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XXVIII.

Als an diesem Abend Justine den Platz an Bessys Bett einnahm, während die beiden anderen Schwestern zum Abendessen hinab gegangen waren, wandte Bessy leicht ihren Kopf und ließ ihre Augen auf ihrer Freundin ruhen.

Die rosig-schattierte Lampe warf eine lebendige Farbe auf ihr Gesicht, und die dunklen Schmerzensringe ließen ihre Augen tiefer und glänzender erscheinen. Justine wurde fast getäuscht von dem trügerischen Anschein von Vitalität und einer Hoffnung, die beinahe quälend in ihr geweckt wurde. Sie setzte sich zum Bett und umklammerte das Laken mit der Hand.

»Fühlst du dich heute abend besser?«

»Ich kann … besser … atmen …« Die Worte kamen gebrochen, zwischen langen Pausen, aber ohne das harte, gequälte Röcheln der vorigen Nacht.

»Das ist ein gutes Zeichen.« Justine hielt inne und ließ dann ein paar Mal ihre Finger über Bessys Handrücken gleiten. Sie beugte sich hinab und sagte: »Du weißt, Liebes, Mr. Amherst wird kommen.«

Bessys Augen bewegten sich wieder, langsam, unergründlich. Sie hatte nie nach ihrem Mann gefragt.

»Bald?« flüsterte sie.

»Er hat eine lange Reise angetreten – zu abgelegenen Orten – um Untersuchungen zum Baumwollanbau anzustellen – meine Botschaft hat ihn soeben erreicht,« erklärte Justine.

Bessys lag still, ihre Brust rang nach Atem. Sie verharrte so lange stumm, dass Justine bald glaubte, sie sei in den Schlafzustand zurückgefallen, der zwischen ihren Zeiten voller Bewusstheit herrschte. Aber schließlich hob Bessy wieder ihre Lider, und ihre Lippen bewegten sich.

»Wird er … lange … brauchen?«

»Einige Tage.«

»Wie … viele?«

»Das wissen wir noch nicht.«

Wiederum Schweigen. Bessys Züge schienen zu einer Art wächserner Ruhe eingefallen – als ob man ihr Gesicht tief unter klarem Wasser sähe. Und als sie dann so da lag, drangen ohne Geräusch oder Bewegung zwei Tränen durch ihre Wimpern und rollten herab auf ihre Wangen.

Justine beugte sich nahe zu ihr und wischte sie fort. »Bessy –«

Die feuchten Wimpern wurden erhoben – ein angstvoller Blick traf sie.

»Ich – ich ertrage es nicht …«

»Was, Liebes?«

»Den Schmerz … Kann ich nicht vorher … sterben?«

»Du könntest wieder gesund werden, Bessy.«

Justine spürte das Zittern in ihrer Hand.

»Wieder gehen …?«

»Das vielleicht … nicht.«

» Das? Ich ertrage es nicht …« Ihr Kopf sank zur Seite und wandte sich zur Wand hin ab.

Justine hielt diese Nachtwache mit wehem Herzen. Die Nachricht von Amhersts Rückkehr hatte in seiner Frau kein Zeichen von Glück hervorgerufen – die Tränen waren ihr lediglich durch die Furcht abgenötigt worden, während der langen Tage, bevor er kam, am Leben gehalten zu werden. Die medizinische Erklärung mochte darauf hinaus laufen, dass wiederholte Krisen intensiver physischer Angstzustände und die ihnen folgende tiefe Abgeschlagenheit alle anderen Gefühle so überlagert oder wenigstens deren Ausdruck so betäubt hatten, dass man unmöglich einschätzen konnte, wie Bessys kleiner, halb erstickter Seelenfunken tatsächlich von dieser Nachricht berührt worden war. Justine schenkte indes dieser Argumentation keinen Glauben. Ihre Erfahrung unter den Kranken hatte sie im Gegenteil davon überzeugt, dass die Wellen von Kummer oder Freude noch im schwersten Harnisch physischen Schmerzes einen Riss finden, dass der winzigste Hoffnungsfunke die Tiefen seelischer Entkräftung erhellt und irgendwie einen Strahl an die Oberfläche sendet … Es stimmte, dass Bessy nie gelernt hatte, Schmerz zu ertragen, und dass ihre eigenen Empfindungen stets das Zentrum ihres Universums gebildet hatten – doch gerade aus diesem Grund hätte der Gedanke, Amherst zu sehen, wenn jener sie glücklicher gemacht hätte, wenigstens für einen Augenblick das Gewicht des Todes auf ihrem Körper erleichtern müssen.

