Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

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Dreizehntes Kapitel

An Bojesen konnte man jenen leise fortschreitenden Verfall gewahren, der sich in einer mehr und mehr glänzenden Rocknaht offenbart; in jener Vernachlässigung des Äußeren, die sich bis zum Trotz steigert; in der Verringerung des Trinkgeldes für Kellner und Oberkellner; in der beflisseneren Art, vornehme, wenn auch sonst gehaßte Personen zu grüßen; in der erkünstelten Ruhe, womit man in den Läden nach dem Preis der Waren fragt, – kurz, in all jenen Dingen, die so tief gehen, wie sie unbedeutend scheinen und mehr verwunden, als das offene Geständnis der Not. Die Behaglichkeit gesicherter Zustände ist dann das einzig Wünschens- und Ersehnenswerte, und wenn es zu Hause kalt ist, träumt man von einem offenen Kaminfeuer mit fallenden Glutkohlen, so wie man sonst die Gedanken in alle Tiefen der Metaphysik sandte.

Er war verlassen, und er überredete sich, daß er in seiner Verlassenheit glücklich sei. Eine befremdliche Ruhelosigkeit war über ihn gekommen, die ihn von Rast zu Rast und von Arbeit zu Arbeit trieb; aber die Rast war ohne Frieden und die Arbeit ohne Frucht. Die Häuser, die eingefrorenen Parkanlagen vor seinem Haus, die vorbeisausenden Züge der Eisenbahn, Menschen, Hunde und Steine, alles hatte sich verändert, hatte in seinen Augen etwas Flüssiges erhalten und schien durch die unlösbare Kette der Teilnahmlosigkeit, die alles und alle umfangen hielt, verächtlich. Oft wenn der Sturm bei Nacht um die Mauern fuhr, daß es schien, als koche die Atmosphäre, kam sich Bojesen als ein unermeßlich einsames Wesen vor im weiten Universum, das sich im Zustand des Wartens befand auf irgend einen magischen Befehl jener Dame, die die Lebensfäden so kühn und unberechenbar ineinanderstickt. Wie leer erfand sich schließlich die Wissenschaft vor seinem Nachdenken. Selbst die Lampe auf seinem Tisch, die Stühle, die Bücher im Regal, – sie hatten etwas Wesenloses für ihn.

Um Geld zu verdienen, suchte er Stunden zu geben. Es gelang ihm, die zwei Söhne des Witwers Samuel Binsheim zum Privatunterricht zu bekommen. Dieser Herr Binsheim setzte einen eigenen Ehrgeiz darein, mit Bojesen gelehrte Gespräche zu führen. Er überfiel ihn also oft auf der Straße und versicherte ihm stets von neuem, daß er ein Materialist sei, ein Freidenker, Freigeist, ein Atheist und machte ihn mit seinem Plan bekannt, einen Atheistenverein zu gründen. Er sah darin die höchste Vollkommenheit des Geistes; jeder Atheist war im Voraus sein Freund, er suchte Disziplin in die Atheisten zu bringen und wollte sie organisieren.

Herr Binsheim war es auch, der ihm erzählte, Stefan Gudstikker habe ein Buch veröffentlicht, worin die Leiden eines tragisch endenden Schulknaben so meisterhaft geschildert seien, daß das Werk in kurzer Zeit das größte Aufsehen erregt habe. Bojesen bat Herrn Binsheim um das Buch, doch als er es lesen wollte, fand sich, daß Herr Binsheim die Blattränder dazu benutzt hatte, um seine Feder in kritischen Anmerkungen schwelgen zu lassen. Daher konnte sich Bojesen lange Zeit nicht zur Lektüre entschließen, denn ihm war, als solle er sich in ein Bett legen, das noch warm war vom Schlaf eines Fremden. Schließlich las er es doch und fand viel Gewandtheit der Darstellung in dem Buch, viele blendende Einzelheiten; er fand viel Wollen, das nicht zur Kraft entwickelt war und jenes wunderbare Spiel mit Natürlichkeit, jene leicht überspannte Romantik der Gefühle, die sich um einfache Wirkungen herumlügt, weil sie des Einfachen nicht fähig ist.

