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XL.

Mr. Langhope warf einen Brief auf Mrs. Ansells Salontisch und kommandierte gebieterisch: »Lies das!«

Sie setzte ihre Teetasse ab, schaute auf, nicht auf den Brief, sondern in sein Gesicht, das von einer Welle von Hitze und Zittern überlaufen wurde, so dass sie für ihn zu fürchten begann. Mr. Langhope hatte sich in den letzten drei Monaten stark verändert; und als er da im klaren Licht des Juni-Nachmittags stand, kam es ihr so vor, als hätte er schließlich jenen plötzlichen Kollaps erlitten, der die Strafe dafür ist, Jugendlichkeit über ihre Zeit hinaus bewahren zu wollen.

»Was ist das?« fragte sie, ihn weiter beobachtend, während sie ihre Hand nach dem Brief ausstreckte.

»Amherst erinnert mich an mein Versprechen, nächste Woche Cicely zu ihrem Geburtstag mit nach Hanaford zu bringen.«

»Nun – es war doch ein Versprechen, oder?« versetzte sie und ließ ihren Blick über die Seite laufen.

»Ein Versprechen – ja; aber ich gab es, bevor … Lies den Brief – du wirst sehen, seine Frau wird nicht erwähnt. Nach allem, was ich weiß, wird sie also da sein, uns zu empfangen.«

»Aber auch dazu gab es ein Versprechen.«

»Dass weder Cicely noch ich sie je wieder zu Gesicht bekommen? Ja. Aber warum sollte sie es halten? Ich war ein Dummkopf an dem Tag – sie hat mich für dumm verkauft, wie sie es mit uns allen gemacht hat! Aber du hast es von Anfang an durchschaut – du hast sofort gesagt, dass sie ihn niemals verlassen würde.«

Mrs. Ansell überlegte. »Ich sagte das, bevor ich alle Umstände kannte. Jetzt denke ich anders darüber.«

»Du denkst, sie will immer noch gehen?«

Sie reichte ihm den Brief zurück. »Ich denke, dies hier soll es dir mitteilen.«

»Dies?« Er griff nach seiner Brille und überflog voller Zweifel noch einmal den Brief.

»Ja. Und darüber hinaus: wenn du es ablehnst hinzukommen, hat sie jedes Recht, ihrerseits das Abkommen zu brechen.«

Mr. Langhope sank auf einen Stuhl und hielt sich gequält an seinem Stock fest. »Bei meiner Seele, manchmal denke ich, du stehst auf ihrer Seite!« stieß er aus.

»Nein – aber ich mag ehrliches Spiel,« gab sie zurück und goss ihm sorgsam Tee in seine bevorzugte kleine Porzellantasse.

»Ehrliches Spiel?«

»Sie bietet an, ihren Teil zu tun. Jetzt ist es an dir, deinen beizutragen – Cicely mit nach Hanaford zu nehmen.«

»Wenn ich sie dort vorfinde, werde ich Amhersts Schwelle nie wieder überschreiten!«

Mrs. Ansell erhob sich ohne zu antworten und stellte die Teetasse auf den schlankbeinigen Tisch in seine Griffweite; dann nahm sie, bevor sie zu ihrem Platz zurückkehrte, die emaillierte Streichholzschachtel und legte sie neben die Tasse. Es wurde Mr. Langhope allmählich schwer, seine Bewegungen ihrem kleinen, vollgestellten Zimmer anzupassen; und er hatte es stets gemocht, bedient zu werden.


