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III.

An der Tür des Geschäftsführers begegnete Amherst Mrs. Truscomb, einer großen Frau mit hochrotem Gesicht, in einem schmuddeligen Morgenrock und mit Diamantohrringen.

»Mr. Truscomb ist sehr krank. Er sollte nicht mit Ihnen sprechen. Der Doktor meint –«

Dr. Disbrow kam in diesem Moment aus dem Wohnzimmer. Er war ein bleicher Mann mit grauem Bart und einer Stimme von derselben Unentschiedenheit.

»Guten Abend, Mr. Amherst. Truscomb ist ziemlich arm dran – am Rande einer Lungenentzündung, fürchte ich. Weil er Sie unbedingt sprechen will, sollten Sie besser für zwei Minuten zu ihm hoch gehen – aber bitte nicht mehr.« Er unterbrach sich und fuhr mit einem Lächeln fort: »Sie werden ihn selbstverständlich nicht aufregen – mit irgend etwas Unerfreulichem – –«

»Die Sorge um diesen elenden Dillon hat ihn selbst krank gemacht,« warf Mrs. Truscomb dazwischen und drapierte majestätisch den Morgenrock um ihren entrüsteten Busen.

»So ist es – er legt zu viel Herz in seine Arbeit. Aber wir werden Dillon in Bälde wieder hingekriegt haben,« erklärte der Arzt leutselig.

Mit einer Gebärde des Widerwillens führte Mrs. Truscomb Amherst die hübsch gezimmerte Holztreppe hinauf zu dem Raum, wo ihr Ehemann lag, ein Opfer seiner dienstlichen Sorgen. Sie brachte den jungen Mann hinein und zog sich in den Nachbarraum zurück, wo er sie in Abständen husten hörte, wie um ihn daran zu erinnern, dass er unter Beobachtung stehe.

Der Geschäftsführer der Westmore-Fabrik war nicht der Typus Mann, den Amhersts Anmerkungen zu seinem Vorgesetzten erwarten ließen. Wie er da mit ziegelroten Wangen von Kissen gestützt saß, schien er auf den ersten Blick zum zahllosen Heer amerikanischer Geschäftsleute zu gehören – jener farb- und glanzlosen kleinen Arbeitstiere, die nie ihre Köpfe vom Hauptbuch erheben. Sogar seine Augen, jetzt vom Fieber glänzend, waren im täglichen Leben stumpf und ausdruckslos; und vielleicht hätten nur die Verästlungen seiner Falten verraten können, welcher Ehrgeiz im Einzelnen Furchen durch seine Seele gepflügt hatte.

»Guten Abend, Amherst. Ich liege hier mit einer verwünschten Erkältung.«

»Tut mir leid, das zu hören,« zwang sich der junge Mann zu sagen.

»Krieg' keine Luft – das ist das Problem.«

Truscomb hielt ein und rang nach Atem. »Ich hab' g'rad' gehört, dass Mrs. Westmore da ist – und ich möchte, dass Sie vorbei gehen – morgen früh –« Er musste erneut abbrechen.

»Ja, Sir,« sagte Amherst mit hüpfendem Herzen.

»Ist nicht nötig, sie selbst zu treffen – fragen Sie nach Ihrem Vater, Mr. Langhope. Erzählen Sie ihm, was der Doktor sagt – ich werde in ein, zwei Tagen auf den Beinen sein – bitten Sie sie zu warten, bis ich sie durch die Fabrik führen kann.«

Er schoss einen seiner flüchtigen Blicke auf seinen Assistenten und erhob eine knochige Hand. »Warten Sie 'n Augenblick. Auf Ihrem Weg dahin halten Sie bei Mr. Gaines und benachrichtigen Sie ihn. Er wollte sie hier treffen. Haben Sie verstanden?«

»Ja, Sir,« sagte Amherst; und in demselben Augenblick erschien Mrs. Truscomb auf der Schwelle.

»Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen, Mr. Amherst,« fing sie hochmütig an; aber ein Blick ihres Gatten reduzierte sie auf ein wogendes Nichts in Rosa.