Oft wenn Bojesen nach Hause gekommen war und sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, wurde vor der Türe ein schwaches Knistern hörbar. Dies Knistern stammte von einem Kleide, und die dies Kleid trug, war Fanny Bojesen. Fanny Bojesen schlich über die sich krümmenden Dielen dahin, schreckte bei jedem Laut zusammen und legte ihr Ohr an die Türe des Gemachs, hinter dem sich der einsame Mann verschanzt hatte vor dem Leben und vor der Liebe. Sie wurde nicht müde, zu lauern und zu lauschen, und nicht einmal ein Seufzen von drinnen belohnte ihre Qual. Oft nach solch fruchtlosem Spionieren setzte sie sich in ihrem Zimmer an den Tisch und schrieb, schrieb, schrieb . . . die lange, klagende Epistel des unglücklichen Weibes, und am folgenden Morgen verbrannte sie was sie geschrieben. Wenn Bojesen ausging, versteckte sie sich; wenn er kam, versteckte sie sich; aber nie war ihr Gehör feiner und wachsamer gewesen für jedes Geräusch, das auf sein Kommen oder Gehen deutete; wenn sie sich zufällig begegneten, wußte sie ihr Gesicht von Gleichgültigkeit förmlich strotzen zu lassen, und war sie dann allein, so weinte sie stundenlang. Als später das Dienstmädchen abgeschafft wurde, war es an ihr, ihm die nicht allzu reichlichen Mahlzeiten zu servieren. Keine Regung ihres Innern war dann auf ihrem Antlitz zu gewahren, kein Erblassen, kein Zittern ihrer Hand zu sehen. Trotzdem schluckte Bojesen in dieser Zeit manche Träne ahnungslos mit hinunter, die ohne sein Wissen die Speisen gewürzt hatte.

Er ergab sich jetzt den stillen Studien, die an der Grenze der Wissenschaft liegen und den Ausblick gestatten auf ein unermeßliches Reich von Hypothesen, auf die schrankenlose Nutznießung phantastischer Probleme. Es schien ihm oft, als ob sein Verstand dabei in die Brüche gehen müsse, aber dies gefährliche Tappen im Reich unumstößlicher Gesetze entzog ihn der Welt und seinen eigenen Sorgen, und wenn er spät, spät in der Nacht in irgend einer ungeheuerlichen Formel den Boden neuer Entdeckungen zu sehen glaubte, konnte er in eine erhitzte Wonne geraten, wie ein Wirt über das Bier, das er selbst gebraut und konnte vergessen, wie nahe ihm die Forderung praktischer und lohnender Arbeit gerückt sei.

Eines Tages, der Schnee war im Schmelzen und laue Winde kamen, fühlte er sich gänzlich abgespannt, fühlte er sich alt. Es war ein wunderlich wissender Zustand, durch den er über sich selbst hinausspähen konnte und zugleich das Gefühl von Wichtigkeit verlor, das die Quelle nützlicher Leistungen ist. Da wurde ein Brief in sein Zimmer geworfen, der den Poststempel Paris trug und so lautete:

»Eines Wortes bist du noch wert. Ich erfülle deine Bitte: hier hast du ein Lebenszeichen. Ich kann es dir mit Recht senden, denn ich lebe hier. Hier hört man das Herz der Menschheit schlagen. Hier bin ich, die ich stets gewesen bin, nur unentdeckt gewesen bin, hier trinkst du dich wahnsinnig am immergefüllten Becher. Tausende purzeln, Hunderte steigen, Tausende jubeln und sterben zugleich. Aber es ist vielleicht nicht das Echte; nicht Nektar, sondern Haschich. Nichts für deinesgleichen! Nichts für gute Charaktere, für euch Perlen am alternden Hals Europas. Ich komme vielleicht zurück, weil es mich reizt, euch dort ein wenig toll zu machen. Ich habe erst hier von einem König gehört, der bei euch leben soll, – ein Heliogabal, jammervoll mißkannt, ein Sohn der Sonne. Und nun leb wohl, Erich, löse dich aus dem Niedrigen, das dich umfängt und denke ohne Groll an deine Jeanette.«