Mrs. Ansells Prognose erwies sich als zutreffend. Als Mr. Langhope und Cicely in Hanaford eintrafen, empfing Amherst sie allein. Er erklärte kurz, dass es seiner Frau nicht gut gehe und sie fort sei, um Ruhe und Abwechslung im Haus einer alten Freundin im Westen zu suchen. Mr. Langhope drückte dezent sein Bedauern aus, und das Thema war damit wie durch eine gemeinsame Übereinkunft erledigt. Cicely allerdings war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen. Die ungewissen Anfälle von Zärtlichkeit bei der armen Bessy hatten in dem nüchtern veranlagten Kind mehr Verunsicherung als Vergnügen erzeugt; in der gleichmäßigen Atmosphäre der Zuneigung ihrer Stiefmutter dagegen hatten sich die Gefühle und die Wahrnehmung des kleinen Mädchens rasant entwickelt. Cicely hatte jenes Alter erreicht, wo Kinder ihre Fragen ebenso einfallsreich wie beharrlich stellen, und sowohl Mr. Langhope wie auch Amherst sehnten sich nach Mrs. Ansells Hilfe, um ihre unablässigen Fragen zu beantworten: warum und wie lange Justine abwesend sei; was sie gesagt hatte, bevor sie ging; und wann sie versprochen hatte zurückzukommen. Aber Mrs. Ansell war nicht mit nach Hanaford gekommen. Obwohl es zur Gewohnheit geworden war, sie in die Familienreisen zur Fabrik einzubeziehen, hatte sie mit Festigkeit den Vorwand dringenderer Einladungen aufrecht erhalten; und die beiden Männer, mit Cicely zwischen ihnen, hatten die langen Tage und noch längeren Abende in ungewohnter, ungemilderter Nähe verbracht.

Mr. Langhope hielt es vor der Abreise für klug, vorsichtig auf sein Versprechen zu kommen, Cicely für den Sommer Amherst zu überlassen; aber zu seiner Überraschung antwortete dieser nach einem Augenblick des Zögerns, dass er wahrscheinlich für zwei oder drei Monate nach Europa gehen werde.

»Nach Europa? Allein?« entschlüpfte es Mr. Langhope, bevor er Zeit hatte, seine Wort abzumessen.

Amherst runzelte ein wenig die Stirn. »Ich gehe als Delegierter nach Bern wegen einer Konferenz zur Wohnsituation der Fabrikarbeiter,« sagte er schließlich, ohne die Frage direkt zu beantworten; »und falls mich nichts in Westmore zurückhält, werde ich wahrscheinlich im Juli abreisen.« Er hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Meine Frau hat sich entschieden, den Sommer in Michigan zu verbringen.«

Mr. Langhopes Antwort bestand in einem vagen Murmeln der Zustimmung, und Amherst lenkte das Gespräch auf andere Themen.


Mr. Langhope kehrte mit eindeutigen Ansichten über die Situation in Hanaford nach New York zurück.

»Armer Teufel – es tut mir leid für ihn: er kann kaum von ihr sprechen,« brach es einmal Mrs. Ansell gegenüber, im Laufe ihres ersten vertraulichen Gesprächs seitdem, aus ihm heraus.

»Weil er sich zu viele Sorgen macht – ist er deshalb so unglücklich?«

»Weil er sie verabscheut!« stieß Mr. Langhope mit Nachdruck hervor.

Mrs. Ansell holte tief Atem, was ihn anschuldigend hinzufügen ließ: »Ich glaube, es tut dir sogar noch leid!«

»Leid?« Sie hob ihre Augenbraue mit leichtem Lächeln. »Sollte es einem nicht immer leid tun zu hören, dass es etwas weniger Liebe und etwas mehr Hass in der Welt gibt?«

»Als nächstes wirst du mich bitten, sie nicht zu hassen!«

Sie fuhr fort, ihn anzulächeln. »Es sind die, die hassen, nicht die gehasst werden, die mir leid tun,« sagte sie schließlich; und er gab ungeduldig zurück: »Oh, wir wollen nicht von ihr sprechen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie in unserem Leben mehr Platz einnimmt, als wenn sie bei uns wäre!«


Amherst reiste im Juli zu der Konferenz in Bern und verbrachte anschließend sechs Wochen mit kurzen Besuchen verschiedener industrieller Zentren und Muster-Fabrikorte. Während früherer Reisen in Europa hatte sich sein Interesse keineswegs auf soziologische Probleme beschränkt: die zahllosen Formen von Tradition und Schönheit hatten jene Seite seiner Vorstellungskraft geweckt, die von seiner Arbeit zu Hause unberührt blieb. Aber in seinem gegenwärtigen Zustand tiefen moralischen Aufruhrs blieb der Zauber von Kunst und Geschichte ohne Wirkung. Die Grundlagen seines Lebens waren erschüttert, und das helle Äußere der Welt schien so leer wie das Gesicht eines Irren. Er konnte nur Zuflucht in seiner besonderen Aufgabe finden und musste sich gegen jeden Ausdruck von Schönheit und Poesie verbarrikadieren, wie gegen so viele ergreifende Erinnerungen aus einer Lebensphase, die er vergeblich los zu werden und zu vergessen suchte.

