Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

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Achtes Kapitel

Die Lehrer der Anstalt waren in dem großen, fünfeckigen Raum versammelt. Alle hatten ein feierliches Gesicht, und ihr Wesen war das von Leuten, die sich ihres Amtes und ihrer Verantwortung bewußt sind. Sie starrten Agathon an mit höhnischen oder vorwurfsvollen oder hochmütigen oder verwunderten Augen. Der jüdische Kantor zeigte eine so finstere und empörte Miene, daß man ihn nicht ansehen konnte, ohne sich als Verbrecher zu fühlen.

Der Rektor wandte sich auf seinem Drehsessel langsam um und bohrte den kalten Blick seiner tiefliegenden Augen in die Agathons. »Wie sind Sie dazu gekommen, Geyer, diesen – sagen wir impertinenten Artikel zu schreiben, dieses Pamphlet, wenn ich mich so ausdrücken darf?«

Der Kantor wollte reden, doch der Rektor winkte vornehm ab und fuhr mit erhöhter Stimme fort: »Ich frage, wie Sie dazu gekommen sind, die schuldige Ehrfurcht gegen Ihre Lehrer in so ungeheurer Weise zu verletzen? Ich glaube, meine Herren, wir haben hier einen Fall von geradezu typischer Bosheit vor uns. Dieser junge Mensch befindet sich auf der abschüssigen Bahn des Lasters. Er ist das bedauerliche Beispiel für das sittliche Niveau, auf dem unsere Jugend steht, und in einem solchen Falle muß mit aller verfügbaren Strenge vorgegangen werden; ein solcher Fall muß geradezu exemplarisch bestraft werden.«

Der Rektor hatte sich erhoben; seine schmetternde Stimme ließ den Raum erbeben; Agathon war es, als dringe sie durch Mauern, in alle Häuser der Stadt.

Wieder wollte der Kantor reden und abermals winkte ihm der Rektor zu, zu schweigen und fuhr fort: »Ich gestehe, daß mir ein ähnlicher Fall von Verworfenheit überhaupt noch nicht vorgekommen ist, und, hoffen wir zur Ehre unserer Anstalt, auch nicht mehr vorkommen wird. Geyer, wann haben Sie Ihr niedriges Skriptum verfaßt?«

»Gestern, Herr Rektor.«

»Lauter!«

Agathon schwieg.

»Lauter!«

»Gestern. Ich habe es laut gesagt, Herr Rektor.«

»In welcher Absicht?« fragte der Rektor, fast berstend vor Wut.

»In der Absicht, die Schüler glücklicher und besser zu machen.«

»Das ist eine infame Lüge!« schrie der Rektor wie außer sich.

»Es ist wahr,« erwiderte Agathon ruhig.

»Kreatur!« knirschte der Rektor, in dessen Mund das Wort eine zermalmende Bedeutung hatte.

Nun konnte sich der Kantor nicht länger bezähmen. Er trat vor, kreuzte die Arme über der Brust, beugte sich zurück und den Oberkörper beständig schaukelnd, sagte er mit scharfer, salbungsvoller Stimme: »Wer bist du? Hast du den Namen Gottes vergessen? Hast du die Ehre deines frommen Vaters vergessen? Bist du dir nicht selbst zur Last? Bist du Jude oder bist du's nicht? Ich verwerfe dich, stoße dich aus der Gemeinschaft der Guten hinaus, breche den Stab über dir.«

»Nein, ich bin kein Jude mehr,« sagte Agathon mit seltsamem Lächeln, ohne die klare Ruhe zu verlieren, die ihn bis jetzt erfüllt hatte. Die Lehrer sahen auf: bestürzt und kopfschüttelnd. Bojesens Gesicht war tief niedergebeugt. Er hatte sich gesetzt; die blassen Hände lagen regungslos auf den Knien.