Bojesen warf den Brief in eine Ecke, hob ihn jedoch wieder auf, legte ihn mit feierlichen Gebärden zusammen und zerriß ihn dann in lauter kleine Stückchen. In diesem Augenblick kam ihm alles, was er trieb, so erbärmlich vor, und alles, was er wußte, so oberflächlich, daß er in einer schmerzlichen Apathie die Augen schloß. Dann nahm er eine Feder zur Hand und schrieb auf das nächste Stück Papier: Wissenschaft.

Es war ein Mann, ich weiß nicht, wie er hieß,
Den das Geschick im tiefen Schoß der Erde
Vor langer Zeit zum Leben kommen ließ,
Und Finsternis war Mutter, die ihn nährte.

Doch er vermochte nicht zu reimen; auch fühlte er, daß sein Gedanke dabei die Klarheit verlor. Deshalb fuhr er in Prosa fort: Schweigen erfüllte sein Leben und nichts störte die Ruhe um ihn her, als ein beständiges dumpfes Summen und Dröhnen über ihm. Der Unterirdische setzte jedoch alle Geisteskräfte daran, den Grund des ewigen, drohenden, geheimnisvollen Dröhnens zu erforschen. Er glaubte nicht an ein Wunder; er teilte auch den Glauben von dem göttlichen Ursprung des Dröhnens nicht, wie er in überlieferten Dokumenten las, sondern forschte, erfand Meßapparate und andere Instrumente, stellte Gesetze und Regeln auf, berechnete die Stärke des Dröhnens und die Zeit, die verging, bis der Schall an sein Ohr kam und viele andere Dinge mehr, die ihn zu gigantischen Spekulationen führten. Und nach langer, langer Zeit begann er zu graben, emporzugraben, und je mehr er grub, je vernehmlicher wurde das Dröhnen, bis endlich die letzte Schicht Erde fiel und der Sohn der Finsternis geblendet in die Höhe starrte, – ins Licht! Da kehrte er zurück in seinen unterirdischen Wohnsitz und war beglückt, als er sah, daß das Licht die Ursache des Dröhnens war. Doch wie andere Dinge hätte er sehen können, wenn er noch hundert Meter höher gekrochen wäre! Wie hätte das Surren und Brausen von tausend irdischen Dampfmaschinen sein einsamkeitgewöhntes Ohr betäubt! Wie wäre er entsetzt gewesen von dem endlosen Krieg, der über ihm tobte, von den Schicksalen, die in das Stampfen der Motore verwoben waren! Dabei hatte er vielleicht nicht einmal das wirkliche Licht erblickt, sondern nur das künstliche einer Maschinenhalle.

Enttäuscht und gelangweilt legte Bojesen das beschriebene Blatt Papier in eine Schublade. Jetzt erst empfand er den nagenden Schmerz, den ihm jener Brief zugefügt hatte. Jeanettes Bild stieg herauf. Nun wußte er auch sein ruheloses Forschen zu deuten, und er blickte im Zimmer umher, als ob er sich vor den Möbeln schäme, daß er sie je getäuscht und hintergangen durch sein nächtliches Wachen. Er sah Jeanette unbeweglich stehen, wohin er auch blicken mochte, er sah sie in einem dunkelgrünen Kleid, das rote Haar gelöst, in den Augen eine schwermütige Ruhe, die er in Wirklichkeit nie bei ihr bemerkt. Er ging im Zimmer umher und dachte an nichts anderes, als wie er sie wieder gewinnen könne, und der törichteste Ausweg erschien ihm schließlich als der beste. Er schickte sich an, zu Baron Löwengard zu gehen. Sein wahnsinniges Verlangen redete ihm ein, daß Jeanettes Vater vielleicht Macht über sie besaß, oder daß es mit dessen Hilfe gelingen könne, Jeanette durch eine List zur Rückkehr zu bewegen. Er wußte kaum, was er tat.

