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XLI.

Amherst war, nachdem einmal Cicelys Gesundung zugesichert worden war, pflichtgetreu nach Hanaford zurückgekehrt; doch als er etwa zehn Tage später von Mrs. Ansell hörte, dass der Fortschritt des kleinen Mädchens weniger schnell erfolgte, als man gehofft hatte, kehrte er für einen Sonntag zurück zu seinem Schwiegervater.

Er kam zwei Tage nach dem im letzten Kapitel berichteten Gespräch – einem Gespräch, dessen unmittelbares Ergebnis Mrs. Ansells Brief an ihn war. Sie hatte Mr. Langhope versprochen, dass sie in ihrem Schreiben an Amherst über die kürzeste Darlegung der Fakten nicht hinaus gehen werde; und sie hatte Wort gehalten, da sie darauf vertraute, dass die Umstände für sich selbst sprachen.

Mrs. Ansell hatte während Cicelys Krankheit die Gewohnheit angenommen, bei Mr. Langhope zur Teestunde hereinzuschauen, anstatt ihn in ihrem eigenen Salon zu erwarten; und am fraglichen Sonntag fand sie ihn allein vor. Neben seiner Freude sie zu sehen, die merklicher gewachsen war, als seine Abhängigkeit von ihr zunahm, unterschied sie Spuren kürzlicher Beunruhigung; und ihre erste Frage betraf Cicely.

Er quittierte sie mit entmutigter Geste. »Keine bedeutende Veränderung – Amherst findet, dass es ihr weniger gut geht als beim letzten Mal, wo er hier war.«

»Ist er oben bei ihr?«

»Ja – sie scheint ihn zu brauchen.«

Mrs. Ansell setzte sich schweigend ans Teebrett, über das sie nun das offizielle Priesteramt innehatte. Während sie ihre langen Handschuhe auszog und mechanisch die Reihe kostbarer alter Tassen zurecht rückte, fügte Mr. Langhope angestrengt hinzu: »Ich habe mit ihm gesprochen – ihm mitgeteilt, was du gesagt hast.«

Sie schaute rasch auf.

»Über den Wunsch des Kindes,« fuhr er fort. »Dass sie an seine Frau geschrieben hat. Ihre letzten Brief sind anscheinend nicht beantwortet worden.«

Er wartete, und Mrs. Ansell setzte mit ihrer gewöhnlichen ruhigen Genauigkeit das Abmessen des Tees in die geriffelte georgianische Teekanne fort. Sie konnte ebenso wortkarg im Beifall wie im Tadel sein, und um nichts in der Welt hätte sie den Anschein erwecken mögen, sie beanspruche einen Anteil an der Wendung, die die Geschehnisse zu nehmen schienen. Sie ging sogar lieber das Wagnis ein und überließ es ihrem alten Freund, halb vorwurfsvoll zu sagen: »Ich habe Amherst mitgeteilt, was du und das Kindermädchen dachten.«

»Ja?«

»Dass Cicely sich nach seiner Frau sehnt. Ich hab' es ihm sozusagen schwarz auf weiß gegeben.« Die Worte kamen mit einem tiefen Atemzug heraus, und Mrs. Ansell sagte zögernd: »Und?«

»Und – er weiß selbst nicht, wo sie ist.«

» Weiß es nicht?«

»Sie sind getrennt – absolut getrennt. Es ist, wie ich's dir gesagt habe: er konnte kaum ihren Namen aussprechen.«

Mrs. Ansell hatte unbewusst ihre Dienste eingestellt, ließ ihre Hände auf ihre Knie sinken, während sie, erstaunt über den Gesichtsausdruck ihres Freundes, nachsann.

»Ich frage mich, welchen Grund sie ihm genannt haben könnte?« murmelte sie schließlich.

»Weg zu gehen? Er verabscheut sie, ich sag's dir!«

»Ja – aber wie hat sie ihn dahin gebracht?«

Er schlug mit seiner Hand heftig auf seine Armlehne. »Auf meine Seele, du scheinst zu vergessen …!«

»Nein.« Sie schüttelte halb lächelnd ihren Kopf. »Ich erinnere mich einfach an mehr als du.«

»An was?« begann er zorngerötet; aber sie erhob beruhigend die Hand.