»Nun haben Sie den vollgültigen Beweis seiner Bösartigkeit und Gefährlichkeit, meine Herren,« sagte der Rektor verächtlich. »Eine verstockte, gottlose, pietätlose Natur. Sie können gehen, Geyer.«

Agathon ging. Draußen überfiel ihn plötzlich große Schwäche und er sank auf die Treppe. Er hörte eine leise, aber feste Stimme in dem Raum, wo man Gericht über ihn hielt, – Bojesens Stimme. Lange redete diese Stimme, bis auf einmal der Rektor zu schreien anfing, wilder als ihn Agathon je gehört. Gleich darauf öffnete sich die Türe und Bojesen kam allein heraus. Er sah Agathon und bedeutete ihm, daß er ihm folgen möge.

Als sie im Privatzimmer des Chemikers angelangt waren, verschloß Bojesen die Türe. »Ich verstehe Ihren Antrieb,« sagte er etwas gequält, »ich kann ihn menschlich würdigen, mag er so nutzlos sein als er eben ist. Aber wie sind Sie dazu gekommen? Es gehört doch ein Entschluß dazu, die eigene Zukunft so mit Füßen zu zertreten.«

Agathon saß auf dem Rand eines Stuhls und fror. Er blickte ins Kohlenfeuer, wo sich wunderliche Ruinen türmten aus der scharlachroten Glut. Dann fing er fast willenlos an zu sprechen, nicht ohne Furcht vor den eigenen Worten: »Ich weiß eigentlich nicht. Es ist schon lange her, daß ich daran dachte. Ich meinte, viele Menschen könnten leicht zu dem gelangen, was ihnen zum Glück fehlt. Ich habe nie die jüdische Religion geliebt. Oft war mir, als müsse ich allen Juden ein Wort sagen, das sie befreien könnte. Aber das war mehr wie ein Traum, bis die Geschichte mit Sürich Sperling kam.«

»Und was war das?«

»Sürich Sperling hieß der Sebalderwirt bei uns im Dorf. Mein Vater fürchtete ihn so, daß er schon zitterte, wenn er seinen Namen hörte. Er hatte einen Schuldschein meines Vaters an sich gebracht und damit quälte er ihn. Als wir einmal bei der Überschwemmung nach Altenberg fuhren, kam er in einem anderen Boot, stieß mit Absicht an unseres und ich stürzte ins Wasser. Da dachte ich mir, es könne keine Sünde sein, ihn zu töten. Am selben Abend sah ich zu, wie er ein altes Männchen mißhandelte, da ging ich hin und spie ihm ins Gesicht. Er schleppte mich in sein Zimmer, nahm einen Strick und band mich an ein schwarzes Kreuz an der Wand und schlug mich. Alles das sag ich nur Ihnen, weil ich weiß, daß Sie verschwiegen sind.«

Agathon schlug die Hände vors Gesicht und Erich Bojesen hörte mit aufgerissenen Augen zu. Agathon fuhr fort, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. »Da sagte ich zu ihm: Sürich Sperling, das ist Ihr Tod. Da lachte er und sagte: sprich, du Aas, habt ihr nicht den Heiland gekreuzigt?

Da war mir, als ob die Tür aufginge und Lämelchen Erdmann hereinkäme, eben jener Alte, den Sürich Sperling beschimpft hatte; und es war mir, als ob er sich niedersetzte und nickte und lächelte, und es war sein Gesicht, das ich kannte und wars auch wieder nicht. O, Sürich Sperling, sagt er, das ist eine Handlung voll Bedeutung, denn von jetzt an sind die Juden frei. Nimmer die Milde wird regieren, sondern die Kraft. Wir werden hassen unsere Feinde, hassen, hassen! Der ewige Jud ist erlöst und du, Sürich Sperling, wirst werden der ewige Christ. Denn die Welt wird neu, sie wird sich häuten gleich einer Schlange, dann wirst du sein der ewige Christ und du wirst verurteilt sein all das Blut zu sühnen, das der Christ unschuldig hat fließen lassen. Plötzlich verschwand die Erscheinung, Sürich Sperling band mich los, er war totenbleich, zitternd hieß er mich gehen, und seine Augen blickten auf mich voll Angst und Entsetzen.«

