Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Die strahlende Mittagssonne leuchtete, als Agathon von der Höhe herabstieg ins Dorf. Zu beiden Seiten des Wegs standen die Bäume im Schnee, spärlich behangen mit braunroten Blättern. Weithin leuchtete die Schneedecke und bisweilen lag ein dunkles, mürbes Blatt gleich einem großen Blutstropfen darauf. Als Agathon durchs Dorf ging, grüßten ihn viele Leute mit scheuem Gruß. Rasch hatte sich die Kunde verbreitet, daß Frau Jette durch seine wunderbare Berührung gesundet war, und alle suchten in seinem Gesicht, an seinem Wesen nach einem äußeren Zeichen der inneren Kraft. Er fühlte sich Herr über diese Kraft, gehoben und emporgetragen; alles was rein in ihm war, hatte sich mit diesen Gefühlen vereinigt, und alles Düstere und Kleinliche seiner Seele war abgestreift wie verbrauchtes Gewand. Er hatte ein altes Buch aufgefunden und darin die Geschichte des Sabbatai Zewi entdeckt. Mit durstigen Augen las er sie. Wie wußte er gut zu scheiden unter dem Wahren und Erlogenen, dem Phantastischen und Tiefsinnigen! Wie sah er durch die Person des falschen Propheten in die Seele der Menschen, die nicht dem beharrlichen Ernst sich beugen, nicht der beweglichen Stimme des mitleidenden Beraters, sondern dem prunk- und goldstrotzenden Worthelden, dem Halboffenbarer, dem, der mit ihrer Begeisterung spielt und dann achtlos über ihre Leichen schreitet. Aber noch fehlte all diesen Dingen der tiefere Bezug auf sein eigenes Tun, und er fand sich in der Welt mit einer Binde vor den Augen, des gütigen Lösers harrend. Es war nichts von Prophetentum oder Prophetenwollen in ihm. Das reiche innere Leben verlieh seinen Zügen etwas Leuchtendes, doch er fand sich klein neben einem geträumten Bilde von sich selbst. Mehr als sonst waren seine Nächte belebt von schwülen Bildern: nackte Frauen, die ihn neckten, die ihn zu sich zogen, ihn umarmten, ihn verlachten. Wie oft sprang er auf vom Bett und trat ans Fenster, um durch die Kälte sein Blut zur Ruhe zu bringen. Wie oft schaute er bittend in den schwarzen Nachthimmel mit den klaren Wintersternen und erwartete, daß das Gewölbe sich zu einer freundlichen Vision öffne. Dann suchte er seine Gedanken abzulenken, dachte an die große Welt und an die Buntheit der Ereignisse in ihr, die nur wie ferner Marktlärm hereinklangen in das kleine Leben, das er lebte.

Es gab zwei Wesen im Hause, die ihn oft und viel beschäftigten. Das eine war Frau Hellmut, das andere Sema. Jene hatte das Schreckhafte, das sie anfangs für ihn gehabt, verloren. Doch ihre ganze Art hatte etwas von einem Irrlicht. Ruhelos, beständig redend, beständig geschäftig ging sie umher, obwohl schon lange nichts mehr für sie zu tun war, obwohl sie nicht bezahlt wurde und auch kein Geld dazu dagewesen wäre. Bevor sie nicht zu anderen Leuten gerufen wurde, lebte sie hier billig und »ein Maul mehr macht den Tisch nicht leer«, sagte Gedalja. Oft saß sie dann wieder und sprach kein Wort; ihre Augen quollen unter den entzündeten Lidern hervor, sie lächelte in wahnsinniger Weise vor sich hin, nickte und atmete wie beglückt tief auf. Agathon pflegte sie bei solchen Gelegenheiten genau anzublicken, und es wollte ihm scheinen, als ob diese Frau einmal sehr schön gewesen wäre: vielleicht nur einen Tag lang schön, in der Seele und am Körper, um sich dann wegzuwerfen für eine vorüberrauschende Stunde. So dachte er oft über die Menschen, indem er sie in der Vergangenheit wirken, oder in einer bestimmten, von ihm selbst erfundenen Situation handeln sah.

Mit Sema wußte er nichts anzufangen. Voll ängstlicher Fürsorge achtete der Knabe auf alles, was Agathon tat, suchte ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen, schleppte einen Stuhl herbei, wenn Agathon stand, brachte ihm den Löffel, der bei der Suppe fehlte, schlich in eine Ecke, um zu weinen, wenn ihm jener etwas abschlug, und als Gedalja und Frau Jette einmal in Agathons Abwesenheit ernstlich über seinen Lebensberuf Rat hielten, hörte Sema zu und fing auf einmal an zu schluchzen. Es war mehr als eifersüchtige Verliebtheit in ihm, es war Anbetung, ein Sichverlieren und Sichauflösen, der Wunsch, nichts zu sein vor dem vergötterten Freund.