»Welche Rolle spielt das – wenn wir sie nun, wo wir sie brauchen, nicht her bekommen?«

Er gab keine Antwort, und sie wandte sich wieder dem Eingießen seines Tees zu; aber als sie aufstand, um ihm die Tasse in die Hand zu geben, fragte er fast nörgelnd: »Du denkst also, es wird für das Kind sehr schlimm sein, oder?«

Mrs. Ansell lächelte mit dem dünnen Rand ihrer Lippen. »Man kann kaum die Polizei auf sie ansetzen – – !«

»Nein; wir sind machtlos,« stöhnte er zustimmend.

Als er die Tasse von ihr empfing, senkte sie rasch den Blick mit fragendem Aufblitzen zu seinen Augen; aber er saß da und starrte übellaunig vor sich hin, und sie ging wortlos zum Sofa zurück.


Auf dem Weg nach unten traf sie Amherst, der von Cicelys Zimmer herunter kam.

Seit den frühen Tagen seiner ersten Ehe hatte es auf Amhersts Seite stets ein Gefühl unbestimmter Feindseligkeit gegenüber Mrs. Ansell gegeben. Sie verkörperte nahezu den Geist jener Welt, die er fürchtete und ablehnte; ihre Heiterkeit, ihre Duldsamkeit, ihre Anpassungsfähigkeit schienen den ganzen hohen Enthusiasmus und all die unbeugsamen Überzeugungen, die er in den Treibsand seines Ehelebens zu pflanzen versucht hatte, einfach weg zu lächeln und zu zersetzen. Und nachdem sie durch Bessys Tod wieder in den Besitz jener Attribute gekommen war, mit denen seine Vorstellung sie ursprünglich ausgestattet hatte, war er dazu übergegangen, Mrs. Ansell als Verkörperung der üblen Einflüsse zu betrachten, die zwischen ihn und seine Frau geraten waren.

Mrs. Ansell war sich wahrscheinlich der aufeinanderfolgenden Übergänge des Empfindens bewusst, die zu diesem wenig schmeichelhaften Blick geführt hatten; doch ihr Leben war unter belanglosen Rivalitäten und Animositäten vergangen, und sie besaß die Geduld und Gewandtheit eines Spions im feindlichen Lager.

Sie und Amherst wechselten einige Worte über Cicely; dann rief sie, mit einem Blick durch die Scheiben der Eingangstür: »Aber ich muss los – ich bin zu Fuß, und die Kreuzungen erschrecken mich bei Dunkelheit.«

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr anzubieten, sie durch die Gefahren der Fifth Avenue zu geleiten; und weiter von Cicely sprechend, führte sie ihn die dichtgedrängte Durchfahrtsstraße hinunter, bis ihre eigene Ecke erreicht war, und dann ihre Tür; da wandte sie sich ihm zu und fragte ihn wie in einem Nebensatz: »Wollen Sie nicht mit hoch kommen? Es gibt noch etwas, das ich Ihnen sagen muss.«

Ein Schatten der Abneigung flog über sein Gesicht, das im ausfallenden Licht der Diele hart und erschöpft wirkte, wie ein Gesicht, das sich unbeirrt einem Wintersturm aussetzt; er murmelte jedoch ein Wort der Zustimmung und folgte ihr in den glänzenden Stahlkäfig des Lifts.

In ihrem kleinen Salon schob sie zwischen den beschirmten Lampen und Schalen mit Frühlingsblumen einen Sessel vor, ließ sich selbst in ihrer gewöhnlichen Sofaecke nieder und sagte mit einer Direktheit, die ein Echo seines eigenen Tons zu sein schien: »Ich bat Sie, mit hinauf zu kommen, weil ich mit Ihnen über Mr. Langhope sprechen will.«

Amherst schaute sie überrascht an. Obwohl die Gesundheit seines Schwiegervaters im letzten Jahr eher unbefriedigend gewesen war, hatte zuletzt ihre ganze Anteilnahme Cicely gehört.

»Sie denken, es geht ihm nicht so gut?« fragte er.

Sie wartete, bis sie ihre Handschuhe abgezogen und glatt gestrichen hatte mit einer jener bedächtigen Gebärden, die zur Schattierung und Ergänzung ihres Sprechens dienten.