Justine hatte zuerst beinahe die gegenteilige Wirkung befürchtet – dass die moralische Depression sich in einem abnehmenden physischen Widerstand zeigen könnte. Doch der Körper hielt seinen verbissenen Kampf gegen den Tod aufrecht und bezog Stärke aus Quellen von Vitalität, die man dieser gebrechlichen Hülle nicht zutraute. Der Bericht des Chirurgen am nächsten Tag war günstiger, und jeder dem Tod abgewonnene Tag deutete nun auf eine schwache Aussicht auf Genesung.

Das war zumindest Wyants Ansicht. Dr. Garford und die hinzugezogenen Chirurgen hatten sich selbst bislang nicht erklärt; der junge Arzt jedoch, auf den höchsten Punkt von Wachsamkeit gespannt und unentwegt in seiner Teilnahme für die Patientin, tendierte zu einer hoffnungsvollen Prognose. Seine wachsende Zuversicht trieb ihn zu neuen Anstrengungen; auf Dr. Garfords Bitte hatte er vorübergehend seine Praxis in Clifton einem jungen New Yorker Arzt übergeben, der eine Veränderung benötigte, und indem er sich selbst in Lynbrook eingerichtet hatte, opferte er seine Tage und Nächte Mrs. Amhersts Fall.

»Wenn jemand sie retten kann, dann ist es Wyant,« hatte Dr. Garford Justine gegenüber erklärt, als am zehnten Tag nach dem Unfall die Chirurgen ihr drittes Beratungsgespräch führten. Dr. Garford hielt sein eigenes Urteil zurück. Er hatte Fälle erlebt – sie alle hatten Fälle erlebt … aber zur Zeit könnten die Zeichen so oder so zu deuten sein … Inzwischen sei Wyants Zuversicht ein unschätzbarer Aktivposten im Hinblick auf die Genesungschancen der Patientin. Hoffnung sei für den Arzt fast ebenso erforderlich wie für den Patienten – die Verbindung mit solch einem Glauben habe bekanntlich schon Wunder bewirkt.

Justine hörte schweigend zu und wünschte sich, dass sie auch hoffen könnte. Aber in welche Richtung auch immer die Prognose wies, sie empfand nur dumpfe Verzweiflung. Sie glaubte wie Dr. Garford nicht an die Möglichkeit der Genesung – diese Überzeugung schien ihr ein Wunschbild aus Wyants Vorstellungen, aus seinem jungenhaften Ehrgeiz, das Unmögliche zu erreichen – und jedes hoffnungsvolle Symptom bedeutete ihres Erachtens nur einen längeren Zeitraum nutzlosen Leidens.

