Jakob Wassermann
Die Juden von Zirndorf
Jakob Wassermann

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Drittes Kapitel

Niemals sinkt der Abend so still herab, als wenn die Kirchenglocken läuten; Nebel fällt wie ein Gespinst über die Dächer, gleitet an den Häuserwänden herab, umhüllt flatternd die Laternen, liegt unbeweglich still in den Gärten und gibt ihnen das Ansehen eines Sees. Die Schritte scheinen leiser zu werden wie auf Teppichen.

Agathon stand auf dem nassen Pflaster und schaute in eine glänzend erleuchtete Etage hinauf. Er dachte etwas verwundert nach über die Pracht und den Reichtum dieses Judenhauses, ging dann weiter und begegnete den Juden, die, aus dem Abendgottesdienst kommend, laut feilschten und handelten. Als er sie sah, fühlte Agathon, daß die Judenreligion etwas Totes sei, etwas nicht mehr zu Erweckendes, Steinernes, Gespensterhaftes. Er wandte seine Augen ab von den häßlichen Gesichtern voll Schachereifers und Glaubensheuchelei.

Die Kirchweihbuden füllten die Königstraße bis zur protestantischen Kirche hinauf. Die Ausrufer der Schaubuden schrien sich heiser und verdrehten den Körper, als ob sie Leibschmerzen hätten; mit gesträubten Haaren schrien sie die Vorzüge ihrer Sehenswürdigkeiten aus. Wirr und schrill klangen die Orgeln, Pfeifen und Trompeten und das Gebrüll der Tiere drang aus der Menagerie. Trompeten, Pfeifen und Ratschen erschallten, ein wüstes Summen, Surren und Johlen. Kinder mit vor Neugier bleichen Gesichtern machten sich keuchend Bahn. In den Wirtschaften gröhlten die Zecher. Aus den engen Gäßchen zog der übelriechende Rauch der Heringsbratereien. An der Glückshalle stand Kopf an Kopf eine bewegungslose Menge. Daneben lief ein großes Karussel auf Schienen; es wurde durch einen sinnreichen Mechanismus in rasende Schnelligkeit versetzt. Man sah dann nur schattenhafte Gestalten, verzerrte Gesichter und bacchantische Schreie. Unter den Leinwanddecken des Zeltes brannten Pechfackeln; es sah aus wie ein ungeheures, von schwarzem, schwälendem Rauch durchzogenes Feuerloch.

Agathon schob sich durch die Massen, während seine Seele warm und gerührt wurde. Ein beglücktes Heimatsgefühl erfaßte ihn; er hatte freudige Augen für das, was rings geschah und sah die vielen Gegenstände, die allenthalben zur Schau geboten wurden, mit zärtlichen Blicken an. Er blieb vor dem Kasperltheater stehen und schaute zu; ein alter Arbeiter mit grauem Lockenhaar stand neben ihm und wollte schier sterben vor Lachen. Die Kirchenglocke begann wieder zu läuten. Bestürzt blickte Agathon am Turm empor.

Der Ausrufer des Wachsfigurenkabinetts strengte sich mehr an, als seine Kameraden. »Hier kann man sehen die Passion Christi, unseres Heilands, in siebzehn Stationen, – großartig, meine Damen und Herren, großartig!« schrie er, heiser vor Begeisterung.

Wie von einer Faust gestoßen, bestieg Agathon das Podium, zahlte zwanzig Pfennige, das einzige Geldstück, das er besaß, und verschwand hastig hinter dem braunen Vorhang.

Tiefaufatmend stand er in der dumpfen Luft des Innenraumes. Nur eine Bauernfamilie ging mit scheuen Schritten umher. Gegen eine scharlachrote Wand hoben sich die Gruppen der Leidensstationen ab. Das gleichmäßige und beruhigende Licht milderte das Starre der Wachsgebilde. Es war etwas Erhabenes und Heiliges über den Gestalten, ferne Zeiten stiegen langsam herauf, und es war, als ob die Schicksalsgöttin selbst träumend die Augen aufschlüge. Das ist also der Heiland, dachte Agathon befremdet, als er vor dem Bild der Kreuzabnahme stand. Er preßte die Hände zusammen und dachte nach. Freunde und Eltern kamen wie eine Reihe vorbereiteter Wandelfiguren an ihm vorbei und die toten Gebilde vor ihm wurden mitlebendig. Er lächelte traurig und begriff, daß er um etwas betrogen worden war, ohne daß er es hatte hindern können.