»Ich halte ihn für äußerst unglücklich.«

Amherst bewegte sich unbehaglich auf seinem Platz. Er wusste nicht, wohin sie ihr Gespräch zu lenken beabsichtigte, aber er vermutete, dass es über schmerzliche Orte führen würde, und er sah keinen Grund, warum er sich zwingen lassen sollte, ihr zu folgen.

»Sie meinen, dass er immer noch Angst um Cicely hat?«

»Zum Teil – ja.« Sie hielt inne. »Dem Kind wird es besser gehen, ohne Zweifel; aber sie ist sehr einsam. Sie braucht Jugendlichkeit, Hitze, Licht. Mr. Langhope kann ihr das nicht geben, nicht einmal einen Anschein davon; es ist eine Kunst, deren Geheimnis mir verloren gegangen ist,« fügte sie mit ihrem undurchsichtigen Lächeln hinzu.

Amhersts Brauen bewölkten sich. »Ich weiß um alles, was sie verloren hat – –«

Mrs. Ansell schaute rasch zu ihm auf. »Sie ist zum zweiten Mal mutterlos,« sagte sie.

Das Blut stieg ihm in den Nacken und in die Schläfen, und er klammerte seine Hand fest um die Armlehne seines Sessels. Es gehörte jedoch zu Mrs. Ansells Gewandtheit zu wissen, wann man die Gefahrensignale beachten und wann man sie ignorieren musste, und sie fuhr ruhig fort: »Es ist die Frage nach der Zukunft, die Mr. Langhope Kummer macht. Nach solch einer Krankheit sollte Cicelys Leben in den nächsten Monaten in reinem Glück verlaufen. Aber mit Geld ist die Art Glück, die sie braucht, nicht zu erwerben: man kann für so ein Kind nicht einfach den richtigen Gefährten herauspicken wie man eine Schleife anpasst. Was sie benötigt, ist spontane Zuneigung, und nicht das besonders hervorragend gearbeitete Produkt von der Stange. Sie braucht die Art Liebe, die Justine ihr gab.«

Es war das erste Mal seit Monaten, dass Amherst den Namen seiner Frau außerhalb seines eigenen Hauses ausgesprochen hörte. Nur seine Mutter hatte Justine ihm gegenüber noch erwähnt; und zuletzt hatte sogar sie ihre Fragen und Andeutungen unterlassen und sich klüglich in die Gepflogenheit des Schweigens ergeben, die seine eigene Stummheit um ihn geschaffen hatte. Ihren Namen wieder zu hören – die zwei kleinen Silben, die für ihn der Schlüssel zum Leben gewesen waren und ihn nun erschütterten, wie die Betätigung eines verrosteten Schlosses eine lange geschlossene Tür erschüttert – ihren Namen vertraut ausgesprochen zu hören, liebevoll sogar, so wie man von jemandem spricht, der im nächsten Moment den Raum betritt – dies versetzte ihm einen Schock, der halb Schmerz und halb verstohlene, uneingestandene Freude war. Menschen, deren bewusste Gedanken sich zumeist nach außen richten, auf die Welt äußerer Tätigkeiten, mögen stärker von einer solchen Berührung ihrer Gefühle betroffen sein als diejenigen, die unverwandt ihre emotionalen Saiten prüfen und stimmen. Amherst hatte von Anfang an vorhergesehen, dass Mrs. Ansell vielleicht von seiner Frau sprechen würde; aber obwohl er sich vorgenommen hatte, falls sie dies täte, ihr sofort ins Wort zu fallen, fühlte er sich nun unwiderstehlich bemüßigt, sie bis zu Ende anzuhören.

Mrs. Ansell hatte ihren Pfeil abgeschossen, folgte seinem Flug durch gesenkte Lider und sah, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte; aber sie war weit entfernt davon zu glauben, das Spiel sei schon gewonnen.