Eine Viertelstunde später trat er ins Löwengardsche Haus. Noch immer trugen die Karyatiden geduldig die Last des Balkons, noch immer besann sich Merkur auf dem Dache, ob er fliegen solle oder nicht. Außerdem tropfte das Schneewasser von den Rinnen und Brüstungen, so daß die Riesen zu schwitzen schienen, und eine ahnungsvolle Sonne vergoldete die Fassade. Auch im Innern des Hauses hatte sich nichts verändert. Die alte Pracht bestand noch; nicht, als ob der Besitzer dieser Reichtümer kürzlich zu Fall gekommen wäre und Hunderte in Not gerissen hätte, sondern als ob irgend ein hochgeborener Gast die Ursache der vornehmen Stille sei.

Bojesen wurde angemeldet und vorgelassen. Mit zusammengepreßten Lippen stand er vor dem Kaufmann, der ihn einige Zeit unbekümmert musterte, ehe er sich entschloß, ihm einen Sitz anzubieten.

»Ich komme wegen Ihrer Tochter,« sagte Bojesen mit stockender Stimme.

Das Gesicht des Bankiers veränderte sich im Nu. Er richtete sich straff empor, schob seine Hand in die Rockbrust und sein Gesicht wurde steinern, als er antwortete: »Meine Tochter hat mit der Firma Löwengard nichts zu tun. Wenn dies also der Zweck Ihrer Anwesenheit ist, muß ich bedauern. Wenn meine Tochter in Not ist, hat die Firma keinen Grund, diesem Umstand Aufmerksamkeit zu schenken.«

»Ihre Tochter ist nicht in Not,« entgegnete Bojesen stirnrunzelnd. »Ich wollte nur fragen, ob Sie nicht Auskunft über ihren gegenwärtigen Aufenthalt wünschen oder ob Sie sie vielleicht zurückrufen wollen. In diesem Fall wäre ich bereit –«

»Verehrter Herr, ich sagte Ihnen schon, daß meine Tochter mit den Angelegenheiten der Firma nichts zu schaffen hat. Sie ist tot für das Haus Löwengard. Ich sehe deshalb keinen Anlaß, dies Gespräch fortzusetzen.«

Das war ein deutlicher Wink; aber Bojesen blieb ruhig sitzen und folgte mit finsterem Blick dem Auf- und Abgehen des Bankiers, der die Hände auf dem Rücken hielt und mit den Fingern ein Geräusch machte, wie wenn man den Pfropfen aus einer Flasche reißt. »Vatergefühle und dergleichen kennen Sie wohl nicht?« sagte er, empfand jedoch zugleich das Selbstsüchtige seiner Bitterkeit und errötete flüchtig.

»Vatergefühle setzen Tochtergefühle voraus,« erwiderte der Bankier kalt.

»Und Sohnesgefühle!« fügte Bojesen verächtlich hinzu, indem er an Gedaljas Schicksal dachte.

»Herr!« rief der Bankier, feig werdend. Seine tückischen Augen blickten unsicher nach der Türe.

Als Bojesen ging, war die Sonne im Sinken und ergoß Ströme purpurroten Lichts auf die tauenden Schneeflächen. Der Himmel, einem Teppich gleich, war mit seltsam regulären Wolkenmustern besät, und in der Tiefe des westlichen Horizonts stand ein Rest der Sonne als glühendes Segment und war bald verschwunden, eine gleichmäßig-brennende Röte hinter sich lassend. Bojesen schritt vorbei an den Schreibzimmern der Firma Löwengard, wo seit einigen Tagen wieder gearbeitet wurde, und sah durch die mit grünen Gittern versehenen Fenster. Pult an Pult, Kommis neben Kommis: bleiche, langnasige Menschen mit trüben Augen, mit Augengläsern, mit beschäftigten, sorgenvollen Mienen, freudlose Rechenmaschinen. Staub!

