Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

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Neuntes Kapitel

Novemberstürme!

Bojesen schritt durch die leeren Gassen und der Umhang seines Mantels wehte hoch empor. Sein Hut flog vom Kopf, rollte hin über die Steine und blieb vor dem Eingang zum »siebenten Himmel« ruhig liegen, wie ein Pferd, das seine Station kennt. Bojesen hob ihn gemächlich auf und trat in das Lokal, das voll Menschen war. Er nahm Platz, bestellte Bier und wandte bald keinen Blick mehr von der Bühne. Über eine nächtige Landschaft schien ein kunstloser Mond; ein Ritter wandelte an einem primitiven Wasser und streckte bisweilen den Arm aus. Da öffneten sich die unglaubwürdigen Wolken und eine Erscheinung stand zwischen ihnen: Luisina. Der Ritter verzweifelte, diesem geliebten Bilde jemals nahe zu kommen, warf sich auf die Erde und gab vor, zu weinen. Da erhob sich ein Zauberer aus einer mangelhaften Versenkung, oder es war Satan selbst, wies ein Pergamentum vor und befahl dem Ritter, ihm seine Seele zu verschreiben. Das tat der Ritter, darauf schwebte die schöne Luisina aus den Wolken herab, die Nacht war beendet, Wasser und Mond verschwunden, Mädchen mit wilden Haaren stürzten auf die Szene und zerrten junge Männer hinter sich nach. Nun begann das Publikum mitzuspielen. Ein langhaariger Mensch saß am Klavier und entlockte dem unwilligen Instrumente eine Folge von schrillen Harpeggien im Walzertempo. Der Glühende erschien mit emporgehobenen Armen und ekstatischen Begeisterungsausbrüchen, die Köchin kam und schrie, sie könne das Wasser zum Punsch nicht kochen, denn der Wind fahre stets in den Schlot und lösche das Feuer aus. »Nimm das Feuer meiner Brust, Aglaia!« heulte der Glühende. Ein Mann mit langem Haupthaar war da, den man Barbin nannte und der sich ängstlich gebärdete, obwohl er zugleich den Übermütigen zu spielen versuchte. Sein Äußeres wie sein Wesen deuteten auf eine jener zwecklosen Existenzen, wie sie die Städte hervorbringen, eines jener unglücklichen Geschöpfe, für die die Zeit eine käufliche Dirne ist, da sie ihnen ohne Münze nichts gibt, womit sie ihr Leben verkürzen können. Dieser Barbin wandte sich bisweilen an den Glühenden, als flehe er ihn um Schutz an, und suchte dies durch ironische Worte zu bemänteln, die aber von dem tollen Jauchzen auf der Bühne verschlungen wurden.

Plötzlich sah Bojesen sich gegenüber Luisina sitzen. »Nun, da sind Sie ja wieder,« redete sie ihn spöttisch an. »Was wissen Sie Neues? Warum sind Sie so finster, nachdenklich, schwermütig? Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

»Verzeihen Sie, daß ich Frage mit Frage beantworte: warum würdigen Sie mich Ihrer Beachtung, Madame?«

»Das will ich Ihnen erklären. Mir ist, als spräche ich in Ihrer Person zur ganzen sogenannten guten Gesellschaft. Ich habe auch dazu gehört und kenne Blicke und Gesichter. Aber so war es um mich bestellt, daß ich gezwungen war, hier, wo sonst das Niedrigste und Schmutzigste zu treffen ist, mich selbst zu suchen und zu finden. Was soll ein armes Weib tun in eurem Kreis von schalen Vergnügungen, von ekeln und zehnmal wiedergekäuten Genüssen? Was soll sie tun, da sie erst anfängt, unter Menschen zu zählen, wenn sie heiratet? Was kann sie dafür, wenn sie in einer Welt lebt, wo jeder darauf stolz ist, wenn er ein wenig unglücklich ist? wo die Lebensfreude beim Verlust der bürgerlichen Ehre anfängt? Sagen Sie selbst! reden Sie doch! Ach, Sie haben ein Gesicht, dem ich eigentlich vertrauen könnte. Glauben Sie mir, nicht die Not allein ist schuld an dem Fall so vieler Frauen, sondern die Sehnsucht, ja, die Sehnsucht.«

Sie schwieg. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah lächelnd hinein in den Qualm. Der Glühende sprach nur noch in Versen, Barbin hieb wie besessen auf das Instrument ein und gab seinem Körper einen erschreckenden Ruck, wenn er vom Fortissimo in ein effektvolles Piano heruntersprang. Einige Paare tanzten, plötzlich wurden die Gaslichter zu halber Höhe herabgedreht, Barbin hörte auf zu spielen, die Tanzenden blieben stehen und flüsterten: »Die Dämonen«.