Draußen war der Nebel dichter geworden. Agathon ließ sich stoßen und schieben, bis er in dunkle, unbelebte Gassen kam. Er ging eiliger und seine Gedanken wurden quälender. Unversehens stand er vor der Claußschule, wo sich nur die frömmsten der Juden zum Abendgebet versammelten. Ein Lächeln, dessen Bedeutung er selbst nicht begriff, glitt über seine Züge, und er trat in das düstere und niedrige Gemach. Der Vorbeter an seinem kleinen Pult lallte mit zitterigem Stimmchen das Schlußgebet. Nachdenklich blickte Agathon in die verbissenen, steinernen Gesichter, die voll waren von einer jahrhundertalten Grausamkeit, voll Haß, Erbitterung und zelotischem Glaubenseifer. Zum erstenmal in seinem Leben wurde ihm klar, daß Jude sein eine Ausnahme sein heiße; zum erstenmal hörte er die hebräischen Formeln mit Unsicherheit und Groll und er glaubte sich in einer verderblichen Abgeschiedenheit, wo Verschwörungen gestiftet werden.

Als er auf die Straße trat, prallte er erschrocken zurück. Jener städtisch gekleidete Mensch, der in Sürich Sperlings Boot gesessen war, stand dicht vor ihm und schaute angestrengt gegen ein erleuchtetes Fenster hinauf. Die Gasse war sehr eng, daher mußte er den Kopf weit zurückbiegen. Indem er noch seitwärts gegen die Mauer schritt, stieß er plötzlich an den regungslos dastehenden Agathon, bat um Verzeihung und griff geschmeidig an den Hutrand.

»Ach, Sie sind der junge Mann von gestern,« sagte er überrascht. »Sind Sie nicht gestern bei der Kahnpartie –« Er schmunzelte und die schwarzen Augen hinter den Gläsern leuchteten flüchtig, fast drohend auf. »Haben Sie vielleicht ein Streichholz bei sich?«

In diesem Augenblick kam ein Arbeiter mit brennender Zigarre aus dem Tor. Der Schwarzbärtige bat ihn mit etwas übertriebener Höflichkeit um Feuer, dann ging er an Agathons Seite weiter. »Was meinen Sie denn zu der geheimnisvollen Geschichte da mit dem Mord?« sagte er, den Rauch mit geblähten Nasenflügeln in die nebelerfüllte Luft blasend.

»Ich weiß nicht.«

»Es interessiert Sie wohl gar nicht? Im übrigen, es ist ganz und gar Legende. Es ist durch nichts erwiesen, daß ein Mord vorliegt. Die Gerichtskommission hat alle Türen, alle Fenster versperrt und keinerlei Verdachtsmerkmale gefunden. Das einzige, was zu denken gab, war ein unerklärlicher roter Fleck auf der Brust des Leichnams und dann der jähe Tod selbst.«

»Ein roter Fleck?« hauchte Agathon; sein Hals schnürte sich wie unter einer Faust zusammen.

»Ja, aber lassen wir das. Ich liebe nicht derlei krasse Furchtbarkeiten. Wohin gehen Sie?«

»Zu Löwengards.«

»Baron Löwengard? Was wollen Sie denn dort?«

»Ich esse dort zu abend,« erwiderte Agathon. »Dienstag und Freitag übernacht' ich auch dort, weil Mittwoch und Samstag die Schule schon um sieben beginnt.«

»Die Genauigkeit Ihrer Auskunft läßt nichts zu wünschen übrig. Das alles dürfen Sie? Sogar übernachten? Sagen Sie mal, – Ihre Eltern sind wohl sehr arm?«

»Ja.«

»Wie alt sind Sie denn? Achtzehn?«

»Siebzehn.«

»Na, um so besser. So kennen wir uns also. Ich heiße Gudstikker. Rufname: Stefan. Geboren zwölften Mai achtzehnhundertsechzig. Verrichtung unbekannt. Aber nun erzählen Sie einmal, was hat eigentlich Sürich Sperling gestern mit Ihnen angestellt? Er nahm Sie unter den Arm und ging mit Ihnen ins Haus. Sie rührten sich nicht. Andere hätten gezappelt wie ein Fisch, aber Sie waren bloß stumm wie ein Fisch. Ich habe alles gesehen vom oberen Stock. Ich wohnte ja im Sebalderhaus.«

Agathon blieb stehen und lehnte sich schweigend an einen Laternenpfahl.