Die Landschaft breitete sich flach und trostlos aus, nicht anziehender geworden durch die blendenden Abendgluten. Eisenbahnremisen, ein abgebrochener Zaun, durcheinanderlaufende Schienen, rötlich schimmernd im Widerschein des westlichen Feuers, einzelne Güterwagen, eine Lokomotive, stumm und kalt, ein Lastwagen, Bahnwärter und Signalhäuschen, Telegraphenstangen, Güterhallen und weit drüben ein schüchternes Etwas von Wald, mit letztem Schnee behangen, und das erste oder vielleicht vorjährige blasse Grün einer Wiese. Und all das weckte in Bojesen auf wunderbare Art Erinnerungen an die Kindheit, ließ Bilder der Heimat in ihm wachsen, und er hatte Heimweh.

Gleichwohl sehnte er sich nach Gesellschaft, und da er nicht weit von Nieberdings Villa entfernt war, wandte er sich dorthin. Er schritt an den feuchten Hängen hin, zwischen Gesträuchern; zur Rechten war die Mauer des Kirchhofs, tief unten schimmerte das Wasser des Flusses und drüben lag das ebene Tal, das vom Horizont verschlungen wurde.

Er fand das Tor der Villa offen, schritt die Treppe hinauf und pochte, da er niemand sah, an die nächste Tür und als niemand antwortete, ging er hinein. Das Zimmer war leer: er ging weiter, öffnete eine zweite Tür und stand betroffen still.

An einem Sessel kniete, ganz zusammengeschrumpft und gekauert, Cornely Nieberding und richtete sich erst auf, als sich Bojesen verlegen räusperte. Sie warf mit einem energischen Schütteln das Haar zurück und rief angstvoll: »Was ist? Ist er tot?«

Als Bojesen sie erschreckt anstarrte, trat sie auf ihn zu, bot ihm schüchtern die Hand und flehte: »Helfen Sie mir! Seit zwei Tagen ist Eduard nicht nach Hause gekommen, hat keine Nachricht hinterlassen, keine Zeile geschrieben. Ich habe meine Leute auf die Polizei und zu allen Bekannten geschickt, helfen Sie mir!«

Bojesen sah gespannt in ihr blasses Gesicht, das unaufhörlichen Zuckungen unterworfen war und durch Schlaflosigkeit und Sorgen gealtert erschien. Als sie sich so schweigend betrachtet sah, ließ sie den Kopf sinken und ihre Ohren wurden glühend rot, während Stirn und Wangen bleich blieben.

Bojesen suchte nach Worten.

»Er ist ja mein Stiefbruder,« sagte Cornely mit einer krankhaften Versunkenheit und lächelte so schuldbewußt, daß es Bojesen wie ein Stich traf.

»Er wird zurückkehren, Fräulein,« tröstete er mit gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit. »Vielleicht beschäftigt ihn ein kleines Abenteuer.« Doch sogleich empfand er das Ungehörige seiner Worte, denn Cornely schaute ihn erschreckt und fremd an. Um den Fehler wieder gut zu machen und da ihr Schmerz etwas so Wühlendes und Gepreßtes hatte, daß er fast ungeduldig wurde, ihr beizustehen, fragte er, wodurch er ihr helfen könne.

Sie dankte ihm durch einen Händedruck und teilte ihm mit (zögernd, als ob sie durch das Versprechen des Schweigens gebunden sei), daß Nieberding seit einigen Wochen mit einem gewissen Baldewin Estrich in Nürnberg viel verkehre; es sei ihr nicht bekannt, wo der Mann wohne, aber sie träfen sich stets in dem Kaffeehaus an der Frauenkirche. Wenn Bojesen sich ihr freundlich erweisen wolle, möge er nach Nürnberg fahren und dort Erkundigungen einziehen.

Ohne viel Worte zu machen, entfernte sich Bojesen, war eine halbe Stunde darauf in Nürnberg und fragte in dem angegebenen Kaffeehaus nach Nieberding, – umsonst. Darauf nannte er den Namen Baldewin Estrich, den er von Cornely vernommen, und dieser Name war den Leuten bekannt; es wurde Umschau gehalten und man schien erstaunt, den Herrn gerade heute zu vermissen, der seit Jahr und Tag um diese Stunde hier zu finden war.

