. Adelheid kam nur dazu. Sie begrüßte den Freund in ihres Mannes Gegenwart, und so verabschiedete er sich auch von ihr. Wenn Glauberg im Garten war, konnte es wohl geschehen, daß Dürenholz in einem der Zimmer, durch die der Weg nach dem Balkon führte, ihr begegnete. Aber der Kranke hatte ein so feines Ohr, daß er, besonders wenn er es darauf spitzte, im Pavillon die Hausglocke anschlagen hörte und genau berechnen konnte, wie lange Zeit der Ankömmling bis zu ihm brauchte. Diese Begegnungen ließen sich auch fast immer vermeiden. Und überhaupt – es hatte sich ja wohl allenfalls so einrichten lassen, daß man ein schnelles Wort unter vier Augen sprechen konnte; aber es ließ sich noch viel leichter so einrichten, daß man die seltenen Gelegenheiten dazu vermied. Es war durchaus nichts Auffälliges dabei.

Walther gab sich auch die redlichste Mühe, diesen aus den Umständen selbst folgenden Zwang wohlthätig und erfreulich zu finden. Wie sehr erleichterte es ihm die schwere Aufgabe, die Adelheid ihm gestellt hatte! Er konnte ihretwegen ganz ruhig sein, und sie fühlte sich augenscheinlich auch sehr sicher. Seine anfänglichen Bedenken, ob ihr Rat gut gewesen sei, verflüchtigten sich mehr und mehr. Wie sie ihn gegeben hatte und selbst befolgte, bezog sich ja die Heimlichkeit zwischen ihnen einzig und allein auf eine fernliegende Thatsache, die Glauberg wirklich nicht zu wissen brauchte. Zwar war er noch immer der Meinung, es wäre besser gewesen, wenn gleich das erste zufällige Begegnen zu einer Aussprache geführt hätte, was auch weiter daraus gefolgt wäre, und es gab sogar Augenblicke, in denen er nicht zweifelte, der Freund würde besonders edel gehandelt und Adelheid freigegeben haben. Das war aber nun gleichgültig. Hic Rhodus, hic salta!

Wäre Adelheid nur nicht so schön gewesen und sein Blut nicht so heiß! Was er auch dagegen that, er behielt das unbehagliche Gefühl, dazu verdammt zu sein, eine Komödie zu spielen. Er spielte sie für Glauberg gut genug, vielleicht auch für Adelheid. Aber für sich selbst...? Und das war eben das Widerwärtige, daß er sie auch für sich selbst spielen sollte – so natürlich, als wär's keine. Erst wenn ihm das gelang, durfte er mit sich zufrieden sein. Und wenn es ihm wirklich gelang – ? Ja, dann war auch seine Liebe ausgelöscht. Konnte Adelheid das wollen? Und empfand sie anders als er? Oder hatte sie kühleres Blut? War sie – eine bessere Komödiantin? Das fing ihn an zu beängstigen. Nachdem diese Windstille nun Monate angedauert hatte, fühlte er die Sehnsucht nach einem erquickenden Luftzuge. Es war ihm, als ob er ersticken müßte, wenn er die Brust noch länger einschnürte. Nur von Zeit zu Zeit einmal frei atmen –!

Die Anspannung der Kräfte ließ nach. Er wollte nicht mehr jeden Augenblick gegen sich auf der Hut sein, nicht jede menschliche Regung gewaltsam niederdrücken. Wenn er Adelheid ansah, warum sollte er vergessen müssen, daß ein Blick aus diesen schönen und tiefen Augen ihn beseligt hatte? Wenn er beim Kommen oder Gehen ihre Hand drückte, warum sollte das nur der übliche Gruß unter guten Freunden sein müssen? Wenn er zu ihr sprach, warum brauchte er Wortfügungen zu vermeiden, die ihr ein besonderes Verständnis haben konnten, ihr und keinem anderen? Was sollte sie von ihm denken, wenn er sich äußerlich so geduldig fügte und ihr nicht einmal heimlich zu verstehen gab, daß das alte Feuer noch fortbrannte! Und auf irgend ein Zeichen ihrer fortdauernden Neigung hatte er doch wohl nach langer Entbehrung gerechten Anspruch!

Nachdem das so eine Weile durchgeträumt war, schwand mehr und mehr die Zaghaftigkeit, es in lebendige Einwirkung umzusetzen. Es giebt ein seelisches Anblicken, bei dem Gedanken und Empfindungen ohne Worte übertragen werden; es läßt sich »in den Augen lesen«, in die Augen »das Herz legen«; zwei können einander durch die »Augensprache« verstehen. Walther brachte einmal die Rede darauf, als von Hypnose und Spiritismus gesprochen wurde; Adelheid war aufmerksam gemacht und schien zu erschrecken, als ihr so ein Blick das Geständnis übermittelte: Ich liebe dich mit allen Gluten meines armen gepeinigten Herzens. Und der nächste wieder bat so wehmütig: Erschrick nicht, Liebste, sondern antworte mir! Ich kann nicht leben, wenn du schweigst.

Sie errötete und sah fort. Sie wollte zürnen und konnte doch nicht. Sie antwortete mit einem Blick der Abwehr und fühlte doch das Herz wonnig schlagen. Den ganzen Abend konnte sie den früheren Gleichmut nicht wiedergewinnen.

Seitdem machte er kaum noch den Versuch, sich zu bezwingen. Seine Augen klagten, baten, beteuerten, jubelten. Ihre Sprache wäre vielleicht auch Glauberg verständlich gewesen, wenn er den Freund beargwöhnt hätte; denn dieser trieb anfänglich durchaus kein Versteckspiel, sondern folgte dem leidenschaftlichen Aufwallen des Blutes. Erst als er merkte, daß Adelheid beunruhigt wurde, die Farbe wechselte, die Lippe einzog und ihm Winke gab, die ihn daran erinnern sollten, daß sie einen Zuschauer hätten, kam ihm die Befürchtung, Glauberg könnte ihr Verhalten auffallend finden. Er benahm sich nun vorsichtiger und schob die Lampe so, daß sie zwischen den beiden stand oder jedenfalls ihr Gesicht für ihn in den Lichtschein brachte, der blendend wirkte.