Bojesen blickte durch die Fenster auf die Straße, wo die Menschen wanderten, einzeln oder zu zweien und mit Schirmen, denn es begann zu regnen. Ihm kam alles unwirklich vor; als ob das ganze Leben nur ein flüchtiges Bild sei, der Traum eines Traumes in uns selbst, wobei man nah ist, zu erwachen, es wünscht oder fürchtet. Er ging hin, nahm Agathons Kopf zwischen beide Hände, richtete ihn mit einem Ruck empor, schaute ihm in die Augen und machte die Wahrnehmung, daß es die seltsamsten Augen waren, die er je gesehen: schwarz und tief, von einem mühlos lodernden, und doch verhaltenen Feuer, voll von der Gabe der Vision. Wenn sie ihn anblickten, war es, als ob der Blick aus weiter Ferne besinnend zurückkehrte und erst lange zaudernd Klarheit und Festigkeit gewänne. Dann stand Agathon auf (er war etwas größer als Bojesen), und sein Gesicht hatte sich mit schrecklicher Blässe bedeckt. Er deutete vor sich hin, sank auf die Knie und blieb so einige Sekunden.

»Was ist? was haben Sie?« fragte Bojesen bestürzt.

Agathon schüttelte den Kopf, und sein Gesicht verzog sich wie zum Weinen.

»Und was geschah dann weiter?« fragte Bojesen flüsternd, gegen seinen Willen und seine Vernunft ergriffen von der Sonderbarkeit des jungen Menschen.

»Das kann ich jetzt nicht sagen,« erwiderte Agathon. »Sürich Sperling starb in derselben Nacht.«

»In derselben Nacht?«

»Ja. Ich lag – und lag – und wünschte den Tod in sein Herz.«

Ungläubig und staunend schaute Bojesen in das erschütterte Gesicht des Jünglings. Er schloß die Augen; ihm schwindelte. Als Agathon mit leisem Gruß das Zimmer verlassen hatte, schritt er tief erregt auf und ab.

Agathon irrte planlos durch die Gassen und als er am Löwengardschen Haus vorbeikam, sah er Flur und Vestibül voll von Menschen, die sich aufgeregt gebärdeten; auch vor dem Haus standen Leute, darunter viele Arbeiter mit drohender Miene.

Er machte sich auf den Heimweg, ohne daß er all diese Dinge eines besonderen Nachdenkens gewürdigt hätte. Sie bereicherten nur seine Seele um das wunderliche Gefühl, daß etwas Entscheidendes in der Welt vorging und daß er selbst die Ursache und berufen sei, die Umwandlung herbeizuführen. Während des ganzen Weges hatte er die bestimmte Vorempfindung von etwas Schönem und Angenehmem, und wie wenn er einen lange vermißten Freund aufsuchte, schritt er gegen das Dorf hinab. Wirklich stand Monika Olifat am Weg und begrüßte ihn, indem sie ihm beide Hände entgegenstreckte. »Wie geht es dir, Agathon? Warum bist du denn fortgerannt neulich? Du bist so eigen, Agathon. Wie das lautet: Agathon!« sagte sie nachdenklich, lächelte froh und sah ihm in die Augen.

»Es ist ein griechischer Name und bedeutet: der Gute,« entgegnete Agathon mit demselben innerlich frohen Lächeln.

»Bist du denn auch gut?«

»Ich weiß es nicht. Niemand kann es von sich wissen und wer es weiß, ist es nicht mehr.«

»Ich muß dir erzählen,« plauderte das Mädchen, »erstens, daß ich eine neue Freundin habe, Käthe Estrich. Sie ist hübsch und lieb; ihre Eltern ziehen hierher, sie haben die Ziegelei gekauft.«

»Zweitens?«

»Zweitens ist sie verlobt und ich kenne auch ihren Verlobten. Ein interessanter Mann.«

»Stefan Gudstikker?«

»Du kennst ihn? Er hat mir ein Gedicht gezeigt, das er gemacht hat. Eine Stelle weiß ich auswendig:

Es ist so still, daß alle Wandrer staunen.
Wenn solche wundervolle Nacht aufziehet,
Hört man die Wolken und die Blumen raunen.
Die Wünsche schlafen und kein Feuer glühet.
Du spürst nicht Duft von Myrten und Cypressen;
Die Welle ruht im Strom, kein Vogel fliehet.«

»Das ist schön!« rief Agathon aus, blieb stehen und erblaßte.