Sogar seine Arbeit war ihm bitter geworden, war verschoben von ihrem Platz im Ordnungsplan der Dinge. Es hatte ihn einen harten Kampf gekostet, an seinem Hauptziel festzuhalten, sich selbst zu überzeugen, dass seine tatsächliche Aufgabe nicht darin bestand, das Geld und die Pflichten von Westmore aufzugeben, sondern sein Projekt so auszuführen, als ob nichts geschehen wäre, das seine persönliche Beziehung zu ihm beeinträchtigt hätte. Die bloße Tatsache, dass ein solches Aufgeben ein vorsätzlicher moralischer Selbstmord gewesen wäre, ein endgültiges Durchtrennen jeder Schlagader von Tätigkeit, gab dem Projekt vorerst den Anschein einer Verbindlichkeit, einer Art höherer Pflicht gegenüber dem, was er sich selbst zu schulden glaubte. Doch Justine hatte sich in ihrer Vorhersage nicht getäuscht. Nachdem sie einmal aus seinem Leben fort war, fiel es ihm leichter, zu einer leidenschaftslosen Anschauung seiner Lage zurückzukehren – zu erkennen, und sich diese Erkenntnis offen einzugestehen, dass es immer noch seine höhere Pflicht war, bei seiner Aufgabe zu bleiben, anstatt sie einem Ideal persönlicher Neutralität zu opfern. Es war dieser allmähliche Prozess der Umstellung, die ihn vor jener trostlosen Skepsis bewahrte, welche den tätigen Menschen befällt, wenn die Quellen seiner Tätigkeit verunreinigt werden. Nachdem er dieses Schicksal akzeptiert und eingewilligt hatte, sich selbst nur mehr als notwendigen Handlungsträger einer guten Sache zu betrachten, die getan werden musste, vermochte er der Selbstbefragung nur dadurch zu entrinnen, dass er sich in den Gewahrsam der praktischen Ausübung seiner Arbeit nahm, seine Augen und Gedanken vor allem verschloss, was früher diese Arbeit in Bezug zu einer weiteren Welt gesetzt und seinem Leben als Ganzes Bedeutung und Schönheit verliehen hatte.

Die Rückkehr von Europa und die Wiederaufnahme der täglichen Routine in Hanaford waren die schwierigsten Phasen in diesem Prozess moralischer Umwandlung.

Justines Abreise hatte zuerst Erleichterung verschafft. Er war zu ehrlich vor sich selbst, um ihrem Wunsch, Hanaford eine Zeit lang zu verlassen, etwas entgegensetzen zu können, denn für sie wäre ebenso wie für ihn eine vorübergehende Trennung weniger schmerzhaft als die Fortsetzung ihrer gegenwärtigen Beziehung. Aber als aus Wochen Monate wurden, musste er sich eingestehen, dass er einer klaren Anschauung seines eigenen Falls nicht näher gekommen war: die Zukunft wirkte immer noch dunkel und rätselhaft. Justines Wunsch, ihn zu verlassen, hatte sein unausgesprochenes Misstrauen ihr gegenüber neu belebt. Was konnte er anders bedeuten, als dass sie Gedanken in sich trug, die in seiner Gegenwart nicht zur Ruhe kamen? Er hatte ihr jeden Beweis seines Willens gegeben, das Vergangene zu vergessen, und Mr. Langhope hatte sich mit beispielloser Großzügigkeit verhalten. Trotzdem war Justines Unglück offensichtlich: sie konnte nicht ihr Verlangen verbergen, aus den Bedingungen zu entfliehen, die ihre Tat geschaffen hatte. Lag es daran, dass sie sich in Wirklichkeit anderer Motive bewusst war als des einen, das sie nannte? Sie hatte, fast gefühllos, wie es hätte scheinen mögen, auf der abstrakten Richtigkeit ihrer Tat bestanden, darauf, dass, nach ideellen Maßstäben, ihre Tat nicht weniger richtig, weniger gerechtfertigt gemacht werden könne durch die besonderen zufälligen Folgen, die sie nach sich gezogen hatte. Weil diese Folgen sie in ein Netz tragischer Schicksalhaftigkeit verstrickt hätten, sei sie nicht schuld an der Schwäche derer, die die Katastrophe auf einen ihrem ursprünglichen Beweggrund innewohnenden Irrtum zurückführten. Warum, wenn das ihre tatsächliche, ihre stolze Haltung zum Vergangenen war – und da ihre Mitmenschen an ihre Aufrichtigkeit glaubten und ihre Rechtfertigung als zutreffend von ihrem Standpunkt aus, wenn auch nicht aus deren eigenem, akzeptiert hatten – warum war sie dann nicht im Stande gewesen, diese Haltung beizubehalten und das Leben nach den Bedingungen, die sie anderen abverlangte, weiter zu führen?

