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Zweites Buch

IX.

Aber, Justine – –«

Mrs. Harry Dressel saß in der Junifrische ihres Oak-Street-Salons und warf, durch ihre glanzvolle Erscheinung und ihr markantes Profil durchaus im Einklang mit den weiß-goldenen Kanten der erlesenen Möblierung, einen tadelnden Blick auf ihre Freundin Miss Brent, die gerade eine Handvoll Rosen aus dem Garten gebrachte hatte und sie nun in einer Glasvase anordnete.

Mrs. Dressels Ton machte klar, dass Miss Brents Eintritt das Zeichen zur Wiederaufnahme eines Streits gewesen war, dem zu entkommen letztere vielleicht den Raum verlassen hatte.

»Als du vor drei Jahren hier warst, Justine, konnte ich verstehen, dass du nicht ausgehen wolltest, weil du in Trauer wegen deiner Mutter warst – und außerdem hast du ausgeholfen bei diesem schlimmen Operationsfall im Hope Hospital. Aber nun, wo du zum Ausruhen in einer Luftveränderung zurückgekommen bist, kann ich mir nicht vorstellen, weshalb du dich weiter abschottest – außer natürlich,« schloss sie in einem höheren Ton des Tadels, »es liegt daran, dass du so gering von der Hanaford-Gesellschaft denkst – –«

Justine Brent stellte die letzte Rose an ihren Platz und wandte sich von ihrer Aufgabe mit einer Gebärde des Protests ab.

»Meine liebe Effie, wer bin ich, um gering von irgend einer Gesellschaft zu denken, wenn ich zu keiner gehöre?« Sie strich mit einer letzten sanften Berührung über die Blumen, durchquerte den Raum und streifte die Hand ihrer Freundin mir derselben zärtlichen Geste.

Mrs. Dressel nahm diese mit einer unerbittlichen Drehung ihrer rundlichen Schulter auf und murmelte: »Oh, wenn du diesen Ton anschlägst!« Und auf Miss Brents heitere Erwiderung: »Ist das nicht besser, als wenn andere ihn für mich anschlagen?« antwortete sie mit gekränkter Miene, die sich in einem Sträuben ihrer ganzen hübschen Person spiegelte: »Verzeih mir, wenn ich es ausspreche, Justine, aber die Tatsache, dass du bei mir weilst, wäre hinreichend, dich überall in Hanaford willkommen zu heißen.«

»Da bin ich sicher, meine Liebe; so sicher, dass mein furchtbarer Stolz es schon wieder übelnimmt, vom Hochwasser solch durchschlagender Referenzen überflutet zu werden.«

Mrs. Dressel schaute zweifelnd auf das dunkle Gesicht, das auf sie herab lachte. Obgleich sie Vorsitzende des Maplewood-Avenue-Buchclubs war und gewöhnlich in der Gesellschaftskolumne des »Banner« die Rolle eines der führenden intellektuellen Köpfe von Hanaford spielte, gab es Augenblicke, in denen ihr Selbstvertrauen vor Justines gelinden Ausbrüchen erzitterte. Es war natürlich absurd angesichts der jeweiligen Stellung der beiden; und Mrs. Dressel beschwichtigte sich hinter dem Rücken ihrer Freundin immer rasch durch den Gedanken, dass Justine lediglich eine Krankenschwester darstellte, die für ihren Unterhalt arbeiten musste und tatsächlich nie »irgendwo gewesen« war; aber wenn Miss Brents verbale Pfeile flogen, schien es irgendwie viel folgerichtiger, dass sie ziemlich gute Verbindungen besaß und in New York lebte. Niemand gestand im Allgemeinen den Eigenschaften von Witz und Ironie einen höheren Wert zu als Mrs. Dressel; die Schwierigkeit lag darin, dass sie nie richtig wusste, wann Justines Bogen gespannt war oder wann ihre eigenen Anfälligkeiten das anvisierte Ziel bildeten; und zwischen ihrem Verlangen, scheinbar den Spaß zu verstehen, und der Angst, sich ohne ihr Wissen lächerlich zu machen, präsentierte ihr Gesicht oft eine interessante ›Studie in Verwirrtheit‹. Wie üblich suchte sie auch jetzt ihre Zuflucht darin, das Gespräch auf ein persönliches Thema zurück zu führen.