»Reden Sie doch,« fuhr Gudstikker fort und stellte den Kragen seines Mantels in die Höhe. »Ich kenne den Sürich Sperling schon lange. Er war kein gewöhnliches Exemplar der Spezies Mensch. Er konnte lumpen durch sieben Nächte, ohne Schlaf zu suchen. Wenn er müde wurde, setzte er sich in einen Stuhl, schloß für zwanzig Minuten die Augen und wußte von sich und der Welt nichts mehr. Erhob er sich wieder, so war er frisch wie vor den sieben Tagen. Einmal, als er melancholisch war, ging er auf den Speicher und zertrümmerte mit der nackten Faust Kisten und Kasten und Bretter. Seinen Hund schlug er halbtot, wenn er unfolgsam war, und danach konnte er sich hinsetzen und heulen wie ein kleines Mädchen. Bis vor sechs Jahren hatte er überhaupt keine Frau berührt und als er die erste nahm, wäre das arme Weib ihm fast in den Armen gestorben. Das war ein Mensch!«

Es entstand ein langes Schweigen. Agathon wurde durch das ganze Wesen Gudstikkers verwundet. Seine Geschwätzigkeit beunruhigte und jede Geste erschreckte ihn.

»Wie heißen Sie denn eigentlich?« fragte Gudstikker.

»Agathon. Agathon Geyer.«

»A – ga – thon –?«

»Ja.«

»Seltsam. Wie kommen Sie zu dem Namen. Agathon . . . So hieß mein Vater.« Wieder eine Pause. Dann wurde Gudstikkers Stimme gütig. »Sie gefallen mir,« sagte er. »Ich weiß kaum warum, aber vielleicht steckt etwas in Ihnen, was mir imponiert. Bei euch Juden gibt es manchmal Individuen von wunderlicher Kraft. Besonders in Ihrem Alter. Daran mag es liegen. Wenn sie so jung sind, ist ihre Seele von unbeschmutztem Feuer erfüllt. Sie sind starke Träumer, möchten die Welt aus den Angeln heben und wissen doch nichts von der Welt. Wenn sie es nur wüßten! Gehen Sie hin, Agathon, wecken Sie Ihr Volk auf. Sagen Sie, wach auf mein Volk, wie der Prophet in der Wüste. Na gleichviel, was scheren mich denn die Propheten. Glauben Sie, daß es heut Nacht regnen wird?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht schneit es. Vielleicht auch nicht.«

»Ah, Sie sind boshaft. Na gleichviel. Ich muß Ihnen sagen, es ist nicht Neugierde, wenn ich Sie vorhin fragte, was Sürich Sperling mit Ihnen gemacht hat. Auch nicht Teilnahme. Nun, werden Sie nur nicht wieder ungeduldig. Stellen Sie sich die ganze Situation vor. Später kommt Sürich in mein Zimmer, bleich, erregt, und redet von gleichgültigen Sachen. Er spricht von der Ziegelei, die der Vater meiner Braut jetzt gekauft, und plötzlich legt er sich auf mein Bett und verstummt.«

»Verstummt?« fragte Agathon mechanisch.

»Verstummt. Nach fünf Minuten stand er auf, ging vors Haus und dort saß er dann wieder zwei geschlagene Stunden, ohne sich zu rühren. Um neun Uhr ging der Schmied heim und rief ihn an. Wer aber nicht antwortete, war Sürich. Und wer um zehn Uhr in sein Zimmer stolperte, ohne sich um die Wirtschaft zu kümmern, war Sürich. Nun, am Morgen war er tot. Es wäre immerhin interessant, die Ursache zu erfahren. Vielleicht hat er selbst – nun, nun, was gibt's?«