Die Stunden an Bessys Seite vertieften ihre Empörung gegen die Energie, die in den Kampf gegen den Tod gesteckt wurde. Seit Bessy erfahren hatte, dass ihr Mann zurückkehre, war sie, weder durch Zeichen noch durch Worte, auf diese Tatsache zurück gekommen. Außer einem Aufleuchten von Zärtlichkeit dann und wann, wenn Cicely zu ihr gebracht wurde, schien sie in sich selbst zurück gesunken, als ob ihr armes, schwach flackerndes Bewusstsein sich ganz und gar auf die Betrachtung seines Schmerzes konzentriere. Ihr Verstand war keineswegs getrübt – er war nur untergetaucht, aufgesaugt von jenem schrecklichen Geheimnis unverhältnismäßiger Angst, die ein launisches Schicksal ihm auferlegt hatte … Und was wäre, wenn sie sich erholte, wie sie es nannten? Wenn die Flut der Angst der Ebbe wich und sie gestrandet als hilfloses Wrack an den wüsten Ufern der Untätigkeit zurückließ? Was wäre das Leben für Bessy ohne Bewegung? Das Denken würde ihr Blut niemals zum Fließen bringen – Bewegung konnte in ihr nur als physischer Prozess stattfinden. Ihre Liebe zu Amherst war tot – selbst wenn sie noch einmal aufflackerte, vermochte sie den Funken nur zu glimmender Zwietracht und Verbitterung zu entfachen; und würde ihr einziges unverdorbenes Gefühl – ihre Zuneigung zu Cicely – hinreichen, sie mit dem trostlosen Halbleben zu versöhnen, was das Äußerste war, das die Wissenschaft in Aussicht stellen konnte?

Dies beantwortete Justines Erfahrung wiederum mit nein. Sie glaubte nicht an Bessys Kräfte zur moralischen Erholung – ihr Körper schien dem Tod weniger nahe als ihr Gemüt. Das Leben war ihr großzügig zugeflossen, und sie hatte das kostbare Getränk verschüttet – die wenigen übrigen Tropfen im Becher konnten ihre Stärke nicht mehr neu beleben.

Mitleid, nicht Verachtung – tiefes, grenzenloses Mitleid – überkam Justine nach dieser Schlussfolgerung. Für ein mitfühlendes Herz konnte es kein traurigeres Beispiel der Verschwendung von Leben geben als diesen Kampf der kleinen, halbausgestalteten Seele mit einer Bestimmung, die zu schwer für ihre Stärke war. Hätte Bessy eine moralische Hoffnung, für die es sich zu kämpfen lohnte, wäre es jeder Leidensstich wert, ausgehalten zu werden; aber es war unerträglich, Zeuge dieses Schauspiels ihrer sinnlosen Qual zu sein.

Unablässiger Umgang mit Gedanken dieser Art brachten Justine im Verlauf der Tage dazu, sich nach einem Entrinnen aus der Einsamkeit, einer Berührung mit anderen Ideen zu sehnen. Sogar das Wiederauftreten von Westy Gaines, der einen Zug von gewöhnlichem, konventionellem Kummer in das gequälte Schweigen des Hauses brachte, verschaffte ihr eine Erholung von ihren Fragestellungen. Es war zwar schwer, sich mit ihm zu unterhalten, seine Fragen zu beantworten, seinen Plattitüden beizupflichten, aber es war tausend Mal schwerer, mit dem Selbstgespräch fortzufahren …

Mr. Tredegars Kommen bedeutete eine entschiedene Erleichterung. Seine Trockenheit wirkte wie ein Brenneisen in ihrer Wunde. Mr. Tredegar empfand zweifellos Kummer um Bessy; aber dieser ereignete sich in seinem Innern und strahlte nur dann und wann durch die Ritzen seiner steifen Manier, in einem Hauch besonderen Ernstes, etwas aus, das nur wie die schwierigere Aufrundung einer Periode wirkte. Doch insgesamt stand es mit seinem Gefühl so, dass Justine ihr eigenes als sehr ähnlich empfand. Wenn seine stoische Hinnahme des Unvermeidlichen aus dem Entschluss hervorging, sich selbst Schmerz zu ersparen, war dies zumindest eine Form von Stärke, ein Anzeichen von Charakter. Sie hatte nie etwas für die Geläufigkeit rückgratloser Sentimentalität übrig gehabt.