Ein besonderer Umstand trug zu diesem Misstrauen bei, nämlich dass Justine eine Woche nach ihrer Abreise von Hanaford schrieb, sie könne, von nun an bis sie zurückkehre, kein Geld von Amherst annehmen. Ihrer Gewohnheit entsprechend legte sie ihre Gründe klar und nüchtern, ohne Ausflüchte und Doppeldeutigkeiten dar.

»Da du und ich,« schrieb sie, »immer darin übereinstimmten, das Westmore-Geld als eine Art Gehalt für unsere Dienste in der Fabrik aufzufassen, kann ich dieses Gehalt nicht mehr beziehen, weil ich nicht in der Lage bin, irgend eine Arbeit dafür zu leisten. Ich bin sicher, dass Du das auch so siehst; und Du brauchst Dir keine Sorgen wegen der praktischen Seite des Problems zu machen, weil ich genug zum Leben aus dem Ersparten meiner Krankenhauszeit habe, das vor zwei Jahren für mich von Harry Dressel angelegt worden ist und nun allmählich etwas abwirft. Darum kann ich es mir erlauben, die geschäftlichen Beziehungen zwischen mir und Westmore so auszulegen, wie ich es möchte.«

Während er dies las, durchlief Amhersts Kopf den seltsamen zwiefachen Prozess, der jetzt all seine Urteile über seine Frau kennzeichnete. Zuerst hatte er sich eingebildet, er verstehe sie, und das Gefühl gehabt, er hätte es genauso gemacht wie sie; dann setzte die übliche Reaktion des Misstrauens ein, und er fragte sich, warum sie, die eine so wenig konventionelle Haltung gegenüber dem Geld einnahm, nun diese unerwartete Empfindlichkeit entwickelte. Und so präsentierte sich das alte Problem im neuen Gewand: wenn es nichts gab, was sie sich vorzuwerfen hatte, warum ertrug sie es dann nicht, von Bessys Geld zu leben? Dass sie gegenwärtig keine Dienste in Westmore leistete, hatte ihre Skrupel nicht veranlasst – sie wäre die Letzte gewesen, die einem kranken Mitarbeiter seinen Lohn verweigert hätte. Ihr Widerstreben konnte nur aus jener verborgenen Ursache von Schuldgefühlen rühren, die ihre Abreise beschleunigt hatte und die sie nun zwang, sogar die bloß materiellen Verbindungen zwischen ihr und der Vergangenheit zu trennen.