Auf der Bühne erschienen in einem matten, grünen Licht vier Männer mit grünen Gesichtern und düstergrünen Gewändern, so enganschließend, daß sie wie nackt aussahen, und begannen ein phantastisches, unheimliches Spiel. Wie Fische im Wasser, so bewegten sie sich in der Luft; ihre Füße schienen des festen Grundes nicht zu bedürfen, ihre Glieder schienen an kein anatomisches Gesetz gebunden. Bald schienen sie alle ein einziger Leib zu sein, der sich in entsetzlichen Krümmungen wand, bald war der eine einem leblosen Klumpen gleich, wurde von unsichtbaren Händen in die Luft geschleudert und fiel krachend auf die Bretter zurück. Bald waren sie wie eine Meute von Hunden, denen der Jäger aus der Ferne pfeift, bald glichen sie Würmern und krochen auf unbegreifliche Art an den Kulissen empor. Als Bojesen den Blick abwandte, sah er in geringer Entfernung, im Dämmerlicht, Luisina stehen. Sie schien ihn lange beobachtet zu haben. Nun winkte sie ihm zu und wandte sich dann nach der Türe, als sie sah, daß er ihr folgen würde. Sie hatte einen Pelzmantel umgeworfen und ein blauseidenes Tuch um den Kopf geschlungen und ihre großen Augen sahen mit einem ungewissen Glanz, doch voll Entschlossenheit in eine weite Ferne.

»Man hat mir verraten, daß Sie der Lehrer Bojesen sind,« sagte sie, als sie auf der Straße waren; »ich habe oft von Ihnen gehört, ich kenne Ihre pädagogischen Schriften und bin froh, daß meine Sympathie nicht grundlos war. Wundern Sie sich nicht über das, was ich jetzt vorhabe. Ich brauche einen Zeugen, ein Urteil, eine Stimme, einen Blick, der mich billigt, ein Ohr, das sich nicht böswillig verschließt; denn noch Einmal heute will ich tun, was mein Herz fordert, und sehen, ob ich das Tor zu eurer Welt für ewig hinter mir zuschlagen muß.«

Welch eine Nacht! dachte Bojesen. Es herrschte nicht eigentlich Dunkelheit und auch nicht Helligkeit, es war eine jener seltsamen Herbstnächte, in denen sich alles Leben der Natur verinnerlicht zu haben scheint. Es fehlten auch jene Stimmen, jenes unbestimmte Geräusch, das wie ein aufbewahrtes fernes Echo des Tages ist. Der Wind hatte sich gelegt. Der Mond, eine unvollendete Scheibe, lag in einem graugelb schimmernden Flaum von Wolken und sah verquollen aus, wie Farbe auf seinem Fliespapier. Das Leben war von den Straßen wie fortgeblasen. Die Häuser mit den dunklen Fenstern und den weißen Gardinen sahen aus, als ob sie schliefen; Bojesen konnte die Straße entlang blicken bis an die Grenzen des Horizonts, und diese unbewegte Linie hatte etwas Beruhigendes.

Luisina schritt rasch dahin, hastig atmend, offenbar noch mit ihren Entschlüssen ringend. An einem vornehmen Haus jenseits des Bahndammes machte sie endlich Halt, drückte dreimal wie in verabredeten Pausen auf den elektrischen Knopf und eilte dann die teppichbelegte Steintreppe empor. Aus einer Türe kam ein junges Mädchen, dessen Gesicht alsbald das größte Erstaunen ausdrückte. »Jeanette!« rief sie aus. »Ist Nieberding zu Hause?« fragte Jeanette-Luisina bebend. – »Nein, Eduard ist noch nicht da,« entgegnete das Mädchen bestürzt und schüchtern und blickte furchtsam auf Bojesen, der nichts zu sagen, ja nicht einmal sich zu bewegen wußte.