Als Bojesen durch die winklig-schiefen Gassen wieder zum Bahnhof eilte, – denn die Wohnung jenes Estrich hatte er nicht zu erfragen vermocht, – stutzte er plötzlich beim Anblick einer rasch vorübereilenden Frau, blieb dann wie angewurzelt stehen und lehnte sich an einen Laternenpfahl. Er hatte Jeanettes Züge zu erkennen geglaubt. Er war sich der Täuschung bewußt und doch zitterte er an Armen und Beinen.

Spät am Abend kam er wieder in Nieberdings Haus und erfuhr von Cornely, daß ihr Bruder gekommen sei. Sie dankte ihm mit scheuer Herzlichkeit, führte ihn aber nicht ins Zimmer und sagte, Eduard sei krank und unbegreiflich erregt.

Wieder schloß sich Bojesen tagelang mit seinen Büchern ein, brütete, grübelt, träumte; draußen herrschten Frühjahrsstürme. Es pfiff und jauchzte und heulte und wühlte um die Mauern wie bei einem Wrack, das hilflos auf Felsenboden sitzt. Es sang und brummte und brodelt in den Lüften, und der ganze Himmel mit Wolken glich einer hurtig fahrenden Maschinerie, indes der Mond in der Nacht schreckhaft und fahl von Wolkenloch zu Wolkenloch stürzte.

An einem solchen Abend ging Bojesen aus. Er fühlte sich erschüttert im Sturm und sein Herz wurde weit. Er sah Blitze leuchten im Osten und hörte den entfernten Donner eines Februargewitters. Als er in die Gegend des Marktes kam, hörte er eine Stimme hinter sich, die den Wind laut übertönte. Er glaubte diese Stimme zu kennen, verzögerte seinen Schritt und lauschte.

»No sag' selber, hab' ich geschlafen sitter ach Täg? Haste geschlossen gesehn meine Augen? Bin ich gewesen in schlechter Gesellschaft, daß se mer gemacht hat e schlechtes Gewissen? Haste schon emol son Sturmwind derlebt? Hu – uch! wirbel wirbel bl bll bll –!«

Bojesen war so entsetzt, daß er keinen Schritt mehr machen konnte.

»Holla! aach e Mann, den ich kenn!« rief Gedalja und lachte unbändig. »Komm mit, Mann, komm mitle! Ich, – ich kenn die Welt, ich kenn' se in- un auswendig kenn' ich se, oben un unten kenn' ich se, hinten un vorn kenn' ich se.«

Bojesen wich zurück und packte die Frau, die den Greis begleitete, fest beim Arm. Es war Frau Hellmut. »Ist er betrunken?« flüsterte er ihr zu.

Sie schüttelte den Kopf. »Mein Sema hat ihn gebracht, so wie er ist.«

»Und warum führen Sie ihn denn herum?«

»Er ist uns fortgerannt. He, halt! halt!« Und sie rannte dem alten Mann, in die Hände schlagend, nach, während er in der Mitte der Straße umhertanzte. Der Mond beschien ihn kalt und unheimlich. Bojesen empfand einen kühlen Schauder.

Auf einmal wurde der Greis still und ließ sich führen wie ein Kind. Bojesen ging an Frau Hellmuts Seite, die sich in seiner Gesellschaft unbehaglich fühlte und ihm zweifelnde Seitenblicke zuwarf.

»Ich kenne ihn,« sagte Bojesen. »Es erschreckt mich sehr, das alles.«

»Wer sind Sie denn?«

»Bojesen.«

»So? Der Lehrer?«

»Gewesen, ja.«

Als sie vor Frau Hellmuts Wohnung angelangt waren, ging Bojesen mit hinauf. Nach kurzer Weile kam auch Sema. Gedalja hockte auf einem Schemel, äffte den Wind und lachte.