Einmal wanderten beide von der Stadt nach Hause, als sie einem der Waisenhauszöglinge begegneten, einem etwas verwachsenen Knaben mit äußerst abgehärmtem Gesicht. Er blieb eine Weile bei Sema und Agathon stehen, betrug sich aber sehr einsilbig und schrak ein paarmal grundlos zusammen. Später erzählte Sema, daß dieser Knabe oft gezüchtigt werde, weil er die Gebete nicht auswendig behalten könne; dabei erfuhr Agathon erst, daß Sema einige Wochen im Waisenhaus zugebracht habe und daß es ihm dort schlimm ergangen sei.

»Sind viele Knaben dort?« fragte Agathon.

»Vielleicht dreißig.«

»Und sehen alle so unglücklich aus wie der, den du eben gesprochen hast?«

»Fast alle.«

»Werden sie denn hart bestraft?«

»Das nicht, aber sie müssen beständig beten und beten. Im Winter sind die Zimmer kalt. Zu essen gibt es nicht viel, die Lehrer sind lieblos und das Schrecklichste ist, daß man schon um sechs Uhr früh aufstehen muß.«

Agathon schwieg lange. Dann sagte er mit vertieftem Ausdruck des Gesichts: »Man müßte mit den Knaben sprechen. Man müßte ihnen gute Bücher geben. Man müßte sie mit Hoffnung füllen. Worte sind mächtig. Man müßte ihnen beweisen, wie herrlich das Leben ist. Kennst du den Ältesten der Knaben?«

»Ja.«

»Könntest du es möglich machen, daß er und vielleicht ein zweiter in der Nacht mit uns kommen, wenn alle schlafen?«

»Ist das nicht gefährlich, Agathon?«

»Gefährlich? Gewiß. Alles ist gefährlich, wobei man sich ein bißchen opfern muß. Bei Tag werden doch wahrscheinlich die Knaben überwacht?«

»Ja, sie müssen über jede Stunde Rechenschaft ablegen.«

»Willst du mir also helfen?«

»Ja, Agathon.«

»Ich weiß ein leeres Haus am Engelhardtspark, wo seit einiger Zeit ein Trockenofen gebrannt wird. Dort wollen wir uns treffen. Du müßtest die Knaben verständigen und sie hinführen.«

»Ich tue, was du willst,« sagte Sema, beugte sich herab, suchte Agathons Hand und drückte sie an seine Wange. Agathon erschrak.

Als sie durch das Dorf gingen, sah er seinen Vater im Wirtshaus sitzen und mit Schmerz dachte er des üblen Geredes, das über den Vater an sein Ohr gedrungen war. Ja, man sprach Schlimmes über Elkan Geyer, nicht nur wegen des verhafteten Enoch, nicht nur wegen des heidnischen Agathon; Elkan mußte eine unheimliche Schuld in der Brust tragen, daß er halbe Tage lang in der Kneipe hockte, sein Geschäft vernachlässigte, der Frau alle Sorgen aufbürdete und dunkle Worte und Klagen verlauten ließ.

Zu Hause fand Agathon seine Mutter in gewaltiger Erregung. Keines Wortes mächtig, zeigte sie nach dem Garten und er ging hinaus. Auf dem Nebengrundstück befand sich die Estrichsche Ziegelei, die der neue Besitzer vergrößern ließ. Es sollten Trockenschuppen gebaut werden, die Erde wurde ausgegraben und die Arbeiter nahmen keine Rücksicht auf den Geyerschen Garten, beschädigten den Zaun und warfen Steine herüber. Frau Jette war schimpfend unter sie gefahren, wurde aber verhöhnt und nun geschah, was anfangs Achtlosigkeit gewesen, in böswilligem Trotz. Als Agathon hinaustrat, schleuderte gerade ein junger Bursche lachend einen Ziegelstein herüber. Ohne sich zu besinnen, trat er durch eine Bresche des zerbrochenen Zaunes zu dem jungen Menschen, und fragte: »Hast du eine Mutter daheim?« Das Du und Agathons fester Blick verwirrte den andern, der unter den Lärmendsten gewesen war. Er schlug die Augen nieder und sagte nichts. »Rede nur«, drängte ihn Agathon, »gib Antwort«! Der Bursche lachte und wußte nicht, wohin er den Blick wenden solle. Endlich schüttelte er in unbestimmter Weise den Kopf. »Aber wenn du eine hättest, würdest du sie beschimpfen lassen?« fragte Agathon eindringlich; »nimm mal an, du hast daheim einen Garten, und der Garten ist fast alles, was ihr habt, und es kommen Leute, die sich ein Vergnügen daraus machen, den Garten zu ruinieren, den Zaun umzureißen, die Beete mit Steinen zu bewerfen, auf denen ihr im Sommer euer Gemüs' wachsen laßt, ich glaube, du nähmst die erste beste Flinte und schössest die Kerle zu Boden. Oder nicht? Sähst du vielleicht zu und bedanktest dich? Und wenn es Juden wären, dächtest du: es sind rechtgläubige Juden, man muß kuschen –?« Der Bursche zeigte betreten die Zähne und spielte mit einigen Zweigen des verdorrten Buschwerks. Die andern hatten alles gehört und waren nach und nach still geworden. Eine Stunde später waren die Steine aus dem Garten verschwunden.