»Ach Cornely!« rief Jeanette und faßte mit beiden Händen nach der dargebotenen Hand des Mädchens.

»Komm doch herein, Jeanette. Willst du auf Eduard warten? Es ist alles so sonderbar, was du tust,« sagte Cornely mit einer leisen, kindlichen Stimme. Sie hatte stets ein schwaches und undeutbares Lächeln auf den Lippen; aber hätte man ein Tuch über den Mund gebreitet, so wäre ein Ausdruck von Schwermut, mehr als Schwermut geblieben. Sie machte den Eindruck eines Geschöpfs, das durch einen Zustand vollständig betäubt ist und sich nun bestrebt, die Gedanken geheim zu halten.

Bald saßen sie im Salon, bei mattem Licht, das durch gelbrote Seidenschirme schimmerte und in den Ecken zu verfließen oder zu der allgemeinen Nacht draußen zu streben schien.

Bojesen befand sich in einem Zustand fast zorniger Erwartung. Er konnte sich dem vibrierenden Wesen Jeanettes nicht entziehen. Er dachte wieder an sein eignes Weib, das, er wußte es, zu Hause in kurzen Zwischenräumen zur Treppe lief, mit der kleinen Lampe hinunterleuchtete, von jedem Schritt auf der Gasse aufgescheucht wurde wie ein Vögelchen und auf ihn wartete, wartete.

Als Jeanette den Mantel abwarf, weil es ihr zu heiß wurde, stand sie da im Theaterkostüm, sah ins Kaminfeuer und ihre Nasenflügel blähten sich gierig. Cornely stieß einen dumpfen Schrei aus und faltete die Hände.

»Wie lange willst du noch so bleiben, meine arme, kleine Cornely?« sagte Jeanette. »Soll ich recht behalten von damals her, als ich dich beim Pfänderspiel zur alten Jungfer machte?« Etwas Triumphierendes lag in ihrem Gesicht.

»Selbstüberwindung ist die größte Freiheit,« erwiderte die Bleiche mit ihrem sanften Lächeln.

Die Haustüre wurde zugeworfen, schlürfende Schritte wurden laut, und Bojesen glaubte eine wallende Erregung in Jeanette mitzufühlen. Ein junger Mann trat ins Zimmer und blieb versteinert stehen, weiß wie Leinwand. Er war schlank, groß und bartlos, hatte dicke Lippen und eine dicke Nase, tiefliegende, etwas gerötete Augen und einen eigenen Zug von Adel und Feinheit im Gesicht. Das feinste waren seine Hände, sie waren lang und zartlinig wie gotische Bögen. Cornely schlich geräuschlos davon.

»Du bist erstaunt, wie ich sehe,« flüsterte Jeanette. »Dieser Herr, Herr Bojesen, du kennst ihn vielleicht, ein Freund von mir, hatte die Güte, mich zu begleiten. Er ist von allem unterrichtet. Ich will, daß er bleibt, und ich will, daß du so bist, als ob er nicht da wäre.«

Eduard Nieberding senkte den Kopf. »Rede! Was willst du? Ich begreife nichts von alledem.«

»Wie solltest du auch begreifen!« erwiderte Jeanette leidenschaftlich. »Du, der eher begreift, was auf dem Mond vorgeht, als in der Seele einer Frau! Du! Bist du es nicht, der das erfunden hat von der keuschen Liebe? Der diese eisigen Dinge von Resignation und kühler Anbetung und von der unsinnlichen Macht des Schönen oder wie du es nennst im Munde führt! Rede du! Rede! Hast du mich nicht irre gemacht an allem, was strahlt in der Welt und was warm ist?«

»Verschone mich, Jeanette! Wie töricht von dir! Warum in der Gegenwart eines Fremden? Was tust du!«