Jetzt, am Abend nach ihrem Gespräch mit Bessy, war es mehr denn je ein Trost, der Qual ihrer Gedanken in die verdünnte Atmosphäre von Mr. Tredegars Gegenwart zu entweichen. Der Tag war für die Patientin schlecht gewesen, und Justines Anspannung war durch den Empfang eines Telegramms von Mr. Langhope gewachsen, das ankündigte, er habe, auf Grund einer Verspätung beim Erreichen Brindisis, den schnellen Dampfer von Cherbourg verpasst und werde erst vier bis fünf Tage später als erwartet eintreffen. Mr. Tredegar hatte in seiner Antwort auf ihren Bericht mitgeteilt, er wolle mit einem späten Zug herkommen, und nun saß er mit Justine und Dr. Wyant nach dem Abendessen zusammen vor dem Kamin des Rauchzimmers.

»Ich gehe demnach davon aus,« sagte Mr. Tredegar, sich zu Wyant wendend, »dass die Wahrscheinlichkeit, ihren Vater zu Lebzeiten wieder zu sehen, sehr gering ist.«

Der junge Arzt hob voller Eifer seinen Kopf. »Meines Erachtens nicht, Sir. Sofern sich nicht unvorhersehbare Komplikationen ergeben, kann ich beinah' versprechen, sie noch einen Monat am Leben zu erhalten – ich scheue mich nicht, sogar von sechs Wochen zu reden!«

»Hm – Garford sieht das anders.«

»Nein; Dr. Garford argumentiert auf der Grundlage von Präzedenzfällen.«

»Und Sie?« Mr. Tredegars dünne Lippen wurden von einem Geist des Lächelns heimgesucht.

»Oh, ich argumentiere nicht – ich spüre es eben auf meine Weise,« sagte Wyant ungerührt.

»Und trotzdem zögern Sie nicht vorherzusagen – –«

»Nein, tu' ich nicht, Sir; weil der Fall, wie ich ihn seh', gewisse unumstößliche Anzeichen aufweist.« Er begann sie aufzuzählen, wobei er klug wissenschaftliche Termini vermied und seinen Standpunkt durch den Gebrauch schlichter Veranschaulichung und Vergleiche klar zu machen suchte. Es machte Justine krank, seinen leidenschaftlichen Ausführungen zuzuhören – sie hatte sie so oft vernommen und hielt so wenig von ihnen.

Mr. Tredegar warf einen prüfenden Blick auf ihn, als er fertig war. »Dann glauben Sie, sogar am heutigen Tag, nicht nur an die Möglichkeit, ihr Leben zu verlängern, sondern an eine endgültige Genesung?«

Wyant zögerte. »Ich würd' es nicht ›Genesung‹ nennen – jedenfalls heute nicht. Nennen wir's – Verlängerung des Lebens auf unbestimmte Zeit.«

»Und die Lähmung?«

»Sie könnte schwinden – nach einigen Monaten – oder einigen Jahren.«

»Wäre solch ein Ausgang nicht ungewöhnlich?«

»Außergewöhnlich. Aber es gibt solche Ausnahmen. Und ich strenge jeden meiner Nerven an, um diesen Fall zu so einer zu machen.«

»Und das Leiden – so eines wie heute zum Beispiel – ist unvermeidlich?«

»Unglücklicher Weise.«

»Und wird ansteigen?«

»Nun – sowie die betäubenden Mittel in ihrer Wirkung nachlassen …«

Es klopfte an die Tür, und eine der Schwestern trat ein, um Wyant Bericht zu erstatten. Er ging mit ihr hinaus, und Justine war allein mit Mr. Tredegar.

Er wandte sich ihr nachdenklich zu. »Dieser junge Bursche scheint sich seiner selbst ziemlich sicher. Glauben Sie ihm?«

Justine zögerte. »Nicht, was seine Erwartung bezüglich der Genesung betrifft – niemand tut das.«

»Aber Sie denken, man kann das arme Kind am Leben erhalten, bis Langhope und ihr Mann zurück sind?«

Es verging ein Augenblick, bevor Justine murmelte: »Man kann es tun … ich glaube …«

»Ja – das ist schrecklich,« sagte Mr. Tredegar plötzlich, als antworte er auf ihren Gedanken.