Frau Jette lehnte im Flur, als Agathon zurückkam und blickte ihn starr an. Sie standen in einer dunklen Ecke und ehe sich Agathon dessen versah, war die Mutter auf einen Holzblock gesunken und schluchzte herzbrechend. Er schwieg und blickte trüb herunter auf ihre kümmerliche Gestalt; er fühlte wohl, was sie beweinte, und daß es sich nicht auf diesen Tag und nicht allein auf die letztvergangenen Tage bezog.

Gegen Abend, bei klarem Himmel und hindämmerndem Untergangsrot der Sonne ging Agathon fort. Als er in die Nähe von Frau Olifats Haus kam, sah er Stefan Gudstikker aus der Gartentüre kommen, hastig über die Straße eilen und mit schnellen Schritten in der Richtung der Ziegelei verschwinden. Agathon stutzte, und obwohl er sonst nicht unaufgefordert zu Monika kam, entschloß er sich heute doch dazu. Er klopfte an und auf ein leises Herein öffnete er die Tür und sah sie allein im Zimmer, am Fenster sitzen. Ihre Mutter und Schwester waren wie gewöhnlich um diese Zeit in der Stadt. Monika erwiderte freundlich Agathons Gruß und drückte seine Hand.

»Ist dir's nicht recht, daß ich gekommen bin?« fragte Agathon beklommen.

»Ich? nein, ich freue mich. Ich bin froh, dich zu sehen, Agathon.«

»Wirklich?«

Monika nickte ernst, dann sah sie wieder in verlorener Träumerei auf die Felder. »Ich muß dir etwas vorlesen,« sagte sie nach einer Weile. Sie zog ein Papier aus der Tasche, entfaltete es und las:

»Wir küssen uns bei Kerzenlicht,
sonst sehn wir uns vor Tränen nicht.
Sonst ist uns gar zu still die Stund',
zu schweigsam der beklommene Mund.

Wir küssen uns in finsterer Nacht,
weil sie die Zukunft schöner macht.
Wir sehn das goldne Haus am Meer
von Schätzen voll, von Sorgen leer.

Was spricht der Vogel Zeitvorbei?
Daß alles dies vergänglich sei?
Was spricht die Mutter Zweifelschwer?
Ein Schattenbild das Haus am Meer?

Der Vogel hat die Nacht vertrieben,
die Mutter ist bei uns geblieben.
Den blassen Traum an dunkler Wand
hat sie verblasen und verbrannt.«

Es entstand eine lange Pause.

»Wie konntest du denn lesen,« fragte Agathon endlich bedrückt, »da es doch schon dunkel ist?«

»Ich kenne es auswendig,« flüsterte Monika, in sich versunken. »Es ist schön, es ist schöner als schön.«

»Aber weshalb nimmst du denn das Papier, wenn du es auswendig weißt? O wie rot wirst du, Monika! Du bist glühend rot.« Agathons Stimme zitterte. »Monika!« rief er dann.

»Was?«

»Es ist ein unwahres Gedicht. Es ist schön, aber unwahr. Alles was darin steht ist schön, und nur, weil es schön ist, stehts da, aber es ist erlogen. Ich weiß, wer es gemacht hat. Aber er ist kein wahrhaftiger Mensch. Nur ein wahrhafter Mensch kann ein Kunstwerk machen. Ich meine nicht, daß er im Leben nicht lügen darf, aber mit seiner Seele darf er nicht spielen. Er aber spielt, Monika.«

Monika hatte den Freund noch nie so erregt gesehen, und es war auch, als ob ein anderer, ein offenbarender Mund ihr das zugerufen hätte. Als er fort war, saß sie im Finstern bis ihre Mutter kam.