»Ach Agathon, ich mag dich so gern leiden,« sagte nach einer Pause Monika erglühend. »Du bist so still und fein und was du sagst, ist so warm! Ich glaube, dich könnt ich nicht weinen sehen.«

»Ich hab auch noch nie geweint,« erwiderte Agathon, den Kopf senkend.

Monika nahm seine bebende Hand und küßte sie. Dann gingen sie weiter wie zwei Schlafwandler.

Auch im Dorf sah Agathon viele erregte, finstere, zornige Gesichter. Er wurde unruhig. Als er die Schwelle des Hauses überschritt, überfiel ihn ein stechender Schrecken; er sah jene Frau im Flur stehen, die ihm einige Zeit allmorgendlich begegnet war. Da er sie fassungslos anstarrte, klärte sie ihn auf: »Ich bin die Frau Hellmut und bin zur Pflege Ihrer Mutter da, junger Herr. Sie ist sehr krank. Sei ruhig, Sema!« herrschte sie den Knaben an, der zu ihr reden wollte und schlug mit dem Knöchel eines Fingers gegen die Schläfe des Knaben, so daß dieser zu heulen anfing

Als Agathon ins Zimmer kam, fiel ihm auf, daß seine beiden Geschwister wie Wachspuppen auf der Bank saßen und sich nicht rührten. Elkan Geyer starrte mit roten Augen vor sich hin. Bisweilen erwachte er wie aus einer Betäubung und rang stumm die Hände. Enoch saß schweigend am Ofen. Agathon wollte nicht fragen. Voll Besorgnis schritt er die Stufen hinauf, die vom Wohn- ins Schlafzimmer führten und fand seine Mutter allein. Ihr Gesicht war von einem grauenhaften Gelb. Sie lächelte so matt und gezwungen, daß Agathon nach einer geflüsterten Frage, die Frau Jette nur mit einem Zudrücken ihrer Augenlider beantwortete, wieder hinausging.

Plötzlich kam Bärman Schrot mit der blauen Schürze, mit schmutzigen Händen – geradewegs von seinem Acker. Er deutete mit ängstlichen Bewegungen hinter sich: der Schuster Garneelen, sowie der Schmied folgten ihm auf dem Fuß. Sie kamen herein, der Schmied mit einem Hammer, der Schuster mit aufgestreiften Ärmeln, beide mit Gesichtern, die wie von Trunkenheit gerötet waren, und der Schmied schlug mit dem Hammer auf die Lehne eines Stuhls, daß sie krachend zerbrach. Mit schrillen Schreien flüchteten die zwei Kinder in das Zimmer der Mutter, und gleich darauf erschien Frau Jette im Bettgewand auf der Schwelle, einer Leiche gleich und mußte sich am Pfosten aufrecht halten. Der Schuster schrie, daß ihm seine Ersparnisse gestohlen seien, und er werde dafür sorgen, daß in drei Tagen kein Jud mehr lebe im Dorf, dafür werde er sorgen, man könne sich darauf verlassen. Der Schmied heulte mehr, als er redete, schlug mit dem Hammer blind um sich, wollte seine zweitausend Mark haben, oder er haue alles zusammen vom Dach bis zum Keller. Auf ein paar Jahre Zuchthaus käme es ihm nicht an, ihm nicht. So schrien sie beide. Auf der Gasse sammelten sich die Menschen, drückten die Gesichter an die Fensterscheiben, drängten sich in den Flur, standen unter der Türe, und endlich entschlossen sich ein paar ältere Männer, den zwei Wütenden zuzureden und sie langsam und durch Übermacht hinauszuschieben. Sie taten es jedoch sichtlich mit Widerwillen, nur aus Mitleid mit dem entsetzlichen Bild der Frau, die steif und regungslos an der Schwelle ihres Krankenzimmers stand, hinter sich zwei zitternde Kinder.

Als der Raum wieder leer von Menschen war, versperrte Agathon die Tür und sah seinen Vater prüfend an, der in sich zusammengesunken, mit blauen Lippen hockte und ein Gebet murmelte. Enoch Pohl sagte nichts; seine Züge waren unbewegt. Er brachte seine Tochter ins Bett zurück, puffte die Kinder die Stufen hinunter und stellte sich dann mit dem Rücken gegen den Ofen.