»Ich kann mir nicht vorstellen,« sagte sie, »weshalb du nicht zur Gartenparty der Gaines gehen willst. Das ist immer das glänzendste Ereignis der Saison; und dieses Jahr, wo die John Amhersts mit ihrem ganzen Anhang da sind – mit der faszinierenden Mrs. Eustace Ansell und mit Mrs. Amhersts Vater, dem alten Mr. Langhope, der ganz genauso schlagfertig und gerissen ist wie du – kannst du uns gewiss nicht vorwerfen, langweilig und provinziell zu sein!«

Miss Brent lächelte. »Soweit ich mich erinnern kann, Effie, bist immer du es, die andere beschuldigt, diese Vorwürfe gegen Hanaford zu erheben. Ich für meinen Teil weiß zu wenig darüber, um mir eine Meinung gebildet zu haben; aber was immer es mir anzubieten vermöchte, ich bin mir peinlich dessen bewusst, dass ich gegenwärtig nichts als deine freundliche Empfehlung besitze, worauf ich verweisen könnte.«

Mrs. Dressel stand ungeduldig auf. »Wie unsinnig du daher redest! Du bist etwas dünner als gewöhnlich, und mir gefallen diese dunklen Linien unter deinen Augen nicht; aber Westy Gaines erzählte mir gestern, dass er dich für hübscher hält als je und dass es einigen Frauen ungemein stehe, übermüdet auszusehen.«

»Dann habe ich Glück, dass ich zu dieser Sorte gehöre,« erwiderte Miss Brent halb seufzend, halb lachend, »und ich habe die besten Aussichten, immer hübscher zu werden, wenn nicht bald jemand den geometrischen Anstieg meines guten Aussehens dadurch aufhält, dass er mir die Gelegenheit zu einem Jahr Erholung verschafft!«

Während sie redete, streckte sie ihre Arme über den Kopf; und diese Gebärde offenbarte, wie geschmeidig, aber auch wie dünn ihre schlanke junge Gestalt war – wie abgezehrt ihr Hals und ihre Schultern wirkten, und wie die Knochen am zarten Nacken durchschienen. Justine Brent besaß einen jener unergründbaren Körper, die bloß aus einer Messerspitze Materie mit einem Schuss Licht und Farbe zu bestehen scheinen. Obwohl sie nicht leicht errötete, verliefen unter ihrer reinen Haut rosige Lichter, verloren sich in den Schatten ihres Haars und brachen sich wiederum in ihren Augen; und ihre Stimme schien ebenfalls Licht zu verströmen, als ob ihr Lächeln ihre Worte reflektierte, wenn sie sprach – all ihre äußeren Merkmale hatten etwas so Fließendes, Wechselhaftes, dass als einzige Konstante an ihr diese Masse von dichtem schwarzem Haar erschien, das ihr Gesicht wie das Edelmetall einer altertümlichen Büste umschloss.

Mrs. Dressels Gesicht wurde weich bei dem erschöpften Klang in der Stimme des Mädchens. »Bist du sehr müde, meine Liebe?« sagte sie, während sie sie zum Sofa hinunter zog.

»Ja und nein – nicht so sehr körperlich, aber vielleicht seelisch.« Justine Brent runzelte ihre Brauen und starrte mürrisch auf die dünnen braunen Hände, die zwischen Mrs. Dressels rundlichen Fingern verflochten waren. Wie sie so mit eingebogenen Schultern und grüblerischem Kopf da saß, hätte sie eine junge, über ein geheimes Schicksal gebeugte Sibylle In der antiken Mythologie eine Prophetin, die im Gegensatz zu anderen göttlich inspirierten Sehern ursprünglich unaufgefordert die Zukunft weissagt. darstellen können; aber als sie sich im nächsten Augenblick ihrer Freundin zuwandte, warf ihr Gesicht seine Schatten ab und nahm wieder das Aussehen eines klagenden Kindes an.