Sie sah ihn überrascht an; sein Auge ruhte auf ihr mit einem Blick, der wie ein mitfühlender Nebelschleier auf seiner glasharten Oberfläche wirkte. Ihre Lippen zitterten und teilten sich, als wolle sie sprechen – aber sie schaute zur Seite ohne zu antworten.

»Diese neuen Vorrichtungen, um Menschen am Leben zu halten,« fuhr Mr. Tredegar fort; »erhöhen sie das Leiden, abgesehen davon, dass sie es verlängern?«

»Ja – in manchen Fällen.«

»Und in diesem Fall?«

»Ich fürchte ja.«

Der Rechtsanwalt zog sein feines Battisttaschentuch hervor und wischte verstohlen ein wenig Feuchtigkeit von seiner Stirn. »Ich wünschte bei Gott, sie wäre dabei ums Leben gekommen!« sagte er.

Justine erhob wieder ihren Kopf und rief: »Oh ja!«

»Es ist die Hölle – diese Zeit, die sie es dauern lassen können.«

»Es ist sinnlos!« brach Justine aus.

»Sinnlos?« Er warf einen kritischen Blick auf sie. »Nun, das ist unerheblich – weil es unvermeidlich ist.«

Sie schwankte einen Moment – aber seine Worte hatten die Fesseln um ihr Herz gelockert, und sie hatte sich nicht so rasch im Griff. »Warum unvermeidlich?«

Mr. Tredegar schaute sie überrascht an, als wundere er sich über eine so unprofessionelle Äußerung von einer Person, die unter gewöhnlichen Umständen absolute Selbstbeherrschung und Ergebung in ihre Rolle als disziplinierte Krankenschwester bewies.

»Das menschliche Leben ist heilig,« sagte er salbungsvoll.

»Ach, das muss von jemandem verfügt worden sein, der nie gelitten hat!« rief Justine.

Mr. Tredegar lächelte mitfühlend: er vermochte offenbar zu berücksichtigen, dass sie überreizt war vom Anblick des Leidens ihrer Freundin: »Die Gesellschaft hat es verfügt – keine Person,« berichtigte er.

»Gesellschaft – Wissenschaft – Religion!« murmelte sie wie im Selbstgespräch.

»Genau. Es herrscht da ein universaler Konsens – als Ergebnis der Erfahrung, die sich in der Welt angesammelt hat. Grausam im individuellen Fall – notwendig für die allgemeine Wohlfahrt. Ihre Schulung hat Sie dies alles selbstverständlich gelehrt; aber ich kann verstehen, dass in solch einer Zeit …«

»Ja,« sagte sie erschöpft aufstehend, als Wyant herein kam.


Ihr größtes Elend bestand nun darin, mit Wyant über Bessys Zustand diskutieren zu müssen. Für den jungen Arzt war Bessy nicht mehr ein leidendes, sterbendes Geschöpf: sie war ein Fall – ein schöner Fall. Als das Problem neue Komplikationen zeitigte und immer mehr zu einer Herausforderung seiner Fähigkeiten, zu beobachten und Schlussfolgerungen zu ziehen, wurde, erkannte Justine, wie die abstrakte wissenschaftliche Leidenschaft sein persönliches Mitgefühl verdrängte. Obwohl er sich auf Grund seines beruflichen Geschicks ausgesprochen zart gegenüber der Patientin verhielt, die sich in seinen Händen befand, schien er sich kaum bewusst, dass sie eine mit ihm befreundete Frau war, die er kürzlich noch in strahlender Gesundheit und Lebensfreude wahrgenommen hatte. Diese Anschauung war nur allzu typisch – sie war, wie Justine wusste, der ideale Gemütszustand des erfolgreichen Arztes, bei dem das Mitgefühl für den Patienten als ein Individuum oft rasche Entschlüsse und entschiedenes Handeln behindert. Wovor sie freilich zurück schrak, war seine Entschlossenheit, Bessys Leben zu retten – eine Entscheidung, die bis zur Verbitterung durch die Skepsis der beratenden Chirurgen verstärkt wurde, die darin nur das verständliche Verlangen eines jungen Burschen sahen, sich selbst auszuzeichnen, indem er eine Heldentat vollführte, die seine älteren Kollegen für unmöglich erachteten.