»Jeanetterl, kumm her! kumm her, Jeanetterl! Ich muß d'r was sagn!« flüsterte er kaum hörbar. »Ich hab' d'rs ja gleich g'sagt. Geld will ich kaans. Ich pfeif d'r af dei Geld.« Plötzlich fuhr er wie toll auf und stieß Sema, der ihn beruhigen wollte, mit voller Kraft weit von sich, daß der Knabe gegen den Ofen taumelte. »Dei Geld? Na! Dei Geld? Da klebt Schweiß draa un Blut, lieber Sohn! Es rollt – tief! Komm herla, Eisenhäärla! Chomezfresserla! Chuzpeponim! Ach, was haste gemacht mit en alten Mann!«

»Warum bringen Sie ihn nicht fort?« fragte Bojesen erschüttert.

»Morgen früh kommt er in die Anstalt, Herr Bojesen.« Bei dem Namen blickte Sema hastig empor und schaute Bojesen an. Dann stand er auf, trat zu Bojesen und fragte flehend: »Wo ist Agathon?«

Bojesen war erstaunt. Er schüttelte den Kopf, nahm Semas Hand und streichelte sie. Eine Zeitlang war es still. Bojesen war versunken in den Anblick des langsam einschlummernden Greises, dessen Rücken steif an die Wand gepreßt war. Sema saß vor Gedalja auf der Erde.

Als Bojesen die finsteren Treppen hinabsteigen wollte, eilte ihm Sema nach. »Herr Bojesen,« rief er leise, »die Schüler!« In abgerissenen Worten, atemlos, von dem Bestreben beseelt, ein Unglück abzuwenden, erzählte er, daß viele Schüler der obersten Klasse morgen Nacht den Rektor überfallen wollten, wenn er vom Wirtshaus heimging; es sei eine Verschwörung, sie wollten sich auch verkleiden; einer habe einen Aufruf geschrieben, worin die Rückkehr Bojesens gefordert sei, auch hätte eine Geldsammlung stattgefunden, um Bojesen ein Ehrengeschenk überreichen zu können. Er, Sema, sei von all dem durch einen guten Freund unterrichtet und er fürchte, daß es den Schülern schlecht ergehen werde.

Bojesen sah nachdenklich ins Finstere. Er legte seine Hand beschwichtigend auf Semas Haupt, drückte ihm dann schweigend die Hand und ging, während ihm der Knabe hilflos nachschaute. Nebenan wohnte ein Firmenmaler, der in nächtlichen Mußestunden klassische Monologe einübt, und Sema hörte ihn brüllen, während er bang in die Nacht sah.

Indes wurde Bojesen nicht müde, gegen den Sturm anzukämpfen. Er ging über die Felder; die Landschaft schien zu wogen wie aufgewühlte See, der Fluß stürzte rauschend einher und war bis zum Rand angeschwollen. Bojesen empfand ein Grauen davor, heimzukehren und sann darüber nach, wo er den Rest der Nacht verbringen solle. Er kehrte um und stand alsbald unschlüssig vor dem Eingang zum siebenten Himmel. Während er noch überlegte, kam der Glühende heraus, begrüßte ihn und fragte, ob Bojesen nichts von den sonderbaren Ereignissen gehört habe, die sich heute Abend in Nürnberg abgespielt. Ein halbwahnsinniger Mensch, ein Goldmacher, habe das Volk aufgewiegelt, ein junger Mensch habe die Lorenzerkirche in Brand gesteckt und die ganze Stadt sei wie von Sinnen. Er gehe jetzt, um sich die Geschichte anzuschauen.

Bojesen vernahm das alles wie im Traum. Schließlich verging die Nacht und verbrauste mit ihrem Sturm; eine Nacht für alle und dann den Tod in den Wellen sterben, dachte er. War es nicht auch ein Traum gewesen, daß einst ein weißer Arm schmeichlerisch seinen Hals umschlungen hatte? oder war dies vor langen Jahren geschehen, in einer entlegenen Zeit der Geschichte?