»Das Schlimmste daran ist, dass ich überhaupt keine Lust mehr habe, die alte Schinderei wieder auf mich zu nehmen. Natürlich kann diese verlorene Lust rein physischer Natur sein – ich würde es bei einem nervösen Patienten ohne Zweifel so nennen. Aber bei mir selbst scheint es etwas anderes zu sein – es reicht wohl bis auf die Ursprünge des Daseins zurück. Du weißt ja, dass es immer die phantasievolle Seite meiner Arbeit war, die mir über die hässlichen Einzelheiten hinweghalf – das Mitleid und die Schönheit, die das physische Grauen desinfizierten; aber jetzt ist dieses Gefühl verschwunden und nur der moralische Ekel übrig geblieben. Oh, Effie, ich will kein dienender Engel mehr sein – ich möchte launisch sein, kokett und anspruchsvoll. Ich möchte, dass mir etwas Verwirrendes, Unberechenbares zustößt – etwas Neues, noch nicht Erlebtes, Unbeschreibliches!«

Sie riss sich lachend von der bestürzten Effie los, und wieder ihre Arme hochwerfend entschwand sie, auf dem Absatz kehrt machend, über das polierte Parkett.

»Nun,« murmelte Mrs. Dressel mit sanfter Sturheit, »dann kann ich erst recht nicht verstehen, warum in aller Welt du nicht zu der Gartenparty der Gaines gehen willst!« Und verfangen im Wirbelwind der unerfindlichen Heiterkeit ihrer Freundin, beharrte sie immer noch, während sie ihren blonden Kopf dazu einzog: »Wenn du einfach mein Kleid mit der irischen Spitze anziehen würdest, könntest du schicker aussehen als sonst jemand dort …«


Vor ihrem Toilettenspiegel schien Justine Brent eine Stunde später gewissermaßen Mrs. Dressels Voraussage zu erfüllen. So spiegelblank aufgeputzt konnte sie nicht anders, als der glücklichen Wirkung einer Schleife oder einer Feder mehr Beachtung zu schenken als dem subtileren Einfluss von Wort oder Miene; Gesicht und Gestalt wirkten so neu bei den Vorzügen des Gewands, dass sie mit vierundzwanzig immer noch den Eindruck eines jungen Mädchens in ihrem ersten »guten« Kleid erweckte. In Mrs. Dressels festlicher Garderobe, die ihren dunklen Teint zu dezenter Eleganz dämpfte, sah sie aus wie der goldene Kern einer blassen Rose, der dessen Blütenblättern Licht und Farbe verleiht.

Drei Jahre einsamen Lebens, nach einer Jugend von vertrautem Umgang mit der Mutter, die von ihr gegangen war, hatten in ihr die wunderliche Angewohnheit halblauter Selbstgespräche entstehen lassen. »Feine Federn, Justine!« lachte sie ihr lachendes Spiegelbild an. »Du siehst aus wie ein Phönix aus der Asche In der antiken Mythologie ein Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt oder stirbt, um aus dem verwesenden Leib oder aus seiner Asche wieder neu zu erstehen. Die Redewendung ›Wie ein Phönix aus der Asche‹ steht für etwas, das schon verloren geglaubt war, aber in neuem Glanz wieder erscheint.. Aber schlüpf nur zurück in dein eigenes Gefieder, und du wirst nicht mehr sein als ein kleiner brauner Vogel ohne Gesang!«

Der luxuriöse Eindruck ihrer Gewandung und die Art, wie sie ihrer warmen Jugend stand, ließ Erinnerungen an ihre Kindheit aufsteigen, die in Schönheit und vornehme Gepflogenheiten eingebettet gewesen war, bevor ihr hübscher verschwenderischer Vater verstarb und das Gesicht ihrer Mutter sich verhärmte im langen Kampf mit der Armut. Diese Erinnerungen indes waren trotz allem Justine weniger lieb als die folgenden grauen Jahre, während derer sie, erwachsen werdend, geholfen hatte, in der wilden Ödnis einen Raum zu schaffen für ihr winziges Herdfeuer, und durch ihre eigenen Anstrengungen die Flamme genährt und ihr ein Dach gegen das Unwetter gegeben hatte. Eine große Hitze, entzündet an diesem Herd, hatte in ihren Adern gebrannt und sie dazu gebracht, sich auf ihre Arbeit zu stürzen, hatte die langen kalten Tage erleuchtet und gewärmt und den Horizont gerötet nach dunklen Passagen von Aufruhr und Scheitern; und sie fühlte um so tiefer die Kälte der Reaktion, die mit dem Tod ihrer Mutter einsetzte.