»Ich gehe davon aus,« fuhr sie fort, »dass Mr. Langhope zu Ihnen schon etwas darüber gesagt hat, und meine einzige Entschuldigung, darüber zu sprechen, besteht darin, dass ich den Eindruck habe, er sei mit seiner Bitte ohne Erfolg geblieben.«

Niemand außer Mrs. Ansell – und das wusste sie vielleicht – hätte die Grenzen konventioneller Diskretion so weit hinausschieben können, ohne sie um Haaresbreite zu übertreten; sie hatte oft gesagt, wenn man sie dringend um das Geheimnis ihrer Kunstfertigkeit bat, dass sie einfach im Besitz des Kennworts bestehe. War dieses Wort einmal ausgesprochen, hätte sie hinzufügen können, so durfte das nächste Geheimnis dem Feind keine Zeit zum Widerstand lassen; und obwohl sie zwischen Amhersts Augen das Runzeln wieder auftreten sah, fuhr sie, ohne es zu beachten, fort: »Ich flehe Sie an, Mr. Amherst, erlauben Sie, dass Cicely ihre Frau sieht.«

Er wurde erneut rot und schob seinen Sessel zurück, als wolle er aufstehen.

»Nein – laufen Sie nicht einfach so weg! Lassen Sie mich noch etwas sagen. Ich kenne Ihre Antwort gegenüber Mr. Langhope – dass Sie und Justine nicht mehr zusammen sind. Aber ich hielt Sie für einen Mann, der seine persönlichen Beziehungen in einem solchen Augenblick zurückstellen würde.«

»Sie zurückstellen?« wiederholte er vage; und sie fuhr fort:

»Welchen Unterschied macht es eigentlich?«

»Welchen Unterschied?« Er erstarrte in absoluter Verwunderung und antwortete dann mit einem Hauch von Ironie: »Es könnte wenigstens den Unterschied machen, dass ich nicht willens bin, sie um einen Gefallen zu bitten.«

Mrs. Ansell hob hierbei ihre Augen und ließ sie voll auf ihm ruhen. »Weil sie Ihnen bereits einen so großen getan hat?«

Er erstarrte erneut und sank automatisch in seinen Sessel zurück. »Ich verstehe Sie nicht.«

»Nein.« Sie lächelte ein wenig, als wolle sie ihm Zeit geben. »Aber ich glaube, Sie sollten es. Wenn ich ein Mann wäre, könnte ich es wohl nicht, weil die männliche Ehre so ein unbeholfenes, gusseisernes Ding ist. Aber die einer Frau ist glücklicher Weise – wenn sie gescheit ist – in der Lage, sich an jede neue Lage anzupassen; und in diesem Fall wäre ich gewillt, meine zu Lumpen zu zerfetzen, wenn es nötig wäre.«

Amhersts Fassungslosigkeit vertiefte sich. »Was ist es, das ich hier nicht verstehe?« fragte er schließlich leise.

»Nun – zuallererst, weshalb Mr. Langhope das Recht hat, Sie zu bitten, Ihre Frau herbei zu rufen.«

»Das Recht?«

»Sie anerkennen nicht ein solches Recht auf seiner Seite?«

»Nein – warum sollte ich?«

»Angenommen, sie hätte Sie auf seinen Wunsch verlassen?«

»Auf seinen Wunsch? Seinen – – ?«

Er stand nun und starrte sie blind an, während die massive Welt um ihn herum sich zu verdünnen schien. Ihre nächsten Worte reduzierten sie auf bloßen Nebel.

»Mein armer Amherst – warum sonst, in Herrgotts Namen, sollte sie Sie wohl sonst verlassen haben?«

Sie brachte es klar in ihrem leisen, klangvollen Ton heraus; und als die Laute ihren Weg zu ihm antraten, schienen sie Schwung zu sammeln, bis ihre Worte durch sein Gehirn schallten, als hätte jeder unbegreifliche Vorfall in der Vergangenheit plötzlich diese Frage heraus gedröhnt. Tatsächlich: warum sollte sie ihn sonst verlassen haben. Er stand eine Weile bewegungslos da; dann näherte er sich Mrs. Ansell und sagte: »Erzählen Sie.«

Sie zog sich weiter in ihre Sofaecke zurück, winkte ihn zu einem Platz neben ihr, als wolle sie seine inquisitorischen Augen auf einer Höhe haben, wo ihre eigenen ihnen befehlen konnten; aber er blieb stehen, wo er war, ohne ihre Geste wahrgenommen zu haben, und wiederholte lediglich: »Erzählen Sie.«