Agathon traf Stefan Gudstikker, wie schon einmal, unter einem Laternchen am Ziegeleigebäude stehend. Nach einigem Hin- und Herreden lud er Agathon ein, mit ihm ins Haus zu kommen. Agathon folgte ihm. Der alte Estrich, brummig und knurrig, wenn er liebenswürdig war, beinahe komisch, erfüllte das Zimmer mit dem Rauch seiner Pfeife und ging bald fort. Käthe erschien still, scheu und gedrückt. Sie hatte bisweilen ein ergebenes Lächeln für ihren Verlobten, jedes Stirnrunzeln von ihm beeinflußte sie, jedem halben Wort sann sie nach. Gudstikker strich ihr oft über die Haare; er schien sich der grenzenlosen Macht über das einfache Kind zu freuen; ja, er schien damit zu prahlen. Oft wenn sie etwas sagte, lachte Gudstikker und Agathon dachte wie in einer Erleuchtung: er hat ihr den Glauben geraubt; was hat er ihr dafür gegeben? nicht mehr als ein Stück seiner eigenen Person. Jeder Tag lehrte Agathon mit unabweisbarer Stimme das Leben wie es wirklich war, wie es nicht aus einem göttlichen Wesen floß, sondern aus dunklen, unterirdischen Quellen, vielgestaltig, mit Trübsand vermischt, nur selten Gold im Grunde führend, selten im geraden Strom, klar und kraftvoll rauschend.

Plötzlich schallte von draußen das ängstliche und fortgesetzte Miauen einer Katze herein. Alle lauschten. Gudstikker und Agathon gingen hinaus.

Der Mond stand hoch und rein am Himmel. Der Schnee blitzte und funkelte weit umher. Auf den Feldern lag der Rauhreif, schimmernd wie Silberstaub. Vor dem Tor lag ein Kätzchen in seinem Blut. Gudstikker kniete hin, streichelte das Tier zärtlich und redete ihm zu wie einem Kind. Dann gebärdete er sich wie rasend, drohte den Kerl zu erdrosseln, der diese Schandtat vollbracht und konnte sich kaum beruhigen. Agathon wollte ihn trösten, obwohl er etwas Gekünsteltes in diesem Zorn fühlte, als er einen Schatten gewahrte und Käthe neben sich sah. Sie hatte ein Tuch um den Kopf, ihre Lippen, deren Rot durch eine scharfe und runde Linie von der blassen Haut abgegrenzt war, waren ein wenig geöffnet. »Ist das Kätzchen tot?« fragte sie.

Gudstikker nickte.

»Wer hat es getan? Vielleicht der Vater, er stellt immer den Katzen nach.«

»Dein Vater, sagst du!« fuhr Gudstikker auf. »Weißt du, daß es mir jetzt zu bunt wird? Weißt dus nicht? Ja, es wird mir zu bunt. Ich hab euch auch satt, dich und deine ganze Familie.«

Wieder fühlte Agathon das Künstliche des Wutausbruches und fragte sich vergeblich nach Gründen.

»Stefan,« flüsterte Käthe und legte zitternd ihre beiden Hände um seinen Arm, »Stefan!«

Es entstand eine peinliche Pause. »Es ist kalt, Herzchen«, erwiderte Gudstikker endlich und streichelte tröstend ihre Hand. »Geh nur und leg dich schlafen. Du wirst ja krank!«

Als er heimging, hatte Agathon eine seltsame Sinnestäuschung. Aus einem dunklen Torweg trat Käthe Estrich auf ihn zu und hob flehend die Hände. Als er weiterging und sich die Erscheinung vor seinen Blicken in den Winternebel auflöste, dachte er mit hilfsbereitem Herzen an sie. Wie groß war sein Erstaunen und sein Schrecken, als er sie auf einmal wirklich sah! Raschen Schrittes kam sie und lächelte matt, als sie vor ihm stehen blieb. Sie wolle zu Stefan, sagte sie.

»Was wollen Sie denn bei ihm?«

»Ich weiß nicht. Ich will ihn nur sehen. Wenn ich noch einmal in sein Gesicht sehe, weiß ich alles.«

»Was? Was denn?« Agathon erbebte vor Mitgefühl.