Es klopfte an die Türe, erst leiser, dann stärker. Agathon fragte, wer da sei; Gedalja war es. Agathon ging hinaus, schloß den Laden ab und rief der Magd zu, sie solle den Arzt zur Mutter holen. Aber die Stimme der Frau Hellmut, die sich mit der Magd eingeschlossen hatte, antwortete, sie mache nicht auf, sie könne nicht ihr Leben riskieren bei diesen Zuständen.

»Ich hab's vorausgesehen,« sagte Gedalja, beständig nickend, während er redete. »Werd ihn Gott beglücken dafor, den Herrn Baron Löwengard. Sin user fufzig Leit im Dorf, die um alles Geld kommen. Werd wachsen die Feindschaft, daß mer nit habn e friedliche Stund. Mich dauert nor sein Kind, nebbich. Is as wie e Rose zwischen die Dorner, die sticht sich stets un bleibt dennoch in ihrer Farb. Elkan, du dauerst mich aach. Hast dich abgeschunden 's ganze Leben, hast gesammelt en übrigen Heller für die Kinder un jetz is es weg. Du bist der beste Mensch, den ich kenn, aber Mark haste kaans in die Knochen. Da sitzte jetz un starrst. Zu was? Bin ich worn gestraft un hab verloren alles, was der Mensch nötig hat for sein Alter. Sitz ich da un starr? Müßt ich nit starren und erstarren, wenn mein eigen Fleisch und Blut is geworn zum Bösewicht? Ball is es aus, das Töpfche Leben, ausgeleert un ausgeschütt, nachher gitts nix mehr zum Starren.«

Am Nachmittag kam Pavlovsky der Gendarm und ein Gerichtsschreiber. Alle erschraken. »Enoch Pohl!« rief der dicke Pavlovsky und erhob die Augen nicht von dem Papier in seiner Hand. Ein Todesschweigen folgte, worauf der Gendarm einen Verhaftsbefehl wegen betrügerischen Wuchers verlas. Pavlovsky war noch nicht zu Ende, als Elkan Geyer von seinem Sitz auf die Erde sank und, wie ein Wurm sich windend, hilflos zu schluchzen begann. Agathon konnte es nicht sehen und wandte sich ab. Seine Geschwister stürzten sich über den Vater und begannen jämmerlich zu heulen; Frau Hellmut kam herein und schrie laut auf, Sema faltete stumm die Hände und seine Augen waren für einige Sekunden förmlich gebrochen. »Mutter,« murmelte Agathon verstört, als er vom Krankenzimmer her ein beängstigendes Stöhnen vernahm. Er sah hinaus auf die Gasse, wie ein gefangenes Tier in den Wald sieht; er sah den grauen, wolkenvollen Himmel und die Häuser, die unbeweglich standen und wunderte sich, daß die Welt noch dasselbe Bild der Ruhe und Herbstlichkeit bot. Pavlovsky hatte die Blicke noch nicht von seinem Dokument erhoben; der Gerichtsschreiber nahm seine große Brille ab und musterte Raum und Menschen mit großen, verwunderten, wässerigen Augen.

Gedalja, der sich so zusammengekrümmt hatte, daß sein Kinn die Knie berührte, richtete sich plötzlich straff empor und rief: »Hab ich's nicht gesehen kommen? Elkan, hab ich's nicht gesagt zum voraus? Hab ich nicht gesagt, der Zugrundrichter werd kommen über ihn? Nu is geschändet Gemeinde un Haus un Hof; un die Kinder wern habn zu tragen an deiner Guttat, Enoch. Was is Vernunft, daß se könnt bestehn vorm schlechten Gemüt? Haste abgestreift die Ehrfurcht wo d'r habn deine grauen Haare gegeben un mußt hinwandeln in Sund und Schand. O Enoch, Enoch, hättste gehabt Erbarmen mit andere, hätteste aach gehabt Erbarmen mit dir selber.«

Der Gendarm führte Enoch ab. Agathon sah, daß er keine Miene verzog. Etwas Starkes lag im Wesen dieses Alten, das die Furcht nicht kannte.