Sie mochte sich gesagt haben, dass eine Frau keiner weiteren Mitteilungen bedurfte; ihm freilich antwortete sie bloß, ihren Kopf zu seinem empor neigend: »Um Ihnen und ihm selbst Schmerz zu ersparen – um alles zwischen ihm und Ihnen so zu bewahren, wie es vor Ihrer Heirat gewesen war.«

Er sank dabei neben ihr nieder und griff rückwärts nach der Sofalehne, als brauche er etwas zum Umklammern, zum Erdrosseln. Die Adern an seiner Schläfe schwollen, und als er sein in Unordnung geratenes Haar zurückschob, bemerkte Mrs. Ansell zum ersten Mal, wie grau es auf der Unterseite geworden war.

»Und er verlangte dies von meiner Frau – und sie akzeptierte es?«

»Haben Sie es nicht akzeptiert?«

»Ich? Wie sollte ich ihre Gründe erraten – wie sollte ich mir vorstellen – – ?«

Mrs. Ansell hob ihre Brauen hierbei um Haaresbreite. »Ich weiß nicht. Aber eigentlich verlangte er es nicht – sie war es, die es anbot, die es ihm geradezu aufnötigte!«

»Ihm ihr Fortgehen aufnötigte?«

»In gewissem Sinne, ja; indem sie den Anschein erweckte, dass Sie so wie er empfänden – über den Tod der armen Bessy: dass der Gedanke an das, was geschehen war, zu dieser Zeit für Sie ebenso abstoßend sei wie für ihn – dass sie selbst für Sie abstoßend sei. Ohne Zweifel sah sie vorher, dass es, wenn sie den geringsten Zweifel an diesem Punkt gelassen hätte, keine Notwendigkeit gab, Sie zu verlassen, da die Beziehung zwischen Ihnen und Mr. Langhope verändert – zerstört worden wäre …«

»Ja. Das habe ich erwartet – ich habe sie davor gewarnt. Aber wie hat sie ihn dazu gebracht zu glauben – – ?«

»Woher soll ich das wissen? Zunächst einmal: ich kenne Ihr wirkliches Empfinden nicht. Denn soweit ich weiß, hat sie die Wahrheit gesagt – und Mr. Langhope denkt natürlich, dass sie es tat.«

»Das ich sie verabscheute? Oh – –« brach es aus ihm heraus, während er im Nu aufstand.

»Warum dann – – ?«

»Warum ich sie gehen ließ?« Er schritt durch den Raum, wie es seine Gewohnheit war in Augenblicken der Aufregung, und drehte sich wieder zu ihr um, bevor er antwortete. »Weil ich es nicht wusste – gar nichts wusste! Und weil ihr Beharren darauf, so ohne weiteres fortzugehen, ohne irgend eine Erklärung, mir das Gefühl gab … ich stellte mir vor, dass es … etwas gäbe, von dem sie nicht wollte, dass ich es wisse … etwas, das sie Angst hatte, nicht vor mir verbergen zu können, wenn wir weiter zusammen blieben.«

»Genau – das war es: das Ausmaß, bis zu dem sie Sie liebte.«

Mrs. Ansells Blick hielt mit auf den Knien verschlungenen Händen seine Augen in einer Art visionärer Fixierung und schien dabei die Geschichte seiner Vergangenheit Stück für Stück mit Hilfe der Worte, die sie aus ihm herausholte, zu rekonstruieren.

»Ich begreife es – ich verstehe jetzt alles,« fuhr sie fort mit einer unterdrückten Leidenschaft, die er nie in ihr vermutet hätte. »Es war für sie die einzige Lösung, ebenso wie für das, was von Ihnen beiden noch übrig war. Je mehr sie ihre Liebe zeigte, um so mehr hätte es Zweifel auf ihre Motive geworfen … und die Distanz zwischen ihr und Ihnen vergrößert. Und so zeigte sie ihre Liebe auf die einzige Art, die für Sie beide sicher war, indem sie sich selbst aus dem Weg räumte und ihre Liebe in ihrem Herzen verbarg; und bevor sie ging, sicherte sie Ihren Seelenfrieden, Ihre Zukunft. Wenn sie etwas ruiniert hat, dann hat sie die Ruinen wieder aufgebaut. Oh, sie hat bezahlt – sie hat vollständig bezahlt!«