Amherst hatte sich bei seiner Rückkehr nach Hanaford bemüht, in diesen Überlegungen den Grund für seine tiefe Unrast zu ermitteln. Es war der von seiner Frau eingeschlagene Weg, der immer noch einen quälenden Zweifel auf die Grundlage seiner Bereitschaft warf, das Geschehene zu akzeptieren und hinter sich zu lassen. Und er sagte sich jetzt, dass das ständige ärgerliche Gefühl ihrer Abwesenheit auf der unbehaglichen Frage beruhe, was jene Abwesenheit bedeutete, welch dunkle Geheimnisse sie barg und vor ihm zurückhielt. In Wirklichkeit vermisste er sie mit jedem Partikel seines Seins, sie fehlte ihm bei allem. Sie war sofort die Partnerin bei seiner Lebensaufgabe geworden und das pays bleu Das »blaue Land«, Name für die Provençe, wegen der zahlreichen Lavendel-Felder. – Der vorgesetzte deutsche Artikel widerspricht zwar dem grammatischen Geschlecht des frz. Wortes, wurde aber dennoch gewählt, weil der Leser das ›genus‹ der deutschen Übersetzung mitdenkt., zu dem er von dieser entwich; der belebende Gedanke, der dem von ihm gewählten Leben Bedeutung verlieh, ihn dennoch nie vergessen ließ, dass es draußen ein größeres, reicheres Leben gab, mit dem er durch tiefere und wesentlichere Dinge verwurzelt war als durch ein abstraktes Ideal von Altruismus. Seine Liebe hatte seine Identität bewahrt, ihn gerettet vom Schrumpfen zu einer bloß namenlosen Einheit, zu der der soziale Enthusiast leicht werden kann, wenn nicht die humanitäre Leidenschaft in Balance gebracht wird durch eine durchaus etwas übergewichtige rein humane. Und nun, wo dieses Gleichgewicht für immer verloren war, lag sein tiefster Schmerz in der Erkenntnis, dass er es nicht zurück gewinnen konnte, sogar wenn er Westmore abschüttelte und die engere, aber reichere individuelle Existenz wählte, die ihre Liebe ihm einst vielleicht hätte bieten können. Sein Leben war in Wirklichkeit ein unteilbarer Organismus, es bestand nicht aus zwei Hälften, die künstlich vereint waren. Ich und zweites Ich: sie waren ineinandergewachsen von den Wurzeln her – auf welchen Teil auch immer das Schicksal ihn beschränkte, es würde nur ein verstümmeltes, halblebendiges Bruchstück des Ganzen sein.

Zu seinem Glück fiel diese Lebenskrise zufällig zusammen mit einem Streik in Westmore. Bald nach seiner Rückkehr nach Hanaford sah er sich genötigt, das schwierigste Problem seiner Industrielaufbahn anzupacken, und er wurde die folgenden drei Monate von jener Flutwelle unerlässlicher Tätigkeit getragen, die eine schiffbrüchige Seele über so viele versunkene Riffs von Furcht und Verzweiflung hinweggleiten lässt. Das Wissen, dass er besser geeignet war, sich mit dem Problem auseinander zu setzen als jeder andere, der eventuell seinen Platz hätte einnehmen können – diese Überzeugung, die gegenwärtig bestätigt wurde durch den friedlichen Ablauf des Streiks, half ihm dabei, durch das Gefühl seiner unmittelbaren Nützlichkeit jenes andere, das des zersetzenden Zweifels im Hinblick auf den endgültigen Wert solcher Anstrengungen, in der Balance zu halten. Und so versuchte er sich mit einer Art mechanischen Altruismus einzurichten, in dem die Reflexe der Gewohnheit den Platz jener täglichen Erneuerung von Glauben und Begeisterung einnahmen, die aus den Quellen seiner Freude gespeist worden waren.


Der Herbst kam und ging in den Winter über; und nach Mr. Langhopes Rückkehr nach New York fing Amherst an, seine üblichen Besuche seiner Stieftochter wieder aufzunehmen.

Seine natürliche Zuneigung zu dem kleinen Mädchen hatte sich durch die unerwartete Weise, durch die ihr Schicksal ihm anvertraut worden war, nur vertieft. Der Gedanke an Bessy war durch die Entdeckung, dass ihre Liebe unter ihrer scheinbar hoffnungslosen Entfremdung fortbestanden hatte, zu bedauernder Reue verwandelt worden – dieses Gefühl, das durch die ihren Tod begleitenden Umstände bis an den Rand der Krankhaftigkeit verstärkt worden war, suchte nun Ausdruck in leidenschaftlicher Hingabe an ihr Kind. Das Unglück hatte, kurz gesagt, zwischen Bessy und ihm eine rückwirkende Sympathie geschaffen, die durch die Wiederaufnahme des gemeinsamen Lebens innerhalb einer Woche ihr Ende gefunden hätte – eine jener Ausdünstungen der Vergangenheit, durch die die Lebenskraft jener, die zu nahe an der Stätte von Todeserfahrungen verweilen, niedergedrückt wird.