»Ich will es dir sagen. Hier ist ein Mann. Ich glaube, Bojesen, Sie sind ein Mann. Ich frage Sie nun, – und dazu sind Sie hier, daß Sie mir auf Ihr Gewissen antworten, ich frage Sie: kann ein Mann ein Weib lieben, wenn er sie bittet, gehe fort von mir, damit meine Liebe größer und mein Gefühl reiner wird? Der sie bittet, küsse mich nicht, denn sonst begehre ich dich und das würde meine Liebe verringern –? Ich will von dir träumen, so spricht er, ich will von dir träumen, aber ich will dich nicht besitzen, denn der Besitz macht arm . . . Liebt ein solcher Mann?«

»Jeanette!«

»Was sagen Sie dazu, wenn ein Mann der Frau, die er zu lieben beteuert, den Rat gibt, einen andern Mann zu heiraten, nur damit sie ihm begehrenswerter erscheine? Reden Sie, Bojesen, reden Sie! Vielleicht finden Sie ein Wort der Erklärung oder der Entschuldigung, damit ich Ihnen danken kann.«

Eine lange Pause entstand.

»Wenn ich nun reden muß, und wenn dies alles vorgefallen ist,« sagte Bojesen langsam und betrachtete mit Trauer die schwammigen, nervösen Züge des jungen Mannes, »dann ist es gewiß erstaunlich, aber es liegt in der Zeit. Ja, es liegt in der Zeit. Mit welchem Wort Sie es nennen wollen, ist gleichgültig. Es ist all dies Mystische und Schwächliche, das über uns gekommen ist wie eine Krankheit, daß wir nicht mehr wissen, was Kraft oder Roheit oder wahrhafte Scham oder Unnatur ist. Sie sind Jude, Herr Nieberding, wie? Nun, Ihr Volk ist es, das uns dies Geschenk gemacht hat, Ihr arbeitsames, intelligentes, stets an Extremen bauendes Volk. Sie lieben nicht das Weib, sondern Sie lieben die Liebe, nicht die Selbstbetrachtung und Selbstvervollkommnung, sondern das Quälerische, Zerstörende, Erniedrigende, alles, was Sie zum Märtyrer macht. Es gibt viele von Ihrer Art. Flagellanten, unsere Flagellanten, und der Gott, vor dem sie sich geißeln, ist das wohlbekannte Ich, diese Phrase von der Individualität, vor der jetzt alles auf den Knien rutscht. Und wenn ich sage, die Juden sind schuld, so ist es keine gedankenlose Anschuldigung. Nicht jene alten Juden, die noch fromm sind, sie sind entweder ehrwürdig oder komisch; nein, die sogenannten modernen Juden, die vollgesogen sind mit dem ganzen Geist und der Überkultur des Jahrhunderts, sie sind es, die mit ihrer menschlichen Düsterkeit und geistigen Schärfe ein Pseudochristentum aufrichten mit Gefühlskasteiungen, fleckenloser Liebe und dergleichen. Ich weiß es nur zu gut, es ist ein altes Erbe Ihres Volks.«

Nieberding erhob sich zitternd, trat auf Bojesen zu und flüsterte: »Herr –!«

Bojesen hielt seinen Blick ruhig aus und schwieg.

»Ich habe ihn geliebt,« sagte Jeanette leise und sah gedankenvoll vor sich hin. »Weißt du, wozu ich nun geworden bin?« fragte sie laut und fest.

Nieberding, der jetzt am Fenster stand und unbeweglich hinaussah, wandte sich um und sagte: »Jeanette, du hast niemals eine Schätzung gehabt für das edle Gestein und für seltene Menschen. Aber daß du zu solchen Mitteln greifen mußt! Wie überflüssig und theatralisch! Seine einleuchtenden Erläuterungen mag sich dieser Herr für den Hörsaal sparen. Mag ich sein, was ich will, ein Flagellant oder ein Bacchus, damit die Ausdrucksweise des Herrn zu Ehren kommt, du hattest gegen meine Gefühle gewisse Pflichten, mehr will ich nicht sagen. Ich trinke das Leben aus den Tiefen, wo andere Leute nur Finsternis gewahren, ich finde Genüsse, wo andere nur Narrheiten sehen, – gut, laß mich so sein. Geh' jetzt fort und laß mich allein.«

Jeanette hatte kein Auge von ihm gewandt. Nun ging sie hin, legte ihren Mund auf den seinen, und so blieben sie minutenlang. »Und nun leb wohl,« sagte Jeanette, »wer weiß, wo wir uns wieder finden.«

»Im Kot oder bei den Sternen,« entgegnete Nieberding trübe lächelnd.