Am Morgen verließ er früh das Haus. Die Straßen waren vom Sturm reingeleckt. Ob er geschlafen oder nicht geschlafen, wußte er nicht. Einem Entschluß folgend, den er schon gestern bis in die Einzelheiten gefaßt und erwogen und der ihn jetzt von selber vorwärts trieb, ging er ins Schulhaus, um die Schüler zur Vernunft zu bringen und von törichten Streichen abzuhalten, die ihm und ihnen schaden mußten. Er tat es widerwillig, denn er hatte sich gesagt: laß diese Jugend einmal sich empören.

Es schlug acht Uhr, als Bojesen die Klasse betrat. Sobald die Knaben ihn gewahrten, entstand ein feierliches Schweigen. Plötzlich kam ein junger Mensch mit offenem, liebenswürdigem Gesicht, das ein wenig an die Züge Agathons erinnerte, auf Bojesen zu und reichte ihm die Hand. Dann erhoben sich auf einmal alle in sorgloser Erregung, in mühsam verhaltenem Jubel, mit erstickten Ausrufen, stürmten auf den verstoßenen Lehrer ein, drückten und schüttelten seine Hände, sahen mit leuchtenden Augen zu ihm auf und die Boshaften, die Dummen und Launischen verloren alles, was sie abstoßend machte. Bojesen, in seiner Ergriffenheit, vermochte anfangs nicht zu reden; doch bald bemerkten sie seine Absicht und schwiegen bereitwillig still. Er sagte ihnen, was er sagen wollte: ernst, verständlich und verständig, und sie schienen beschämt. In ihren Blicken war das offene Versprechen des Gehorsams zu lesen.

In diesem Augenblick wurde die Türe aufgerissen und der Rektor trat ein. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, ging eine förmliche Versteinerung mit ihm vor. Er lallte, und seine Brille fiel von der Stirn auf die Nase. Er ließ einen eisigen Blick auf Bojesen fallen und einen finsterdrohenden auf die Schüler, die trotzig stehen blieben. Bojesen wollte nichts zu einer theatralischen Auseinandersetzung beitragen. Er fühlte sich zu froh und zu bewegt. Er entfernte sich mit einer sarkastischen Verbeugung gegen den Rektor.

Stunden vergingen für Bojesen in einer Reihe luftiger und beglückender Visionen: von einer neuen Zeit; von dem Wachsen verborgener Keime, von denen die Welt ein paradieshaftes Blühen erwarten konnte. Doch als der Abend kam, wurde es wieder dunkel in ihm. Er ging über den Kohlmarkt nach der Wohnung, die Jeanette innegehabt und die noch leer stand. Die alte Dame, die hier wohnte, ließ Bojesen ungehindert eintreten. Durch ihr Lächeln leuchtete ein menschliches Verstehen, als sie ihn allein ließ in Jeanettens Zimmer.

So blieb er, warf sich auf einen Sessel und ließ den gefürchteten Schatten kommen. Er dachte, daß er sie küssen könne, doch sie ging hastig, ohne zu sehen oder zu hören, an ihm vorbei. Dann kamen andere, – geschwätzige Gestalten. Alle hatten etwas zu erzählen, wobei sie auf den Zehen leicht dahinhuschten, sich ein Tuch umnahmen, es wieder liegen ließen und sie sahen aus, als hätten sie dreißig Tage lang unter der Erde gelegen.

Es war sehr spät, als er ging. Die Gassen waren leer und still. Er wußte nicht, wie er heim gelangte. In seiner Wohnung war alles finster. Lange stand er auf dem Korridor in quälerischem Besinnen, dann begab er sich vorsichtig und leise in das Zimmer, wo Fanny seit Wochen allein schlief, zündete eine Kerze an und setzte sich auf den Rand ihres Bettes. Er sah sie friedlich schlummern und nahm ihre rundliche Hand. Die Kerze warf tiefe Schatten auf eine Seite ihres Gesichts. Plötzlich erwachte sie. Sie fuhr jäh empor und schrie auf, streckte die Hände aus und schlug sie dann vor das Gesicht. Bojesen hielt den Blick auf die Dielen geheftet und atmete tief auf.


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