Seit Justines Abreise hatte sich Amherst noch mehr zu Cicely hingezogen gefühlt; seine Beziehung zu dem Kind wurde indes dadurch kompliziert, dass es nicht zufrieden zu stellen war, was den Grund der Abwesenheit ihrer Stiefmutter betraf. Wann immer Amherst nach New York kam, stets galt ihre erste Frage Justine; und ihre Erinnerung besaß die altkluge Beharrlichkeit, die sich manchmal bei Kindern entwickelt, die zu früh ihrer natürlichen Atmosphäre von Zuneigung beraubt werden. Cicely war immer verhätschelt und angebetet worden, zu seltsamen Zeiten und von den unterschiedlichsten Leuten; doch ein Instinkt schien ihr zu sagen, dass von aller ihr gewidmeten Zärtlichkeit die von Justine am meisten dem alles durchdringenden mütterlichen Element glich, in dem sich das Herz des Kindes ausdehnt, ohne sich je seiner Notwendigkeit bewusst zu sein.

Wenn es schon im Juni peinlich gewesen war, Cicelys Fragen auszuweichen, so wurde es doppelt unangenehm, als die Monate verstrichen und der Vorwand von Justines schlechtem Gesundheitszustand immer schwieriger aufrecht zu erhalten war. Im darauf folgenden März wurde Amherst durch die Nachricht herbeigerufen, dass das kleine Mädchen selbst krank war. Ernsthafte Komplikationen hatten sich aus einem Fall verschleppten Scharlachfiebers entwickelt, und zwei Wochen lang war das Schicksal des Kindes ungewiss. Dann erholte sie sich allmählich, und in der Freude, das Leben zu ihr zurück kommen zu sehen, hatten Mr. Langhope und Amherst das Gefühl, als müssten sie ihr nicht allein jeden Wunsch, den sie aussprach, erfüllen, sondern gerade die zu erraten suchen, die sie unter der Oberfläche ihres klaren, unbestimmten Blicks schweben sahen.

Für Mrs. Ansell, wenn auch nicht für die anderen, war spürbar, dass einer dieser unausgesprochenen Wünsche in dem Verlangen bestand, ihre Stiefmutter zu sehen. Cicely fragte nicht mehr nach Justine; aber etwas in ihrem Schweigen oder in der Gebärde, mit der sie andere Angebote von Unterhaltung und Gesellschaft abwies, machte Mrs. Ansell plötzlich stärker betroffen, als Worte es vermocht hätten.

»Wonach verlangt das Kind?« fragte sie die Gouvernante im Laufe einer ihrer geflüsterten Konsultationen; und diese erwiderte nach einigem Zögern: »Sie sagte etwas von einem Brief, den sie an Mrs. Amherst geschrieben hätte, gerade bevor sie krank wurde – und dass sie keine Antwort bekommen hätte, glaube ich.«

»Ach – sie schreibt an Mrs. Amherst, ja?«

Die Gouvernante bemerkte augenscheinlich, dass sie empfindliches Gebiet betrat, und versuchte sofort sich und das Kind zu verteidigen.

»Es war vielleicht mein Fehler. Ich schlug einmal vor, dass ihre kleinen Aufsätze die Form von Briefen annehmen sollten – das interessiert gewöhnlich Kinder mehr – und sie fragte, ob sie an Mrs. Amherst geschrieben werden könnten.«

»Ihr Fehler? Weshalb sollte das Kind nicht an seine Stiefmutter schreiben?« versetzte Mrs. Ansell mit aufgesetzter Überraschung; und auf das gemurmelte »Natürlich – natürlich – –« der anderen fügte sie hochmütig hinzu: »Ich gehe davon, dass die Briefe abgeschickt wurden?«

Die Gouvernante stotterte: »Ich wüsste nicht – aber vielleicht das Kindermädchen …«


An diesem Abend ging es Cicely weniger gut. Das Fieber war leicht wiedergekehrt, und der eilends herbeigerufene Arzt verwies auf die Möglichkeit von zu großer Aufregung im Krankenzimmer.

»Aufregung? Es hat keine Aufregung gegeben,« protestierte Mr. Langhope, erschüttert von der plötzlich erneuerten Angst.