An der Treppe stand Cornely. »Was war es?« fragte sie hastig mit einem scheuen Seitenblick auf Bojesen.

Jeanette schüttelte den Kopf; ihre Augen standen voll Tränen, zugleich lächelte sie in einem wunderlichen, frauenhaften Trotz. »Du weißt alles, was geschehen ist, gute Cornely. Du ahnst es. Du weißt, was mein Vater getan hat, daß er zahllose Familien um ihr Brot gebracht hat. Nun sollte ich eigentlich ehrlos sein. Aber ich habe mich losgerissen von meinem Namen und von meiner Familie, und was ihr Niedrigkeit nennt, nenne ich vielleicht Ehre, und was dir Selbstüberwindung ist, ist mir Feigheit und Furcht. Gute Nacht, Liebe.«

Bojesen folgte ihr und ihm war, wie wenn er durch die Luft hinschwebte, wie wenn nichts mehr an der Erde wäre, was ihn festhalten könnte.

Es schneite. Große Flocken fielen hernieder. Ein friedliches Fallen, ein lautloses Herabgleiten schimmernder Kristalle. Plötzlich sagte Jeanette, indem sie ihre Schritte hemmte: »Wissen Sie, woran ich denke? An die grünen Dämonen vom siebenten Himmel. So ist die Welt, so sind die Menschen; ein zielloses Hin- und Hergleiten, man fürchtet, jeder könne den Hals brechen und jeder wird doch wieder durch den andern getragen und beschützt. Und dann, was ich nicht so recht ausdrücken kann: dies Spielen auf die Wirkung oder so . . .«

»Ja, eigentlich ist das ganze Leben bloß ein Symbol, und wir können nichts anderes tun, als alles, was uns zustößt, symbolisch zu betrachten. Darum sind auch die Dichter am größten, die das Leben möglichst vereinfachen.«

Wieder entstand ein Schweigen. »Ach, die Dichter,« sagte Jeanette dann nachdenklich und traurig. »Sehn Sie, ich habe so viele kennen gelernt von den berühmten, denn ich war mit meinem Vater in Berlin und mein Vater war versessen auf die berühmten Leute. Da hab ich Dichter kennen gelernt und manchen, bei dem mir vorher das Herz geklopft hat. Aber wie schrecklich bin ich immer enttäuscht worden! Ich habe mich immer gefragt: du lieber Gott, wie konnten die Leute das oder das schreiben! In den Büchern so große Gefühle, ein so kompliziertes Leben, und als Menschen genau wie andere Menschen und so leicht durchschaubar, so eitel, so abgemessen, so sparsam mit ihrem Herzen, so vorsichtig mit ihren Worten. Ehrfurcht will ich haben vor einem Dichter, ob er nun jung oder alt ist, Ehrfurcht will ich haben.«

Bojesen ging still dahin und lauschte mit glänzenden Augen.

»Sie wundern sich vielleicht über mich,« fuhr sie fort und schlug den Mantel fröstelnd zusammen. »Ich auch. Ich habe stets geglaubt, wahnsinnig zu werden bei dem Gedanken an das Gewöhnliche. Nur nicht gewöhnlich werden! nur nicht irgendwo unten stecken bleiben! Nur nicht immer Anläufe nehmen und dann beschämt zugestehen, daß man zu viel gewollt hat. Nur fort, fort, von Ziel zu Ziel, selbst um den Preis der Ruhe, der Ehre, der Gesundheit, des Lebens! Auch ich will ein Symbol sein.« Bojesen sah sie lächeln. Er fragte, ob sie nicht seinen Arm nehmen wolle und wo er sie hinführen solle.