Während die Tage verstrichen und Bessys Leiden wuchsen, sehnte sich Justine nach einem Wort des Einspruchs von Dr. Garford oder einem seiner Kollegen. In ihrer Krankenhauserfahrung waren sie an Fälle geraten, bei denen der Arzt sinnlose Todeskämpfe barmherzig abgekürzt hatte; war dies nicht auch ein Fall für eine solche Behandlung? Die Antwort lautete schlicht: an erster Stelle stehe die Pflicht der Chirurgen, ihre Patientin am Leben zu halten, bis ihr Vater kommt; und zweitens gebe es jene trügerische Hoffnung der sogenannten Genesung, an die keiner von ihnen glaubte, die sie jedoch in ihrer Behandlung nicht ignorieren könnten. Am Abend nach Mr. Tredegars Abreise setzte Wyant dies Justine des Langen und Breiten auseinander. Bessy war es am Morgen sehr schlecht gegangen: die bronchialen Symptome, die ein bis zwei Tage zuvor aufgetreten waren, hatten ihr Elend massiv vermehrt, und am frühen Morgen hatte es einen Augenblick der Schwäche gegeben, bei dem es schien, als sei eine mitleidige Macht am Werk, die unbarmherzigen Anstrengungen der Wissenschaft zu vereiteln. Wyant hatte indes die Gefahr abgewehrt. Durch den unverzüglichen wagemutigen Gebrauch von Aufputschmitteln – durch prompte Bereitstellung von Hilfsmitteln und die Demonstration von Selbstvertrauen und Autorität, die Justine nur bewundern konnte, während sie mechanisch seinen Bemühungen assistierte – war der Lebensfunke wiederbelebt und Bessy zurück gewonnen worden zu neuem Leiden.

»Ja – ich behaupte, es kann geschehen: heute abend sage ich das erst recht,« rief Wyant, strich sich das ungeordnete Haar aus der Stirn und beugte sich zu Justine über den Tisch, auf den ihr knappes Abendessen serviert worden war. »Ich behaupte, die Art, wie das Herz sich wieder gefangen hat, beweist, das wir auf mehr Stärke zurückgreifen können, als einer von denen zugeben wollte. Das Atmen geht auch besser. Wenn wir die Degenerationsprozesse abwehren könnten – und, beim Georg ! Im Original steht hier »by George«, womit aber nicht der heilige Georg gemeint ist; der Eigenname hat hier – ähnlich wie bei den Ausrufen »Gosh« oder »Golly« – lediglich Stellvertreterfunktion für das nur mit Vorsicht auszusprechende Wort »Gott«; Wyant, der sich selbst gesellschaftlich als »misfit« betrachtet, beweist dies auch in seiner Exklamation, die eher vulgären Charakter hat und für die ein deutsches Äquivalent nicht zu finden ist. ich glaube, wir könnten es!« Er sah plötzlich Justine an. »Wenn ich mit Ihnen zusammen arbeite, könnte ich, glaube ich, alles schaffen. Wie Sie einem Mann Rückhalt geben! Sie denken mit Ihren Händen – mit jedem einzelnen Finger!«