Sie hatte geglaubt, ihre Arbeit als Krankenschwester im Geist höchster Selbstlosigkeit gewählt zu haben; doch in den ersten Stunden ihrer Verlassenheit schien es, als ob nur das persönliche Bestreben sie aufrecht erhalten hätte. Für eine Weile wurden danach ihre Kranken für sie zu bloßen Haufen zerfallender Materie, und sie schrak vor physischem Schmerz zurück mit einer Abneigung, die um so tiefer war, als sie beruflich nicht umhin konnte, an seiner Linderung zu arbeiten. Schrittweise kam ihre gesunde Natur aus dieser morbiden Phase heraus, und sie nahm ihre Aufgabe mit tieferem Mitleid, wenn auch weniger überschwänglicher Begeisterung an; sie war froh, ihren Teil beizutragen zu der gewaltigen, anonymen Anstrengung, das Leiden dieser Welt zu mildern, aber voller Sehnsucht, mit all den warmen Trieben der Jugend, eine persönliche Last zu schultern, eine einzelne Hand zu umschlingen.

Ach, es war grausam, am Leben zu sein, jung zu sein, mit den Quellen von Frohsinn, Zärtlichkeit und Torheit mit zu sprudeln und zugleich in beständigem Kontakt mit Verfall und Qual zu leben – unentwegt in das graue Gesicht des Todes zu schauen, ohne selbst auch nur einen Zipfel des Lebensschleiers angehoben zu haben! Dann und wann, wenn sie durch die Hülle der Eintönigkeit, von der sie zusehends eingeschlossen wurde, die Flamme ihrer Jugend fühlte, rebellierte sie gegen die Zustände, die einen Geist wie ihren an diese monotone Aufgabe banden, während andere, ohne ein Beben der Flügel auf ihren matten Schultern oder Töne der Musik in ihren Herzen, die gesamte weite Welt durchstreifen konnten, ohne darin mehr zu sehen als die Ausschließung schrecklicher Leere durch eine dichte Festung von Gewohnheit …


Ein Klopfen an die Tür kündigte Mrs. Dressel an; ihre Kleidung zielte auf Eroberung und bescherte ihrer brillanten Persönlichkeit den letzten bangen Hauch eines Künstlers, der sich nur zögernd von seinem Meisterwerk trennt.

»Mein Liebe, wie gut du aussiehst! Ich wusste, dieses Kleid würde dir stehen!« rief sie, großzügig die Gutheißung ihrer selbst auf Justine übertragend; und als diese vor sie hintrat, fügte sie hinzu: »Ich wünschte, Westy Gaines könnte dich jetzt sehen!«

»Nun, das wird er in Kürze,« erwiderte Miss Brent und ignorierte die leichte Betonung des Namens.

Mrs. Dressel fuhr fort, mütterlich über ihr zu brüten. »Justine – ich wünschte, du würdest es mir erzählen. Du sagst, du hasst das Leben, das du jetzt führst – aber gibt es nicht jemanden, der dir vielleicht – –«

»… ein anderes anbieten könnte, inklusive Spitzenkleidern?« Justines schwaches Achselzucken hätte theatralisch erscheinen können, wäre es nicht Teil des unablässigen dramatischen Spiels ihrer geschmeidigen Person gewesen. »Es könnte sein … vielleicht … nur … ich bin nicht sicher –« Sie brach schalkhaft ab.

»Nicht sicher? Wobei?«

»Dass diese Art Kleid vielleicht ein bisschen zu eng um die Schultern sein könnte.«

»Eng um die Schultern? Wovon sprichst du, Justine? Mein Kleid sitzt dir einfach wie angegossen

»Oh liebe Effie, kannst du dich denn nicht an die Fabel von den Flügeln unter der Haut erinnern, die sich ausbreiten, wenn man auf ein Paar verwandter Schultern trifft?« Und als Mrs. Dressel ihr ein verständnisloses Stirnrunzeln entgegenbrachte – »Na ja, macht nichts: ich meinte nur, dass ich immer Angst hatte, dass gute Kleidung meine Flügel daran hindern könnte sich auszubreiten!« Sie wandte sich zum Spiegel zurück und gewährte sich selbst eine letzte leichte Berührung, so wie sie über die Rosen gestrichen hatte.