»Warten Sie noch, Amherst. Ich hab' gehört, Sie waren in Hanaford. Sind Sie zum Krankenhaus gegangen?«

»Ezra –« murmelte seine Gattin; er schaute durch sie hindurch.

»Ja,« sagte Amherst.

Truscombs Gesicht schien schmaler und trockener zu werden. Er wandte den Blick von seiner Frau zu seinem Assistenten.

»In Ordnung. Sie werden einfach im Kopf behalten, dass es Disbrows Aufgabe ist, Mrs. Westmore von Dillons Fall zu berichten? Sie beschränken sich auf meine Botschaft. Ist das klar?«

»Vollkommen klar. Gute Nacht,« antwortete Amherst, wandte sich um und folgte Mrs. Truscomb.


An demselben Abend saßen vier Personen unter dem bronzenen Kronleuchter in dem roten Salon der Westmore Villa. Eine der vier, die junge Dame in Trauerkleidung, deren Gesicht Miss Brents Aufmerksamkeit an jenem Nachmittag gefesselt hatte, erhob sich von einem wuchtig gepolsterten Sofa und schlenderte hinüber zum Kamin, in dessen Nähe ihr Vater saß.

»Sagte ich dir nicht, es werde furchtbar sein, Vater?« seufzte sie und lehnte sich niedergeschlagen an den sehr kunstvoll gearbeiteten Kaminsims, der von einer Bronzeuhr in Form eines Obelisken gekrönt war.

Mr. Langhope, der rauchend da saß, ein fehlerfrei gewandetes Bein über das andere geschlagen und seinen Ebenholzstock an die Armstütze seines Sessels gelehnt, richtete seine klaren, ironischen Augen auf ihr Gesicht.

»Als Archäologe,« sagte er mit einer allumfassenden Handbewegung, »finde ich es durchaus interessant. Ich sollte wirklich hierher kommen und zu graben beginnen.«

Es gab keine Lampen in dem Zimmer, und die zahlreichen Gasflammen des Kronleuchters verteilten ihr Licht unvoreingenommen auf schwerfällig gerahmte Ölgemälde der ›Bucht von Neapel‹ und des ›Hudson im Herbst‹, auf Marmorbüsten und indische Bronzefiguren auf samtgesäumten Sockeln.

»All das,« murmelte Mr. Langhope, »wird allmählich ebenso selten wie die gigantischen Sequoia-Bäume. In fünfzig Jahren werden die Sammler sich um diese ›Bucht von Neapel‹ reißen.«

Bessy Westmore wandte sich ungeduldig von ihm ab. Wenn sie starke Gefühle bei einem Thema empfand, langweilte sie ihres Vaters Oberflächlichkeit.

» Du kannst verstehen, Maria,« sagte sie, sich neben die andere Dame der Gesellschaft setzend, »weshalb ich hier auf keinen Fall leben könnte.«

Mrs. Eustace Ansell, hatte sofort nach dem Dinner ihren schmalen Rücken über den mit Samt ausgeschlagenen Schreibtisch gebeugt, wo ein Tintenhalter aus Wiener Goldbronze sein leeres Gefäß ihrem Stift darbot. Da sie aus Gewohnheit mit einer umfangreichen Korrespondenz befasst war, hatte sie diesen Notstand vorhergesehen und begegnete ihm, indem sie ihre Zofe nach ihrem eigenen Schreibzeug schickte, das nun in all seiner umfänglichen Zierlichkeit vor ihr ausgebreitet lag; auf Bessys Ansprache aber streifte sie ihren Stift ab und warf einen mitfühlenden Blick auf ihre Gefährtin.

Mrs. Ansells Gesicht bezog all seinen Reiz von seiner Anpassungsfähigkeit. Es gab für jeden Gesprächspartner ein anderes Gesicht: jetzt ironisch aufflackernd, dann in sanfter Mütterlichkeit, nun wiederum von gegenstandsloser Meditation erfüllt – und wenige hielten inne und bedachten, dass es in jedem Fall nichts als der Spiegel war, der eines anderen Blick auf das Leben reflektierte.