Agathon hatte mit den Händen Gudstikkers Arm umklammert und schwankte, als ob er zu Boden sinken wolle. Gudstikker schüttelte den Kopf und warf den Zigarettenstumpf weit über die Gasse. Agathon blickte ihn gespannt an beim matten Schein des Straßenlichts, als ob er sein Gesicht nie wieder vergessen wollte und ging dann weg, ohne ein Wort zu sagen, dem Löwengardschen Palast an der nächsten Ecke zu. Scheu betrat er das breite, lichtgebadete, mit Teppichen belegte Vestibül. Der Plafond und die Wände waren von Künstlerhand mit Darstellungen aus der antiken Mythologie geschmückt. Vor ihm stand wie eine lebende Gestalt Kassandra, den Arm gegen das brennende Troja erhoben. Sie war fast nackt, die Brüste waren geschwellt von Haß. Stets mußte Agathon die Augen vor dem Bild niederschlagen. Die dem Juden angeborene Scham vor dem Nackten ging bei ihm bis zu physischem Schmerz. Auch wurden seine Sinne erregt, wenn er in der Nacht sich des Bildes erinnerte.

Stefan Gudstikker wandte sich gegen den Lilienplatz, lauschte mit gesenktem Kopf auf das Stimmengewirr aus den Gasthäusern, das mit dem Wimmern der Geigen und dem Fistelgesang der Harfendamen vermischt war. Schweigend zogen Musikanten an ihm vorbei und der Älteste zählte die Tageseinnahme. Gudstikker sah das alles mit den Augen des Beobachters, der sich freut, daß ihm nichts von den kleinsten Dingen des Lebens entgeht und den die Gewohnheit des Scharfsehens dazu verführt hat, den vielgestaltigen Bau der Welt mit Sprüchen der Weisheit zu beleuchten.

Der kalte Glanz des Mondes brach hervor. Gudstikker ging am Rand der Anlage auf und ab und spähte gegen die Straßenflüchte. Die Turmuhren schlugen acht, kreischend fielen die Rolläden herab, die kleinen Ladnerinnen eilten von dannen, und die Kontoristen drehten die gesunkenen Schnurrbartspitzen wieder empor.

Endlich kam Käthe Estrich. Mit schwachem Lächeln hing sie sich an den Arm ihres Verlobten. »Ich mußte mich fortstehlen,« sagte sie, »der Vater hat geschimpft über dich. Er nannte dich Müßiggänger. Sie plagen mich mit dir und quälen mich. Bist du bös? Nicht bös sein! Ich hab' ja nur dich, nur dich allein.«

»Ich bin nicht bös, aber du darfst nicht so dumm reden. Wie geht's dir?«

»Schlecht.«

»Warst du beim Arzt?«

»Nein.«

»Nein! – Wenn dein Herr Vater sich besser um dich gekümmert hätte, das wäre eine größere Heldentat, als meine Lebensführung zu kritisieren.«

»Ach, Stefan, ich möchte sterben, – mit dir.«

»Sterben! ja, wenn sonst nichts wäre, als sterben. Das bleibt einem jeden. Es ist das Sicherste und soll das letzte sein.

»Du bist so kalt!« flüstere Käthe und schauerte zusammen, als ob diese Kälte sie frösteln mache. »Ich muß wieder heim,« fuhr sie mit derselben leisen Stimme fort; »ich wollte dich nur sehen.« Gudstikker mußte sie fast tragen. Als sie am Ziel waren, küßte er sie flüchtig auf die Wange und ging.

Unter dem Portal des jüdischen Waisenhauses, wo er vorbeikam, stand ein Knabe und blickte mit ängstlichen Augen in das erleuchtete Treppenhaus. »Wie heißt du?« fragte Gudstikker und beugte sich herab zu dem Kind, das seine Finger in den Mund steckte und verlegen zu Boden sah. »Wie heißt du?« wiederholte er streng.

»Weiß nicht.«

»Wem gehörst du denn?«

»Weiß nicht.«

»Wo ist denn deine Mutter?«

»Tot.«

»Und dein Vater?«

»Auch tot,« sagte der Knabe, drückte sich scheu an ihn und fragte bang: »Bist du der Herr Jesus?«

Da erschallte ein herzzerreißendes Schreien im Innern des Waisenhauses. »Hörst? Hörst?« machte der Knabe und begann leise zu schluchzen.

Gudstikker nahm das Kind bei der Hand und stieg mit ihm die Treppen hinan.


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