Er versäumte jetzt nicht leicht, auch einige lyrische Gedichte vorzulesen. Es sei interessant, meinte er, dem Entwickelungsgang der sogenannten Liebespoesie nachzuforschen und aus dem Mischungsverhältnis ihrer seelischen und sinnlichen Momente Schlüsse auf den jeweiligen Kulturzustand zu ziehen. Ein Überwuchern der einen wie der anderen Richtung beweise krankhafte Sentimentalität oder Verrohung des Geschmacks und der Sitten in den oberen Schichten der Gesellschaft. Dabei sei es wunderbar, daß man gleich zu Anfang in dem jungen Goethe doch die gesundeste Natur antreffe und in deren Offenbarungen eigentlich schon die richtige Mitte ausgemessen finde, so daß man nach allerhand Abirrungen doch immer auf ihn zurück müsse. Er holte den Band aus der Bibliothek und las mit so viel Innigkeit als Feuer. Es wurde dann nach und nach Verwandtes und Abstrebendes bei den Nachfolgern aufgesucht und auch manche Sammlung der Neuesten durchmustert, die unter den der Redaktion eingesendeten Rezensionsexemplaren anzutreffen war. Immer nur wenige Gedichte wurden an jedem Abend gelesen. Solche Süßigkeit lasse sich nur in kleinsten Portionen und gleichsam als Naschwerk nach dem eigentlichen Mahl vertragen. Walther hatte die Auswahl zu besorgen, und er wählte – erst unabsichtlich nach den Weisungen des Gefühls, dann mit Vorbedacht – meist so, daß er selbst der Geliebten etwas zu sagen schien, die ihm gegenüber saß, nur ihr verständlich.

Beim Abschied litt er jetzt nicht, daß Adelheid die Hand rasch wieder zurückzog. Wenigstens so lange hielt er sie, bis er sie noch ein zweites und drittes Mal gedrückt hatte, und öfter vergaß er, sie loszulassen, wenn er noch zuletzt irgend einen Gegenstand von Wichtigkeit zur Erörterung gebracht und seine Meinung auszuführen hatte. Er durfte sich auch erlauben, sie zu küssen, und seine Lippen brannten dann heiß darauf.

Er meinte, noch immer sein gegebenes Versprechen zu halten, nur nicht so pedantisch als anfänglich. Wozu das auch? Er wußte ja, wie weit er gehen konnte!

Einmal legte er heimlich ein ganz kleines Billet in ihre Hand. Adelheid zuckte und wollte es zurückschieben. Aber er sah sie bittend an und öffnete seine Hand, so daß es zu Boden hätte fallen müssen, wenn sie es nicht annahm. Sie seufzte leise aus tiefster Brust, als hätte sie eine schmerzliche Empfindung, und am nächsten Morgen erhielt er das Billet uneröffnet, in ein Couvert mit seiner Adresse gelegt, durch die Post zugeschickt. Das machte ihn eine Weile sehr schwermütig, so daß Glauberg ihn fragte, ob ihm etwas Verdrießliches begegnet sei. Er fühle sich nicht ganz wohl, antwortete er. Und dann blieb er einige Tage ganz aus, bis der alte Diener zu häufig kam, sich nach seinem Befinden zu erkundigen und ihm zu bestellen, wie sehr sein Herr ihn vermisse. Glauberg fand ihn »recht jämmerlich« aussehend. Wahrscheinlich strenge er sich mit den Redaktionsgeschäften zu sehr an und packe sich Arbeiten auf, die auch ein anderer verrichten könne. Adelheid war bemüht, sich ganz unverändert freundlich zu zeigen, um ihm zu beweisen, daß sie nicht zürne, nur wünsche, das frühere, ruhige Verhältnis wiederhergestellt zu sehen. Ganz unbefangen war sie dabei doch nicht, und mitunter begegnete ihm ein Blick, der sagen wollte: Quäle dich und mich doch nicht! Es kann ja nicht anders sein. Aber wir wissen, was wir einander bleiben.

Und dann wagte er doch wieder und gewann diesmal. Er schrieb ihr: »Ich will nichts, als dir von Zeit zu Zeit, wenn mir das Herz zu schwer wird, sagen können, daß ich dich liebe mit der ganzen Kraft meiner Seele. Du weißt es, aber es ist mir immer, als müßtest du es vergessen, wenn ich so gleichmäßig neben dir hinlebe, als hätte ich in der Entsagung Frieden gefunden. In mir toben aber die Wetter und wollen meines Zurufes nicht achten. Du nur kannst sie beschwichtigen durch ein Wort der Liebe. Ich bin dann wieder geduldig.«

Er erhielt keine Zeile Antwort. Aber am zweitfolgenden Tage nach Tisch wußte sie es so einzuleiten, daß sie eine Minute allein blieben.

»Was thun Sie, Walther?« zischelte sie ihm voll Angst zu, »Sie verlieren alle Gewalt über sich.«

»Ja, ja,« erwiderte er keuchend, »ich habe versprochen, was ich nicht halten kann.«

»So ist es besser, Sie trennen sich von dem Freunde, als daß Sie ihn – betrügen.«

»Adelheid!«

»Es ist die Wahrheit.«

Sie ging ihm voran in das Zimmer, in welches Glauberg vom Diener gefahren war, und hinderte so jede weitere Äußerung.


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