»Da muss etwas getan werden,« gab sie zu, während sie dem schwermütigen Blick der Witwe über den Raum folgte. »Aber du jammerst wie ein verwöhntes Kind. Bedenke, dass du ein eigenes Haus hast, in das du kommen kannst, anstatt ins Hanaford Hotel zu gehen.«

»Etwas getan werden? Warum in aller Welt sollte ich daran etwas tun? Niemand hätte erwarten dürfen, dass ich hierhin komme – stimmt's, Mr. Tredegar?« rief sie aus, indem sie sich an das vierte Mitglied der Gesellschaft wandte.

Mr. Tredegar, der Rechtsbeistand der Familie, der es für seine Pflicht gehalten hatte, die Witwe auf ihrem Inspektionsbesuch zu begleiten, wandelte den Raum mit kurzen, pompösen Schritten auf und ab, die Zigarre zwischen seinen Lippen und seine Arme verschränkt auf dem Rücken. Er schob seinen Spatzenkopf vor, suchte die beleidigende Räumlichkeit ab und beendete seine Begutachtung, indem er seine Augen auf Mrs. Westmores bezauberndem, verdrießlichem Gesicht ruhen ließ.

»Alles hängt davon ab,« antwortete er im Ton der Grundsätzlichkeit, »in welcher Höhe Sie den Ertrag ansetzen.«

Mr. Tredegar machte diese Bemerkung mit einer Miene, als berühre er einen wichtigen Punkt der Rechtslage: seine geringfügigste Äußerung erschien wie ein Urteil, verkündet von der Höhe einer Richterbank, zu der er nie emporgestiegen war. Er steckte sich die Zigarre wieder zwischen die Lippen und suchte Zustimmung in Mrs. Ansells ausdrucksvollen Augen.

»Oh, so ist es, Bessy. Das musst du bedenken,« murmelte die ältere Dame, als ob sie von der Gründlichkeit seiner Bemerkung betroffen sei.

Mrs. Westmore vollführte eine Gebärde der Ungeduld. »Wir haben immer Geld genug gehabt – Dick war vollkommen zufrieden.« Ihre Stimme zitterte ein wenig beim Namen ihres Ehemannes. »Und man weiß noch gar nicht, wie dieser Ort bei Tageslicht aussieht – und die Leute, die zu Besuch kommen!«

»Natürlich musst du jetzt niemanden empfangen, Liebes,« erinnerte Mrs. Ansell sie,« außer die Halford Gaines.«

»Die sind sicher schlimm genug. Juliana Gaines wird sagen: ›Meine Liebe, ist das die Mode, nach der Witwenschleier in New York diesen Herbst getragen wird?‹ und Halford wird darauf bestehen, dass wir zu einem dieser schrecklichen Familiendinner gehen, mit all dem Madeira und Schildkröten.«

»Es ist zu früh für Schildkröten,« tröstete Mrs. Ansell lächelnd; aber Bessy war zu ihrem Einwand zurückgekehrt. »Und überhaupt: welchen Unterschied macht es, dass ich hier bin? Ich werde niemals irgend etwas vom Geschäft verstehen,« erklärte sie.

Mr. Tredegar dachte nach und legte nochmals seine Zigarre zur Seite. »Die Notwendigkeit hierzu ist nie aufgetreten. Aber nun, da Sie die fast alleinige Kontrolle über ein großes Besitztum innehaben – –«

Mr. Langhope lachte leise. »Setz dich ein, Bessy. Bring deinen meisterlichen Intellekt beim Industrie-Problem zum Tragen.«

Mrs. Ansell verstaute die zahllosen Bestandteile ihrer Schreibutensilien und legte ihren Arm mit zärtlicher Geste auf Mrs. Westmores Schulter. »Mach dich nicht über sie lustig. Sie ist erschöpft, und sie vermisst ihr Baby.«

»Ich werde morgen früh ein Telegramm bekommen,« rief die junge Frau, sich wieder aufheiternd, aus.

»Natürlich bekommst du eins. ›Cicely hat gerade zwei gekochte Eier und eine Schüssel Haferbrei gegessen und hält sich wundervoll.‹«

Sie zog Mrs. Westmore überredend zu sich hin, aber die Witwe lehnte es ab, ihr Beharren auf ihrem Groll aufzugeben.