»Und dabei denke ich daran …,« fuhr sie fort – »wie steht's mit Mr. Amhersts Flügeln?«

»John Amherst?« Mrs. Dressels Gesicht erhellte sich zu unmittelbarer Aufmerksamkeit. »Wieso? Kennst du ihn?«

»Nicht als den Besitzer von Westmore Mills; aber als er vor drei Jahren noch stellvertretender Geschäftsführer dort war, stieß ich im Hope Hospital auf ihn, und er brachte dann ein sehr viel versprechendes Zweiergespann ins Rollen. Ich frage mich, ob es ihnen unter seinem neuen Gewand genauso gut geht.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich verstehe, wenn du Lyrik redest,« sagt Mrs. Dressel mit abnehmendem Interesse; »aber ich persönlich kann nicht behaupten, dass ich John Amherst mag – und er ist sicherlich nicht einer so bezaubernden Frau wert wie Mrs. Westmore. Natürlich würde sie niemals jemanden erkennen lassen, dass sie nicht vollkommen glücklich ist; aber ich hörte, dass er ihnen allen einen großen Haufen Ärger bereitet hat, als er sich in die Leitung der Fabrik einmischte, und sein Verhalten ist so kühl und sarkastisch – im Grunde genommen fühlt er sich, glaube ich, nie richtig behaglich in Gesellschaft. Ihre Familie hat sich ja nie wirklich in diese Heirat gefunden; und Westy Gaines sagt – –«

»Ach, was Westy Gaines sagen würde!« warf Justine leichthin ein. »Aber wenn Mrs. Amherst wirklich die Bessy Langhope ist, die ich früher kannte, muss es ein ziemlicher Kampf für die Flügel sein!«

Mrs. Dressels erlahmendes Interesse verlegte sich auf die einzige flüchtig sichtbar werdende Tatsache in dieser Bemerkung. »Was für ein Zufall, dass du sie auch gekannt hast! War sie schon immer so überaus faszinierend? Ich wüsste gern, wie sie es anstellt, dass ihr Haar so bezaubernd aussieht!«

Justine nahm den spitzenverzierten Sonnenschirm und die langen Handschuhe, die ihre Freundin ihr geliehen hatte. »Es gab nicht viel mehr, was darüber hinaus echt an ihrem Charakter war – das war wirklich ihr eigener, meine ich – als das, was es in diesem Augenblick an meiner Erscheinung gibt. Sie war immer das liebste Chamäleon der Welt, nahm jedermanns Farbe in schmeichelnder Weise an und reflektierte sie, wie ich gestehen muss, höchst charmant, falls du mir diese gemischte Metapher nachsiehst; aber wenn man sie ganz als sie selbst erlebte, ohne etwas, das sie widerspiegeln konnte, entdeckte man, dass sie keine eigene Farbe besaß. Eines der Mädchen sagte immer, sie solle ein Etikett tragen, weil sie so leicht falsch abgelegt würde – – Nun denn, ich bin so weit!«

Justine schritt vor zur Tür, und Mrs. Dressel folgte ihr die Treppe hinab und dachte unterdessen mit entschuldbarer Selbstgefälligkeit darüber nach, dass einer der Nachteile des Klugseins darin bestand, dass man versucht war, sarkastische Dinge über andere Frauen zu äußern – anstatt, was ihrer Vorstellung entsprach, einen gesellschaftlichen Irrtum nicht weiter zu kritisieren.