Die Dämmerung brach herein. Agathon ging auf die Straße und wollte gegen den Wald hinauf, als er Gudstikker begegnete. Dieser zog ihn in den Schein einer Hauslaterne und gab ihm einen Brief mit der stummen Aufforderung, ihn zu lesen. Agathon erbleichte und legte die Hand vor die Augen: das hatte er schon irgend einmal erlebt, daß ihm dieser Mann einen Brief gab, vielleicht in einem vergangenen Leben, vielleicht in einem Traum.

Langsam entfaltete er das vergilbte Papier und las beim Scheine des armseligen Lichtes: »Mein Liebster, das kann ich nicht, was du von mir forderst. Ich bin keine freie Frau, kein freies Mädchen. Ich bin nicht geboren, daß ich so hoch fliegen kann, bis zu dir. Aber meine Liebe ist in mir und will nicht vergessen, dich nie vergessen. Doch muß ich dich lassen, denn ich kann nicht tun, was du willst. Ich weiß nicht, welches Leben noch vor mir liegt, aber kann es nicht sein, daß das Kind, dessen Seele noch in meinem Leib schläft, mich deshalb anklagen würde? Darum leb wohl und werde glücklich. Deine Jette Pohl.«

Agathon wußte zuerst nichts anzufangen mit diesen Worten. Dann zuckte er zusammen wie unter einem Schlag und flüsterte: »Meine Mutter?«

Gudstikker nickte und erwiderte: »An meinen Vater.«

»Und warum zeigen Sie mir das!« rief Agathon voll Kummer.

»Warum? Das weiß ich selbst nicht. Vielleicht nur, um Ihnen zu zeigen, wie das Leben ist. Wie im Schauspiel geht alles. Ein Kobold hält uns an einem Faden und läßt uns genau so weit tanzen, wie er will.«

Agathon sah verloren in die breite Mauer der aufgeschichteten Ziegelsteine, die sich für seine Blicke öffnete wie ein Sesam und ihn Jahre und Jahrzehnte zurückschauen ließ. Das war seine Mutter! Und wozu hatte sie das Leben gemacht! Hatte seine Mutter das empfinden können? Und wo war es nun hingeschwunden, das alles, wohin? Er begriff es nicht.

»Ich weiß, was Sie denken,« sagte Gudstikker und fuhr mit seiner Lust an Weisheiten fort: »Es gibt nur zwei Wege für einen Menschen, – auf den Berg oder ins Tal. Droben ist er allein und vergeht, wenn ihn seine Seele im Stich läßt, unten wird er gemein. Doch reden wir von etwas anderem. Wissen Sie, daß das Gericht noch immer Nachforschungen hält wegen des plötzlichen Todes von Zürich Sperling? Eine Zeitlang glaubte man an Vergiftung. Sogar Ihr Vater kam in vorübergehenden Verdacht. Ein gewisser Rosenau hat den Untersuchungsrichter darauf geführt.«

»Was –?« schrie Agathon und schlug die Hände zusammen.

»Ihr Vater ist sogar einvernommen worden. Wiesen Sie das nicht? Natürlich konnte er sich glänzend rechtfertigen, aber irgendwer sagte mir gestern, daß er seitdem von Furcht gepeinigt würde. Er ängstigt sich vor allen Gedanken, die er früher einmal gegen Sürich Sperling hatte.«

»Mein Vater? Das sagen Sie wirklich? Und das ist wahr?«

»Ob es wahr ist, weiß ich nicht. Ich glaube, derselbe Rosenau erzählte es spöttisch im Wirtshaus.«