»Ihr alle haltet mich für extravagant und sorglos im Umgang mit Geld,« brach es aus ihr heraus, unter dem Schutz von Mrs. Ansells Arm den Raum im Allgemeinen ansprechend; »aber eines weiß ich: Wenn es nach mir ginge, würde ich mit dem Sparen bei diesem fürchterlichen Haus anfangen und es verkaufen, anstatt es Jahr für Jahr verschlossen zu halten.«

Ihr Vater schaute auf: Vorschläge zur Einsparung tangierten ihn nur wie etwas Geschäftsmäßiges, sofern sie nicht seine eigenen Ausgaben betrafen. »Was halten Sie davon, äh, Tredegar?«

Der hervorragende Rechtsanwalt zog seine dünnen Lippen ein. »Von prinzipiellen Erwägungen her betrachtet halte ich es für ungünstig,« verkündete er.

Bessys Gesicht verschloss sich, und Mrs. Ansell wandte leise ein: »Nun ja, es ist zu spät, so weit in die Zukunft zu schauen. Bedenke, meine Liebe: wir müssen morgen um zehn an der Fabrik sein.«

Die Erinnerung, dass sie früh aufstehen musste, hatte zum Ergebnis, dass sie Mrs. Westmores Rückzug beschleunigte, und die beiden Damen überließen nach einem Austausch von Gutenacht-Wünschen die Männer ihren Zigarren.

Mr. Langhope ergriff als erster das Wort.

»Bessy ist in Geschäftsdingen ebenso unterbelichtet wie ich, Tredegar. Warum zum Teufel hat Westmore ihr alles vollständig vermacht – er war doch selbst nur ein leichtsinniger Knabe.«

»Ja. So, wie er die Dinge gehen ließ, ist es ein Wunder, dass überhaupt etwas zu vermachen war. Dieser Truscomb muss ein fähiger Bursche sein.«

»Dicks Interessen treu ergeben, wie ich immer annahm.«

»Er hält die Fabrik profitabel, um jeden Preis, und das ist heute nicht so leicht. Aber von allgemeinen Prinzipien ausgehend, sollte auch er verstehen, dass wir beabsichtigen, alles gründlich unter die Lupe zu nehmen. Natürlich wird Halford Gaines nie mehr sein als ein gutes Aushängeschild, aber Truscomb muss einsehen, dass Mrs. Westmore vorhat, sich selbst persönlich in das Geschäft einzuschalten.«

»Oh, auf alle Fälle – gewiss –« pflichtete Mr. Langhope, dem bei der bloßen Vorstellung sein leichtes Lächeln zu einem Gähnen gerann.

Er erhob sich mit einiger Anstrengung, wobei er sich auf seinen Stock stützte. »Ich denk', ich werde auch zu Bett gehen. Es gibt in dieser gottverlass'nen Bibliothek kein einziges lesbares Buch, und ich glaube, Maria Ansell ist mit meinem Loti-Band Pierre Loti (1850-1923), erfolgreicher frz. Schriftsteller des Fin de siècle mit Hang zum Exotismus. weggegangen.«


Als Amherst sich am nächsten Morgen an der Tür der Westmore Villa einstellte, hatte er sich entschieden, die Anweisungen seines Vorgesetzten buchstäblich zu befolgen, und fragte nur nach Mr. Langhope. Diese Entscheidung hatte ihn einen Kampf gekostet, denn sein Herz hing an dieser Sache; aber wenn er auch wusste, dass er sich selbst bald in offene Opposition zu Truscomb stellen musste, erkannte er, dass es klug sei, die Kriegserklärung so lange wie möglich aufzuschieben.

Bei seiner Runde durch die Fabrik an diesem Morgen war er in dem Raum stehen geblieben, wo Mrs. Dillon neben ihrem Wischlappen und Eimer kniete, und hatte sie zu seiner Überraschung vergleichsweise beruhigt und heiter vorgefunden. Dr. Disbrow, so sagte sie ihm, sei vergangenen Abend da gewesen und habe ihr gesagt, sie solle Mut fassen wegen Jim, und ihr genug Geld da gelassen, um eine Woche über die Runde zu kommen – und einen wundervollen neuen Hustensaft, den er extra für sie gemacht habe. Amherst fand es schwer, ruhig zuzuhören, während noch die Worte der Krankenschwester in seinen Ohren klangen und er auf Mrs. Dillons magere Schulterblätter schaute, die qualvoll mit dem Schwung des Wischlappens auf und ab wanderten.