»Nein? Das Kind wirkt nervös, beunruhigt. Schwer zu sagen warum, weil sie ungewöhnlich zurückhaltend ist für ihr Alter.«

Der Mediziner verabschiedete sich, und Mr. Langhope und Mrs. Ansell schauten einander an in einer Verwirrung, wie sie entsteht, wenn der Ruf ›Zu den Waffen!‹ erklingt, wo alles friedlich zu sein scheint.

»Ich werde sie verlieren – ich werde sie verlieren!« stieß der Großvater hervor und sank mit einem Stöhnen in seinen Sessel.

Mrs. Ansell sammelte ihre Pelze zum Weggehen zusammen und drehte sich auf der Schwelle unvermittelt zu ihm herum.

»Es ist dumm, was du tust – dumm!« rief sie mit ungewohnter Heftigkeit.

Er hob den Kopf mit einem alarmierten Blick. »Was meinst du – was tue ich?«

»Das Kind vermisst Justine. Du solltest sie herbeirufen.«

Mr. Langhopes Hände sanken auf die Armlehnen, und er richtete sich auf mit schwachem Aufblitzen von Empörung. »Du hattest in letzter Zeit Anwandlungen – –«

»Ja, ich hatte welche, und du auch – als das Kind zu uns zurückkam und wir da standen und nicht wussten, wie wir sie halten, sie festbinden konnten … und in diesen Momenten erkannte ich … ich wusste, was sie brauchte … und du wusstest es auch!«

Mr. Langhope wandte seinen Kopf ab. »Du bist eine Schwärmerin!« schleuderte er ihr verächtlich entgegen.

»Oh, beschimpf mich ruhig mit allem, was dir einfällt!«

»Ich werde diese Frau nicht herbeirufen!«

»Nein.« Sie befestigte langsam ihre Pelze, mit den feinen, bedächtigen Bewegungen, die von keiner Empfindung jemals beschleunigt oder gestört werden konnten.

»Warum sagst du ›nein‹?« forderte er sie heraus.

»Vielleicht damit du mir widersprichst,« äußerte sie dreist, nachdem sie ihn wieder angeschaut hatte.

»Ah – –« Er verlagerte seine Stellung, wobei ein Arm seinen gebeugten Kopf stützte und die Augen sich am Boden festhielten. Plötzlich brach er aus: »Könnte man sie bitten herzukommen – um das Kind besuchen – und dann wieder weg zu gehen – für immer?«

»Um das Abkommen nach deinem Belieben zu brechen und es dann aus demselben Grund wieder zu schließen?«

»Nein – nein – ich verstehe.« Er hielt inne, dann sah er plötzlich zu ihr auf. »Aber wenn Amherst selbst sie nicht zurück haben will?«

»Soll ich ihn fragen?«

»Ich sag' dir, er kann nicht einmal ihren Namen hören!«

»Aber er weiß nicht, warum sie ihn verlassen hat.«

Mr. Langhope runzelt seine Brauen. »Wieso – was in aller Welt – welchen Unterschied würde das machen?«

Mrs. Ansell warf ihm vom Flur einen mitleidigen Blick zu. »Ach – wenn du das nicht begreifst!« murmelte sie.

Er sank mit einem Stöhnen zurück auf seinen Platz. »Großer Gott, Maria, wie du mich folterst! ich weiß sehr wohl, wie es aussieht – ich begreife den verwünschten Handel viel zu gut!«

Sie hielt erneut inne, dann kam sie einen oder zwei Schritte näher und legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Es gibt etwas, das du bisher noch nicht verstanden hast, Henry: was Bessy selbst jetzt tun würde – für das Kind – wenn sie könnte.«

Er saß bewegungslos unter ihrer leichten Berührung, hielt seine Augen auf ihre gerichtet, bis ihrer beider innerste Gedanken zu einem gemeinsamen Gefühl ineinander fanden, wie sie es immer noch bisweilen vermochten, trotz des grauen Schleiers der Jahre, ihrer Selbstsucht und ihrer weltlichen Gewohnheiten; dann ließ er sein Gesicht in seine Hände sinken und verbarg es vor ihr mit dem instinktiven Zurückschrecken vor einem alten Kummer.


 


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