»Nein, nein, es ist nicht möglich.«

»Weshalb regen Sie sich auf? Ich habe einen ziemlich sonderbaren Fall erlebt. In einer Familie kam ein Ring abhanden. Ich kenne die Familie, es sind Juden. Ein Verwandter, den ich auch kenne, Eduard Nieberding, war zu Gast. Als nun alle den Ring suchten, wurde Nieberding wie gelähmt. Denn er war vorher allein in dem Zimmer gewesen, wo der Ring aufbewahrt war. Beachten Sie wohl, es konnte nicht der Schatten eines Verdachtes auf ihn fallen, er ist selbst ein reicher Mann, aber er beteiligte sich nicht am Suchen, damit man nicht glaube, er suche nur deshalb, um zu zeigen, daß er den Ring nicht habe. Er wähnte sich beargwohnt, und er bildete sich schließlich so fest ein, jeder vermute ihn als den Dieb, daß er fürchtete, man könne den Ring in seiner Tasche finden, wenn man nur hineingreife. Schließlich ergab es sich, daß die Katze den Ring fortgeschleppt hatte. Aber Sie sehen daraus, wie verwickelt alles ist. Unsere Seele, sie glaubt oft nicht, was die Hand tut.«

Als Agathon sich von Gudstikker verabschiedet hatte und dem Haus zuschritt, sah er auf einmal Sema Hellmut neben sich gehen. Er sah des Knaben fragende Augen mit einem Blick voll Ergebenheit und Hingabe auf sich gerichtet.

Agathon wunderte sich über das bedürftige Anschmiegen des Knaben. Aber er dachte daran nur halb. Der andere Teil seines Nachdenkens war der Ringgeschichte gewidmet, seinem Vater, seiner Mutter, dem Schicksal, das über ihm hing wie die Wolken und alles dunkel machte, gleichwie die sich mehrende Finsternis des Abends von den Wolken auszufließen schien.

Daheim fand Agathon eine friedlichere Stimmung. Müßig wandelte er in den Garten. Ein kalter, feuchter Wind ging. Er hörte es rascheln wie vom Graben eines Spatens. Plötzlich sah er seinen Vater schaufeln. Elkan keuchte und grub ruhelos, bald hier, bald dort, – ein Schatzgräber. Es war unheimlich anzusehen. »Was tust du, Vater?« fragte Agathon.

Elkan ließ den Spaten sinken, stützte sich darauf und Agathon sah trotz der Dunkelheit sein fahles Gesicht leuchten. »Agathon, Gott hat seine Hand abgezogen von uns und sein Antlitz verhüllt. Aber wir dürfen nicht murren. Gepriesen seist du, Ewiger, der du des Vergessenen gedenkst.« Elkan betete ein Lobgebet.

»Vater,« sagte Agathon, »ich darf nicht mehr in die Schule. Ich bin davongejagt worden, obwohl ich nichts Schlechtes getan habe.«

Elkan Geyer warf den Spaten weg und lehnte sich an den Zaun. Nach einem langen Schweigen tappte er ins Haus. Agathon blieb, nahm die Mütze ab und gab das Haar den Winden preis. Die Nacht öffnete ihm ihre dunklen Wunder, unvorhanden für andachtlose Augen. Er glaubte in einem Tempel zu sein, doch erkannte er den Gott nicht.

Gegen acht Uhr kam Doktor Schreigemut und sein Gesicht war sorgenvoller als sonst. Agathon sah die Augen Semas beständig auf sich gerichtet; sie folgten jeder seiner Bewegungen.

»Gepriesen seist du Ewiger, der du des Vergessenen gedenkst,« murmele Elkan.

»Die Welt ist gar groß und hat viele Sterne und viele Erden, Elkan,« sagte Gedalja. »Worum soll er nit vergessen an den Gedalja, nit vergessen an den Elkan? Elkan is brav, aber worum soll er nit vergessen an die Braven, wenn er hat so viel zu bessern an die Sünder? Wenn de tot bist, waaßt de nix dervon und in deiner Sterbestund kannst de dir ausdenken, du hättst gelebt e großes Leben, e reiches Leben un nit e Elkanleben. Gehängt is gehängt, mit'n Strick oder mit'n Goldfaden hat mei seliger Onkel g'sagt. E weiser Mann.«

Agathon schlief nicht in der Nacht. Seine Seele war heiter, und erregt sah er in die Finsternis. Er hatte ein Gefühl, wie oft, wenn er ein Geschenk erwarten durfte und ungeduldig war, es zu sehen. Die Nacht war unbewegt, nur selten gestört durch das Heulen eines Hundes. Als es drei Uhr schlug, kam der Mond und warf ruhige Lichtflecke in den Raum. Mit diesen Strahlen wurden die Figuren in Agathons Sinnen lebendiger und verklärter. Sie brachten ihm Reichtümer, von denen er nicht begriff, daß er sie je hatte entbehren können, er fühlte sich wachsen und es war, als hörte er einen Ruf über die Felder hinschallen, der ihm galt: lang und eindringlich.