»Ich gehe nicht davon aus, dass Truscomb das auch nur zehn Dollar gekostet hat,« sprach er zu sich, als der Aufzug zum Fabriktor hinabfuhr; aber eine andere Stimme wandte ein, dass er kein Recht habe, Disbrow als Gehilfen seines Schwagers anzuklagen, sofern das Geschenk an Mrs. Dillon von der eigenen Herzensgüte veranlasst sein sollte.

»Und was veranlasste die Lüge über ihren Mann? Nun, vielleicht ist er ein unheilbarer Optimist,« resümierte er und sprang auf die Hanaford-Bahn auf.

Als er Mrs. Westmores Tür erreichte, hatte sich sein Zorn gelegt, und er hatte das Gefühl, sich gut im Griff zu haben. Er hatte ungewöhnliche Qualen wegen seines Erscheinens an diesem Morgen ausgestanden – oder genauer gesagt hatte seine Mutter, als sie den von Truscomb erteilten Auftrag in Erfahrung brachte, seinen sorgfältig gebürsteten Sonntagsanzug heraus gelegt und seine Krawatte mit geschickten Fingern geknüpft. »Du könntest richtig hübsch sein, Johnny, wenn du nur ein bisschen eitler wärst,« sagte sie, ihn fortschiebend, um das Ergebnis zu begutachten; und als er, sie anstarrend, erwiderte: »Ich habe noch nie gehört, dass Eitelkeit einen Mann besser aussehend gemacht hätte,« antwortete sie unbekümmert: »Oh, bis zu einem bestimmten Punkt schon, weil es ihn lehrt, Gebrauch zu machen von dem, was er hat. Also denk' d'ran,« impfte sie ihm ein, als er lächelnd den Hut aufsetzte, »dass du eine hübsche junge Frau treffen wirst und dass du selbst keine hundert Jahre alt bist.«

»Ich will's versuchen,« versetzte er, ihr nachgebend, »aber da mir verboten wurde, nach ihr zu fragen, fürchte ich, dass deine Anstrengungen verschwendet sein werden.«

Der Diener, dem er seine Botschaft übergab, führte ihn in die Bibliothek mit der Bitte zu warten; und dort fand er zu seiner Überraschung nicht den Gentleman mit dem weißen Schnurrbart, den er am Abend zuvor für Mr. Langhope gehalten hatte, sondern eine tiefschwarz gekleidete junge Dame, die auf ihn einen nicht unfreundlich fragenden Blick richtete.

Es war nicht Bessys Gewohnheit, vor der Zeit bereit zu sein; aber ihr Missfallen an ihrer Umgebung und die Ungeduld, die ihrer wartenden lästigen Pflichten hinter sich zu bringen, hatten sie vor der übrigen Gesellschaft nach unten befördert. Ihr Leben war so frei von ermüdenden Verbindlichkeiten gewesen, dass sie nur ein geringes Reservoir an Geduld besaß, ihnen zu begegnen; und bereits nach einer Nacht in Hanaford verlangte es sie danach, zurückzukehren zu den Annehmlichkeiten ihres eigenen Landsitzes, zum sanften Trott ihrer täglichen Gewohnheiten, dem putzigen Geschnatter ihrer kleinen Tochter, dem weiten Ausgreifen ihres irischen Sportpferds auf den Hempstead Plains Eine von mehreren Graslandschaften von Long Island, und die einzige echte Prärie östlich der Allegheny Mountains. – kurz, zu allem, was es möglicherweise wert war, morgens aufzustehen.