Justine hatte bezahlt, ja – bezahlt bis zur äußersten Grenze jener wie auch immer gearteten Schuld, die sie sich der Gesellschaft gegenüber durch Übertreten von deren Gesetzen zugezogen hatte. Und ihr Entschluss, sich von dieser Schuld zu entlasten, war blitzartig gefasst worden, sobald sie erkannt hatte, dass der Mensch keine Tat allein verüben kann, weder im Guten noch im Bösen. Das Ausmaß, bis zu dem Amhersts Schicksal mit ihrem eigenen verwoben war, musste ihr bei seinem ersten Wort der Versicherung, ihrem Motiv Glauben zu schenken, klar geworden sein. Als er sich nun zwang, die plötzlich erhellte Vergangenheit anzuschauen bis hin zu jenen Wochen, die seit ihrem Besuch bei Mr. Langhope und ihrer Abreise von Hanaford vergangen waren, wunderte er sich nicht so sehr über ihren raschen Entschluss, sondern vielmehr über ihre Festigkeit bei der Ausführung ihres Plans – und mit einem grellen Blitz der Einsicht begriff er, das es ihre Liebe zu ihm gewesen war, aus der sie diese Stärke bezogen hatte.

In Momenten starker seelischer Anspannung verlor er jedesmal stets völlig das Bewusstsein von Ort und Zeit, und jetzt verharrte er so lange schweigend, während seine Hände sich hinter seinem Rücken verschlangen und seine Augen auf einen unbestimmten Punkt im Raum geheftet waren, dass Mrs. Ansell sich am Ende erhob und in fragender Berührung ihre Hand auf seinen Arm legte.

»Es ist doch nicht wahr, dass Sie nicht wissen, wo sie ist?«

Sein Gesicht zog sich zusammen. »Zur Zeit nicht. Sie hat es zuletzt vorgezogen … nicht zu schreiben …«

»Aber bestimmt werden Sie wissen, wie Sie sie finden können?«

Er schleuderte sein Haar mit einer energischen Bewegung zurück. »Ich würde sie finden, auch wenn ich nicht wüsste wie!«

Sie standen einander gegenüber mit einem Blick stummer Intensität, bei dem jeder in die Seele des anderen tiefer eindrang, als es ihnen einst möglich erschienen wäre; dann streckte Amherst unversehens seine Hand aus. »Leben Sie wohl – und Danke,« sagte er.

Sie hielt ihn einen Augenblick zurück. »Werden wir Sie bald wiedersehen – Sie beide?«

Sein Gesicht wurde ernst. »Es ist nicht, um Mr. Langhope einen Gefallen zu tun, dass ich meine Frau finden werde.«

»Ach, nun sind Sie ungerecht ihm gegenüber!« rief sie aus.

»Wir wollen nicht von ihm sprechen!« unterbrach er sie.

»Warum nicht? Wenn er es doch ist, von dem die Anfrage kommt – die flehentliche Bitte – dass alles Vergangene vergessen sein soll?«

»Ja – wenn es seiner Bequemlichkeit passt!«

»Können Sie sich nicht vorstellen, dass es ihn – sogar wenn Sie ihn so beurteilen – einen Kampf gekostet hat?«

»Ich kann nur daran denken, welchen es sie gekostet hat!«

Mrs. Ansell holte tief seufzend Luft. »Ach – aber sehen Sie nicht, dass sie ihren Standpunkt durchgesetzt hat, und dass ihr alles andere egal ist?«

»Ihren Standpunkt durchgesetzt? Nicht, wenn Sie damit sagen wollen, dass hier einfach alles wieder zum alten Zustand zurückkehren kann – dass sie und ich nach dem hier in Westmore bleiben!«

Mrs. Ansell ließ für eine Weile ihre Augen sinken; dann hob sie ihr liebliches undurchdringliches Gesicht zu seinen.

»Wissen Sie, was Sie tun müssen – Sie beide, Sie und er? Genau das, was sie entscheidet,« bekräftigte sie.


 


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