Während der Fahrt zur Gartenparty kehrten Justines Gedanken, die durch die Erwähnung von Bessy Langhopes Namen in die Vergangenheit geschweift waren, zurück zu den merkwürdigen Folgewidrigkeiten ihres eigenen Geschicks – zu jener ewigen Belanglosigkeit des Vorfalls, der sie einst dazu gebracht hatte, sich selbst mit einer Schauspielerin zu vergleichen, die stets ihre Rolle vor der falschen Kulisse spielt. Bestand zum Beispiel nicht ein hämisches Missverhältnis darin, dass ein so springlebendiges Geschöpf als Hauptventil nicht mehr als den engen geistigen Kanal der paar Auserwählten bekommen sollte, zwischen denen sie jetzt zu der Gartenparty der Gaines gebracht wurde? All ihre Freundschaften waren das Ergebnis von Nähe oder früherer Verbindung, und das Schicksal hatte sie gefangen gehalten in einem Kreis vermögender Mittelmäßigkeit, bevölkert von solchen Gestalten wie den freundlichen, wohlhabenden Dressels. Effie, die Tochter einer Cousine von Mrs. Brent, hatte sich – was zwar schwer nachzuvollziehen, aber ohne Bedenken geschehen war – mit dem korpulenten blonden jungen Mann zusammengetan, der seinem Vater als Präsident der Union Bank gefolgt war und der seitens der »soliden Geschäftsinteressen« Hanafords als Inhaber von Talenten gehandelt wurde, die ihn wahrscheinlich beim Ausbau des väterlichen Vermögens noch weit bringen würden. Harry Dressels ehrliche Miene offenbarte keinen besonderen Scharfsinn, und er war in der Tat eher das Produkt besonderer Verhältnisse als einer unwiderstehlichen Neigung. Er besaß die gesunde sächsische Liebe zum Spiel, und das interessanteste Spiel, das man ihm je beigebracht hatte, war das »Geschäft«. Er war ein schlichtes, häusliches Wesen, und nach den Maßstäben von Hanaford bestand die offensichtlichste Pflicht des Ehemanns und Vaters darin, seine Familie reicher zu machen. Falls Harry Dressel jemals seine Ziele formuliert hätte, könnte er gesagt haben, dass er der Mann sein wollte, den Hanaford am meisten respektierte, und das war nur ein anderer Ausdruck für ›der reichste Mann in Hanaford‹. Effie machte sich sein Bekenntnis mit einem Eifer zu eigen, der erleichtert wurde durch dessen augenscheinliche Solidität, wie sie in einem wachsenden Einkommen und der frühen Aussicht auf eine Kutsche zu Tage trat. Ihre Schwiegermutter, eine freundliche alte Dame mit einer einfältigen, bedingungslosen Liebe zum Geld, hatte ihr an ihrem Hochzeitstag mitgeteilt, dass Harrys einziges Bestreben immer sein werde, seine Familie stolz auf ihn zu machen; und die jüngste Anschaffung der Victoria Eine Kutsche im französischen Stil, ähnlich dem Phaëton, aber mit zusätzlichem Ledersitz für den Kutscher., in der Justine und die Dressels nun saßen, wurde von der Familie als augenfällige Erfüllung dieser Vorhersage aufgefasst.

Im Laufe ihrer Krankenhaustätigkeit war Justine notgedrungen auf Leute verschiedenster Art getroffen; von Verbindungen allerdings, die sich auf diese Weise anboten, hatten sie zumeist die feineren Geschmacksabstufungen abgehalten, die den menschlichen Verkehr kultivieren. Ihre Welt war, kurz gesagt, hauptsächlich bevölkert von Langeweile und Ungeschliffenheit, und, eingeschlossen zwischen diesen beiden, hatte sie für sich selbst ein eigenes Königreich geschaffen, in dem die Fülle ihrer Ansprüche, die sie in ihren äußeren Beziehungen hintanstellen musste, wieder ihre vollständige Herrschaft zurück erlangte. Es musste wirkliche Wesen geben, die es wert waren, Zutritt zu diesem geheimen Bezirk zu erhalten, aber bislang waren sie ihr noch nicht untergekommen; und das Gefühl, dass es sie irgendwo gab, nur außerhalb ihrer Reichweite, versorgte sie mit einem Hauch jugendlicher Neugier bei jeder Berührung mit einer neuen Gruppe von Leuten.

Gewiss bildete Mrs. Gaines' Gartenparty ein untaugliches Feld für die Betätigung solcher Neugier: Justines wenige Eindrücke der Gesellschaft von Hanaford hatten diese enthüllt als einen ziemlich langweiligen, dicken Körper, dessen Oberfläche einzig durch die Auswirkung unkluger Empfehlungen für die Existenz größerer Vermögen belebt wurde; und die konzentrierte Essenz des gesellschaftlichen Hanaford war natürlich bei den Veranstaltungen der Gaines zu finden. Sie präsentierte sich jedenfalls selbst an diesem üppigen Juni-Nachmittag auf den langen Schatten des gepflegten Rasens und auf den Pfaden des Rosengartens von ihrer liebenswürdigsten Seite; und für die vom gewohnten Kontakt mit Hässlichkeit und Leiden ermattete Justine lag reine Freude in dem grün gerahmten Bild und den milden harmonischen Farben der Gestalten, die es bevölkerten. Wenn die Gesellschaft auch langweilig sein sollte, so war sie wenigstens dekorativ; und Armut, Elend und Schmutz waren durch die friedliche Unbewusstheit der Gäste ebenso sicher ausgeschlossen wie durch die laubigen Sichtbarrieren des Gartens.


 


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