Der Diener, der Amherst hereingeführt hatte, in der Meinung, der Raum sei leer, hatte seinen Namen nicht erwähnt; und für einen Augenblick examinierten er und seine Gastgeberin einander schweigend. Bessy rätselte über das Erscheinen eines gut aussehenden jungen Mannes, der jemand gewesen sein könnte, den sie getroffen und vergessen hatte, während Amherst fühlte, wie ihm seine Selbstherrschung entglitt in die Tiefe eines Augenpaares, so dunkel bewimpert und tiefblau, dass sein einziger Gedanke darin bestand, sich über seine frühere Gleichgültigkeit gegenüber weiblichen Augen zu wundern.

»Mrs. Westmore?« fragte er, nachdem die Erkenntnis, dass die lang ersehnte Gelegenheit griffbereit war, seine Selbstkontrolle wiederhergestellt hatte; und Bessy, der seine Stimme die Schlussfolgerung, die sie aus seiner Erscheinung gezogen hatte, bestätigte, antwortete mit einem Lächeln: »Ich bin Mrs. Westmore. Aber wenn Sie gekommen sind, um mich zu sprechen, sollte ich Ihnen sagen, dass ich gleich genötigt bin, unsere Fabrik aufzusuchen. Ich habe einen Termin mit unserem Geschäftsführer, aber falls – –«

Sie brach ab, um voller Anmut zu warten, dass er seine Erklärung einfüge.

»Ich komme vom Geschäftsführer; ich bin John Amherst – Ihr stellvertretender Geschäftsführer,« fügte er hinzu, als die Erwähnung seines Namens sichtlich keine Erleuchtung vermittelte.

Mrs. Westmores Gesicht verwandelte sich, und ihr entschlüpfte ein überraschtes Murmeln, das gewiss Amhersts Mutter geschmeichelt haben würde, wenn sie es hätte hören können; eine gegenteilige Wirkung hatte es aber auf den jungen Mann, der sich innerlich selbst beschuldigte, dass er versucht habe, seinen Beruf zu verbergen, indem er nicht seine Alltagskleidung angezogen hatte.

»Wie dumm von mir! Ich hielt Sie für – ich hatte keine Ahnung; ich habe Mr. Truscomb nicht hier erwartet.« Seine Arbeitgeberin zögerte verlegen; dann trafen sich ihre Augen und beide lächelten.

»Mr. Truscomb schickt mich Ihnen zu sagen, dass er krank ist und heute nicht im Stande sein wird, Ihnen die Fabrik zu zeigen. Ich beabsichtigte nicht, nach Ihnen zu fragen – mir wurde aufgetragen, Mr. Langhope die Botschaft zu überbringen,« erläuterte Amherst gewissenhaft und versuchte dabei, den plötzlichen Klang von Freude in seiner Stimme zu unterdrücken.

Er erlag, wie ein unaufmerksamer Mann Opfer akuter Strahlen einer Vision wird; Mrs. Westmores Schönheit war wie ein blendendes Licht, das unvermittelt auf Augen fiel, die zum Sehen in der Dunkelheit gedämpft waren. Während er sprach, fuhr sein Blick von ihrem Gesicht zu ihrem Haar und blieb in dessen Schlingen gefangen. Solch ein Haar hatte er noch nie gesehen – es schien nicht auf die gewöhnliche, geordnete Art zu wachsen, sondern wallte empor über ihren ganzen Kopf in unabhängigen, glänzenden Büscheln, brach sich über den Brauen, den Schläfen, dem Nacken zu kleinen geringfügigen Wellen und Lichtwirbeln, mit dunklen Höhlen, in deren Weichheit die Hand eintauchen mochte. Es braucht nur das Zucken eines Nervs, solch einen komplexen Eindruck vom Auge zum Verstand zu transportieren, aber die Ursache dieses Zuckens hatte vielleicht das elektrische Strahlen dieses Übergangs gefühlt, denn ihre Farbe erhöhte sich, während Amherst sprach.

»Ach, da ist nun mein Vater,« sagte sie mit einem vagen Anklang von Erleichterung, als Mr. Langhopes Stock hörbar wurde, wie er seinen Weg durch den Flur tappte.