Justine wandte ihre Augen ab; sie fühlte, wie ein Schauer der Abneigung über ihren müden Körper schlich. Nicht dass sie eine persönliche Bewunderung in seinem Lob entdeckt hätte – er hatte sie gepriesen, wie der Chirurg es mit einem feinen, zu seinem Gebrauch verfertigten Instrument getan hätte. Aber dass sie das Instrument sein sollte, das einem solchen Zweck diente – dass ihr Geschick, ihre Promptheit, ihr Gabe, den Willen dessen, mit dem sie zusammen arbeitete, zu erahnen und zu deuten, zu Diensten dieser unerbittlichen wissenschaftlichen Leidenschaften stehen sollte! Ach, nein – sie konnte nicht länger schweigen …

Sie schaute Wyant an, und ihre Blicke begegneten sich.

»Warum tun Sie das?« fragte sie.

Er starrte sie an, als denke er, sie beziehe sich auf einen besonderen Punkt seiner Behandlung. »Was meinen Sie?«

»Es ist so sinnlos … Sie alle wissen, dass sie sterben muss.«

»Ich weiß nichts von dieser Art … und die anderen sind heute auch nicht mehr so sicher.« Er begann alles noch einmal durch zu gehen – wiederholte seine Argumente, entwickelte neue Theorien und versuchte in ihren widerstrebenden Geist seinen eigenen Glauben an die Möglichkeit des Erfolges hinein zu zwingen.


Justine saß da, ihr Kinn ruhte auf ihren gefalteten Händen und ihre Augen starrten unter ihren dunklen, qualvoll zusammengezogenen Brauen geradeaus ins Leere. Als er innehielt, verharrte sie schweigend.

»Also – Sie glauben mir nicht?« brach es plötzlich aus ihm heraus.

»Ich weiß nicht … ich kann es nicht sagen …«

»Aber solange es da einen Zweifel gibt, vielleicht sogar einen Zweifel an meiner Methode – und ich werde Ihnen beweisen, wenn Sie mir Zeit geben, dass es – –«

»Wie viel Zeit?« murmelte sie, ohne ihren Blick zu erheben.

»Ah – das hängt von uns selbst ab: von Ihnen und mir hauptsächlich. Garford gesteht dies zu. Sie können jetzt nichts tun – sie müssen uns das Spiel überlassen. Es ist eine Frage unablässiger Wachsamkeit … jede Stunde, jede Sekunde muss genutzt werden … Zeit ist alles, was ich verlange, und Sie können sie mir verschaffen, wenn es irgend jemand kann!«

Unter diesem fordernden Ton erhob sich Justine mit einem leisen, ängstlichen Murmeln. »Ach, bitten Sie mich nicht!«

»Ich soll Sie nicht bitten – – ?«

»Ich kann nicht – ich kann nicht.«

Wyant stand ebenfalls auf und warf einen erstaunten Blick auf sie.

»Was können Sie nicht – ?«

Ihre Blicke trafen sich, und sie dachte, sie läse in seinen eine plötzliche Ahnung ihrer innersten Gedanken. Diese Entdeckung elektrisierte ihre erlahmte Stärke und stellte umgehend die Klarheit ihres Gehirns wieder her. Sie erkannte die Kluft des Selbstbetrugs, über der sie geschwebt hatte, und die Nähe der Gefahr gab ihr die Kraft zu einer letzten Heuchelei.

»Ich kann … darüber nicht … weiter sprechen,« sagte sie stockend, ließ ihren Tränen freien Lauf und wandte ihm ein Gesicht echt weiblicher Schwäche zu.

Wyant schaute sie an, ohne zu antworten. Misstraute er sogar diesen klaren physischen Belegen von Erschöpfung, oder war er bloß enttäuscht von ihr, da er geglaubt hatte, sie stehe über den gefühlsmäßigen Schwächen ihres Geschlechts?

»Sie sind übermüdet,« sagte er kühl. »Halten Sie heute abend Ruhe. Miss Mace kann Sie für die nächsten paar Stunden ersetzen – und ich könnte Sie morgen mehr brauchen.«


 


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