Am folgenden Vormittag brachte der Pedell Dunkelschott ein Schreiben des Rektorats und des Kantors der Schule für Elkan Geyer. Er verlangte den Weglohn und trollte ins nächste Wirtshaus. Elkan setzte sich an den Tisch und las. Kaum war er damit zu Ende, als er aufschrie wie ein Gefolterter. Gedalja ging zu ihm, aber Elkan ließ sich nicht halten, sein Gesicht wurde blaurot, er fiel über Agathon her, preßte die Hände um seinen Hals und hätte ihn erdrosselt, wenn nicht ein furchtbarer Angstruf aus dem Krankenzimmer ihn zur Besinnung gebracht hätte. »Aus meinem Haus, du Christ!« röchelte er und stieg schwankend die Stufen zum Schlafgemach hinauf.

Gedalja strich langsam und nachdenklich über Agathons Haar. »Was haste getan?« murmelte er. »Der sanfte Mann, der sanfte Elkan is geworden e wildes Tier. Die Welt is nimmer ganz. Es is was los in der Welt un mer stehn da wie die hilflosen Kinder.« Er nickte; Agathon lehnte die Stirn an seine Schulter.

»Zum Doktor! Zum Doktor!« kreischte plötzlich die Pflegerin und rannte fort. Elkan stand gebrochen auf der Schwelle und sagte: »Sie stirbt. Schemaa Jisroel adonai elohim adonai echot.«

Agathon richtete sich auf. Sein bleiches Gesicht war plötzlich von einem überirdischen Feuer erfüllt, das alle mit Bestürzung und Scheu gewahrten. Die heulenden Kinder sahen ihn an und waren auf einmal ruhig. Er ging ins Zimmer der Mutter, an Elkan vorbei, der sich zusammenduckte wie vor einem Pestkranken, und trat an das Lager der Mutter. Sie röchelte. Ihre Augen blickten matt, leblos, stumpf, suchten gleichsam den Tod. Agathon sah nicht dies Bild. Er sah die jüngere Mutter, die entsagt hatte, geliebt, verloren hatte und nun unter der schweren Bürde der Tage erlegen war. Er nahm ihre Hand und begegnete ihren Augen. Er legte seine Hand auf ihre verfallene Brust, gegen die das Herz verlöschend klopfte. Er wünschte, das Fenster möge offen sein und da öffnete es jemand, als ob es eine unsichtbare Hand wäre. Seine Brust war zum Springen voll, er wußte nicht ob vor Schmerz oder vor verhaltenem Jauchzen. »Werde gesund, Mutter, wache, Mutter, du bist nicht krank, du darfst nicht sterben.« Er kannte seine Stimme nicht mehr, sie war ihm etwas Neues; die Kraft, die seinen Körper aufatmen und sich aufrichten ließ, als wäre eine unerhörte Last von ihm genommen, erhellte seine Augen mit einem himmlischen Glanz. Und das Feuer schien in den Körper der Kranken überzuströmen; sie lächelte plötzlich unter seiner bebenden Hand, sie seufzte erleichtert auf, sie drückte mit den schwachen, fleischlosen Fingern seine Hand und rief seinen Namen. Und je länger er die erloschenen Züge ansah, je mehr belebten sie sich in einer geheimnisvollen Weise, – bis sie frei, mild und hoffnungsvoll schienen. Und als der Arzt kam, hereingeleitet von der Pflegerin, richtete sich Frau Jette zu dessen Erstaunen empor, legte den Kopf auf den aufgestützten Arm und lächelte dem Doktor und ihren Kindern mit dem inbrünstig strahlenden Lächeln einer Genesenden zu.


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