Als er, von Mrs. Ansell begleitet, eintrat, sagte ihr sein scharfer, überraschter Blick auf ihren Besucher, dass er ebenso irregeführt wurde wie sie selbst, und gab ihr das Gefühl, in ihrem Schnitzer einvernehmlich gerechtfertigt zu sein. »Wenn Vater glaubt, Sie seien ein Gentleman – –« schienen ihre leuchtenden Augen zu sagen, als sie erklärte: »Dies ist Mr. Amherst, Vater. Mr. Truscomb hat ihn geschickt.«

»Mr. Amherst?« echote Langhope mit ausgestreckter Hand in unbestimmter Leutseligkeit; und es wurde klar, dass weder Mrs. Westmore noch ihr Vater jemals zuvor den Namen ihres stellvertretenden Geschäftsführers vernommen hatten.

Diese Entdeckung versetzte Amherst einen Stich; und während er versuchte, diese ziemlich unvernünftige Verstimmung den größeren Gefühlen, mit denen er das Haus betreten hatte, unterzuordnen, sagte Mrs. Ansell, freundlich ihre Augen auf ihn richtend, leise: »Ihr Name ist ungewöhnlich. Ich hatte eine Freundin namens Lucy Warne, die einen sehr klugen Mann heiratete – ein handwerkliches Genie – –«

Amhersts Gesicht klarte auf. »Mein Vater war ein Genie; und meine Mutter ist Lucy Warne,« sagte er, von dem weichen Blick und der überzeugenden Stimme gewonnen.

»Welch erfreuliches Zusammentreffen! Wir waren als Mädchen zusammen in Albany. Du musst dich an Judge Warne erinnern?« sagte sie, sich zu Mr. Langhope wendend, der, seinen weißen Schnurrbart zwirbelnd, eine Stufe weniger herzlich murmelte: »Natürlich – natürlich – erfreulich – höchst interessant.«

Amherst bemerkte den Unterschied nicht. Seine Wahrnehmungen waren bereits umfangen von der Liebkosung, die Mrs. Ansells Stimme und Lächeln ausströmten; und er fragte sich nur vage, ob es möglich sei, dass diese elegante Frau mit ihrem sonnig-herbstlichen Flair tatsächlich eine Altersgenossin seiner Mutter sein könne. Aber diese Frage mündete umgehend in eine bittere Reaktion.

»Armut ist das einzige, was Leute heutzutage alt macht,« überlegte er und war sich zugleich schmerzlich seines eigenen Anteils an Mühsal bewusst, die seine Mutter durchgestanden hatte; und als Mrs. Ansell fortfuhr: »Ich muss sie besuchen – Sie müssen mich sie überraschen lassen,« sagte er steif: »Wir wohnen draußen bei der Fabrik, weit entfernt von hier.«

»Oh, wir werden heute morgen dorthin gehen,« gab sie zurück, ohne sich zurückgewiesen zu fühlen von dem, was sie wahrscheinlich für bloße gesellschaftliche Unbeholfenheit hielt, während Mrs. Westmore einwarf: »Aber, Maria, Mr. Truscomb ist krank, und er hat Mr. Amherst geschickt, um uns mitzuteilen, dass wir nicht kommen sollen.«

»Ja, das hat Gaines gerade am Telefon gesagt. Das ist äußerst bedauerlich,« murrte Mr. Langhope. Er begann sich mittlerweile ebenfalls über das unpassende Exil in Hanaford zu ärgern und teilte das Verlangen seiner Tochter, das leidige Geschäft rasch zu erledigen.

Mr. Tredegar war inzwischen erschienen, und als Amherst ihm namentlich genannt worden war und dessen olympisches Zunicken empfangen hatte, ließ Bessy ängstlich ihre Verlegenheit erkennen.

»Aber wie krank ist Mr. Truscomb? Glauben Sie, er kann uns morgen durch die Fabrik führen?« sprach sie Amherst an.