Sie nahm den Arm. »Wohin? Ach, irgend wohin. Sagen Sie, Bojesen, sind Sie nicht ein wenig Dichter?«

»Ich? Nein, ganz und gar nicht. Ich bin ein Mann der Wissenschaft.«

»Wie pedantisch! Kann man dabei nicht auch Dichter sein? Ist nicht jeder ein Dichter, der eine Empfindung in sich zur Gestalt machen kann?«

Sie waren an einer Allee, beschneite Bäume und beschneite Wege blickten ihnen entgegen. An einem zerstörten Staket lagen Steine, Mörtelbehälter, Schaufeln, aufgeschichtete Ziegel und dahinter stand ein unfertiger Bau mit schwarzen Fensterhöhlen. Nur im Erdgeschoß brannte ein Trockenofen und düstere Röte strahlte durch die Fensterscheiben, fiel auf die blätterlosen Sträucher und Bäume bis über die Straße. Die beiden gingen an den Fenstern vorbei, schauten zufällig hinein und sahen vier Knaben um den Glühofen kauern und mit den geröteten Gesichtern emporschauen zu einem jungen Menschen, der mit dem Rücken gegen das Fenster stand und zu ihnen redete. »Agathon Geyer!« flüsterte Bojesen erschrocken und auch Jeanette war aufs höchste erstaunt. Bojesen hatte ihn sofort erkannt an Gestalt und Bewegung. Als Agathon ein wenig seitwärts trat, konnten sie beide sein Profil sehen; gedankenvoll und entschlossen sah er ins Feuer. Die Knaben schienen Agathons Worte zu trinken, und es lag etwas Gläubiges und Ergebenes in ihren Gesichtern; der Älteste, der etwa sechzehn Jahr alt war, trug die Kappe der Waisenhauszöglinge.

»Wir wollen gehen,« sagte Bojesen leise, »es ist kalt.« Jeanette riß sich los und sagte im Weitergehen langsam: »Es ist etwas Außerordentliches in ihm.«

»Sie kennen ihn?« fragte Bojesen betroffen.

Jeanette nickte. Eine Viertelstunde darauf standen sie wieder vor dem siebenten Himmel. Jeanette schaute hilflos umher und schien nachzusinnen.

In diesem Augenblick ging eine in einen dicken Pelz vermummte Gestalt vorüber. Nur die Augen waren sichtbar, die boshaft funkelnd denen Bojesens begegneten. Bojesen kannte diese Augen und wußte, was er von der Begegnung zu halten habe. Er lächelte ergeben. Sie traten ein. Barbin schlief auf dem Billard; die jungen Männer in Trikot schliefen auf dem Podium, Liebespaare saßen flüsternd oder stumpfsinnig in finstern Ecken, der Glühende allein war noch wach. Er hockte an der Rampe mit weit von sich gestreckten Beinen, die Stirn nachlässig in die gerundete Hand gestützt, den Blick mit stillem Triumph in die Ferne sendend. Eine Schnapsflasche stand vor ihm auf dem Boden.

»Was sinnst du, Liebling der Götter?« fragte Jeanette, seine Schulter leicht mit den Fingern berührend, und jener deklamierte:

»Wenn ich doch auf einem Felsen stünde,
weit im Meer,
und erlöst von meinen Träumen wär'!«

Dann zog er eine Mundharmonika aus der Tasche und begann ein Menuett zu spielen. Jeanette erhob sich, faßte den Rock mit den Fingerspitzen beider Hände und tanzte: lächelnd, berückend. Bojesen stand auf, ging hinab vom Podium in die Dämmerung des übrigen Raumes und stellte sich unter die Schläfer. In ihm erwachte eine heiße Leidenschaft und das Menuett, wie er es jetzt vernahm, fast wie hinter Mauern, hätte ihn beinahe aufschluchzen lassen. Er glaubte kaum, daß ihn mit solchen Gefühlen der Erdboden würde tragen können, so schwer war seine Seele von ihnen.

Er wandte zufällig den Kopf nach rückwärts und sah Jeanette hinter sich stehen. Sie blickte ihn verträumt und selbstvergessen an; ihre Augen waren jetzt von einem dunklen, undurchdringlichen Grün, und die roten Lippen gaben dem überaus bleichen Gesicht etwas von dem Wesen einer Fabelwelt. Langsam nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn fort, hinaus in den finstern Gang und weiter


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