»Ach, – nichts.«

In diesem Augenblick ging viel vor in Agathons Seele. Er sah dieses zarte Geschöpf vor sich, wie sie in jeder Stunde mehr hinwelkte. Er sah die kleinen, mondlichtübergossenen Häuser, die dunkle Unendlichkeit des Nachthimmels, zage Sterne, glänzende Fensterscheiben, – dies alles im Gegensatz zu der wunderlichen Unruhe der Menschen, ihrer Lust an der Lüge, ihrer Furcht vor dem Kampf, und zum erstenmal sprach heute die Natur ein unüberhörbares Wort zu ihm, und er konnte die gärende Inbrunst seiner Seele nicht mehr mißverstehen. Da stand nun dies stille, wortkarge Geschöpf vor ihm mit dem treuherzigen Blick, dem hilflosen Zucken um die Lippen und sie sah ihn ratlos an, als Agathon wie erleuchtet lächelte.

»Sie sind immer so traurig, Fräulein Käthe,« sagte er.

Sie nickte

»Sie müssen sich einmal recht von Herzen freuen.«

»Aber wie kann ich das,« erwiderte sie seufzend.

»Nur einmal, eine Stunde lang, sollen Sie froh werden! Vertrauen Sie mir!«

»Sie sind so merkwürdig, Agathon. Man muß Ihnen vertrauen, auch wenn man nicht will.«

»Und Sie wollen tun, was ich verlange?«

»Was verlangen Sie denn?«

»In unserem Hof steht ein Schlitten. Da sollen Sie sich hineinsetzen. Ich fahre Sie.«

»Jetzt? Um Gotteswillen, jetzt! Ich kann nicht. Meine Mutter läßt mich nicht fort.«

»Ihrer Mutter dürfen Sie alles gestehen, wenn wir zurückkommen. Ich ziehe meine Schlittschuhe an und wir fahren bis zum See bei Weinzierlein.«

»Bis zum See? Nein Agathon, das ist zu weit.«

»Jetzt dürfen Sie nicht kleinlich und furchtsam sein. Ich hab' auch noch ein dickeres Tuch für Sie und einen Mantel meiner Mutter.«

Käthe zögerte noch immer, aber Agathons Blick und Wesen, in dem etwas Triumphierendes und Flammendes lag, überredeten sie unwiderstehlich.

Eine Viertelstunde später flog der Schlitten auf der Landstraße dahin und Agathon auf Stahlschuhen hinterher. Rechts lag der Wald, dann lag er links; das Mondlicht wohnte in ihm, die braunen Blätter glänzten silbern, die Birkenrinde strahlte wie Gold, der Schnee lag wie ein faltenloses Gewand und der Himmel wölbte sich in mattem, kalten Licht.

»Sehen Sie die Nebelelfen?« fragte Agathon.

»Ja. Und Irrlichter zeigen den Weg.«

»Ist Ihnen warm?«

»Ja.«

»Das ist gut. Das nächste Mal nehmen wir Mirjam mit.«

»Wer ist Mirjam?«

»Meine Schwester.«

»Sonderbarer Name.«

»Er ist hebräisch und heißt: die Widerspenstige.«

»Ist sie widerspenstig?«

»Ganz und gar nicht.«

Dies wurde in vollstem Lauf, auf klirrender Schneebahn hin und hergerufen. Endlich kam der See. Zauberhaft! Glattgefroren die weite Fläche; Schimmer auf Schimmer, golden, silbern; Millionen blitzender Funken; und Agathon flog hin wie ein Pfeil!

Vom Ufer erhob sich eine Gnomenschar, lachend, echoend und tanzte mit weiten Sprüngen um das Gefährt. Käthe schlug voll Entzücken die Hände zusammen, denn die Landschaft war zum Zauberreich geworden. Man sah Lichter wie in einem Saal; bisweilen tönte es aus der Ferne wie Gesang von Mädchenstimmen, bisweilen wie Glockenklang; Ritter und Knappen und edle Damen stiegen aus der Tiefe zum Tanz gekleidet: hier war einst eine mächtige Burg versunken. Käthes Blut floß rasch und stürmisch. Sie erinnerte sich nicht, je so glücklich gewesen zu sein, sie war wie berauscht und Agathon lächelte sie an, seltsam, träumerisch. Wie ein Sturm fuhr die Sehnsucht in seine Brust, ein ganzes Land, ein ganzes Volk so zum Glücke zu verwandeln, selber hinzufliegen in freudig-schauernder Bewegung, in der Hand die flammende Fackel einer neuen Zeit . . .

Aber Käthe erinnerte daran, daß es zehn Uhr sein müsse, und der Schlitten mußte umkehren.


 << zurück weiter >>