»Ich fürchte nein; ich bin sogar sicher, er kann es nicht. Er hat einen Anfall von Bronchitis.«

Diese Mitteilung rief einen allgemeinen Aufschrei hervor, in dem Sympathie für den Geschäftsführer nicht die vorherrschende Note war. Mrs. Ansell rettete die Lage, indem sie gefühlvoll seufzte: »Der arme Mann!« und nach einem dezenten Echo auf diese Redensart und einem zweifelnden Blick auf ihren Vater sagte Mrs. Westmore: »Wenn es Bronchitis ist, wird er wohl tagelang krank sein, und was in aller Welt sollen dann wir tun?«

»Packen und später wiederkommen,« schlug Mr. Langhope lebhaft vor; aber während Bessy seufzte »Oh, diese entsetzliche Reise!« warf Mr. Tredegar mit Autorität ein: »Einen Augenblick bitte, Langhope. Mr. Amherst, wird Mrs. Westmore in der Fabrik erwartet?«

»Ja, ich glaube, man weiß, dass sie kommt.«

»Dann denke ich, meine Liebe, die Rückkehr nach New York, ohne sich gezeigt zu haben, wäre unter den gegebenen Umständen eine – äh – Fehlentscheidung.«

»Guter Gott, Tredegar, Sie erwarten doch nicht von uns, dass wir hier tagelang Däumchen drehen?« stieß ihr Vater hervor.

»Ich kann es mir gewiss nicht leisten, dies auch nur für den Bruchteil eines Tages zu tun,« versetzte der Anwalt, den immer sofort die Vorstellung aufbrachte, er sei einen Augenblick unbeschäftigt; »aber einstweilen – –«

»Vater,« schaltete Bessy sich mit vor Ärger geröteten Wangen ein, »siehst du nicht, dass das Einzige, was wir tun können, ist, zur Fabrik zu gehen, und zwar jetzt – sofort – mit Mr. Amherst?«

Mr. Langhope schaute verblüfft: er befand sich stets in geradezu abenteuerlicher Bereitschaft, Pläne zu streichen, war jedoch verwirrt, wenn er aufgefordert wurde, sie umzugestalten. »Äh – was? Jetzt – sofort? Aber Gaines sollte mit uns gehen, und wie, um Gottes Willen, sollen wir an ihn heran kommen? Er rief mich an, dass er auf seine Farm hinaus reiten werde, weil der Besuch aufgegeben sei.«

»Oh, das macht nichts – oder vielmehr: um so besser!« drängte seine Tochter. »Wir können die Fabrik ebenso gut ohne ihn besuchen; und wir werden so viel schneller vorankommen.«

»Gut – gut – was sagen Sie, Tredegar?« murmelte Mr. Langhope, vom letzten Argument geködert; und Bessy faltete die Hände und resümierte begeistert: »Und ich werde alles viel besser verstehen, wenn nicht ein Haufen Leute versucht, mir alles auf einmal zu erklären!«

Ihr plötzlicher Enthusiasmus überraschte keinen, denn sogar Mrs. Ansell, als Expertin in der Deutung von Zwischentönen, führte ihn zurück auf das Verlangen, mit Hanaford so rasch wie möglich fertig zu werden.

»Mrs. Westmore hat ihre kleine Tochter zu Hause gelassen,« sagte sie zu Amherst mit einem Lächeln, das der möglicherweise üblen Wirkung dieses Eindrucks entgegensteuern sollte.

Amherst nahm aber den Ärger seiner Arbeitgeberin wegen des Besuchs von Westmore nicht als beleidigend. Ihn überwältigte vielmehr der freudige Gedanke, dass die erwünschte Gelegenheit nun zum Greifen nahe war. Ihr selbst die Fabrik zu zeigen – sie in direkten Kontakt mit ihren Leuten zu bringen, unbehindert von Truscombs eifersüchtiger Wachsamkeit und seinen falschen Erläuterungen; zu sehen, wie der Engel des Erbarmens erschüttert war in den Tiefen jener unergründlichen Augen, wenn sie, vielleicht zum ersten Mal, das Leiden wahrnahmen, das wegzulächeln sie ebenso leicht vermochten, wie sie sein eigenes Misstrauen weggelächelt hatten – all das hatte ihm dieser wundervolle Augenblick gebracht, und Gedanken und Argumente drangen so heiß auf seine Lippen, dass er Schweigen bewahrte, weil er fürchtete, er könnte zu viel sagen.


 


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