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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Die gestörte Versammlung

»Das ist das Ende,« sagte der kleine Mann mit dem grauen Haar, »heute morgen haben sie das Haus des ›grauen Bocks‹ durchsucht, Shadd Bates haben sie gefangen, und Pitt ist gerade noch zur rechten Zeit entwischt. Die Polizei will uns ausheben, und es sieht so aus, als ob sie Erfolg habe.«

Der Mann am anderen Ende des Tisches trommelte mit seinen langen, hageren Fingern auf den Tisch.

»Glaubst du das wirklich, Coke?«

»Ja,« sagte der und fuhr mit der Hand über seinen glatt rasierten Kopf.

»Du meinst, sie versuchen uns auszuheben?« fragte der ›Würger‹.«

»Aber sie haben doch Erfolg. Ich wüßte nicht, wie du es anders nennen willst?«

»Nerven, nur Nerven, Coke. Sie jagen die Hühner, und die Hühner fangen an zu laufen. Wunderst du dich darüber, daß die Polizei ihnen folgt? Wenn du dich fürchtest und es zeigst, wird dich der erste beste Polizist am Kragen haben, bevor du überhaupt daran denkst.«

»Irgendwer hat uns verraten,« sagte ein Mann mit einer tiefen Stimme, »das ist es, was ich denke; jemand hat uns richtig verpfiffen.«

Dieser Mann trug auch eine Maske, eigentlich nur einen Streifen schwarzen Tuches über die Augen.

»Overbury!« sagte der »Würger« wie jemand, der einen Menschen an der Stimme erkennt.

»Ja, ›Overbury!‹ Und ich fürchte mich nicht, es auch allen zu sagen,« rief der andere. Damit warf er die Maske fort und blickte kriegerisch die Versammlung an. »Noch mehr,« fuhr er langsam fort, »ich muß etwas zur Sprache bringen. Es sind hier einige unter uns, die ihren Anführer nicht kennen. Wir haben zum Beispiel niemals dein Gesicht gesehen.« Sein kurzer, dicker Zeigefinger wies anklagend auf den Mann am Ende des Tisches. »Auch das Gesicht deiner Freunde haben wir noch nicht gesehen.« Er starrte drohend auf die übrigen sechs Mann.

»Wißt ihr, was das bedeutet?« fügte er hinzu.

»Nein,« sagte der Mann am Kopfe des Tisches. Er sprach mit einer gezwungenen, hohen und schrillen Stimme, die einem auf die Nerven ging. »Nein, das weiß ich nicht. Ich würde gern deine Ansicht über die Angelegenheit hören. Wenn sie auch sonst weiter keinen Wert hat, so würde sie doch zeigen, was du denkst. Fahre fort, Overbury, wir hören alle zu!«

Overbury sagte: »Es ist dies: Du kennst jeden einzelnen von uns und weißt, wo unser Unterschlupf ist und was wir tun. Aber nicht ein einziger von uns weiß, wer du bist. Wer von uns hat jemals dein Gesicht gesehen?«

»Vielleicht darf ich dich daran erinnern, daß der tote Bill Scarfe es gesehen hat.«

»Ja, und wie ging es ihm? Er starb.«

»Dann ist es wohl am besten, über diese Angelegenheit nicht zu sprechen.«

»Von deinem Standpunkte aus vielleicht. Aber ich bin noch nicht fertig. Hier sind auch noch andere, die wir nicht kennen. Einige deiner Freunde, die du hier eingeführt hast. Wir würden sie nicht einmal auf der Straße wiedererkennen.«

»Sehr interessant,« knurrte der »Würger«, »nur ein wenig verwickelt. Aber sage doch deutlicher, was du meinst!«

»Wenn einmal etwas schief geht, werden wir gefaßt, und du entwischst.«

»Warum?«

»Uns kennt die Polizei, und dich nicht!«

»Welche Gründe hast du dafür?«

»Ist es denn nicht wahr?«

»Kaum,« kam es zögernd von seinen Lippen, »soviel ich weiß, hat die Polizei eine ziemlich genaue Ahnung, wer ich bin, und sie kennt mindestens zwei meiner Freunde.«

Ein Staunen ging durch die Versammlung, und Overburys Gesicht wurde um einen Schatten blasser: »Das wußte ich nicht.«

»Und du hast dir auch nicht die Mühe gegeben, es herauszufinden. Du glaubst, wenn Du uns veranlassen könntest, die Masken abzunehmen, dann könntest du, wenn die Dinge schief gehen, uns verraten und selbst straflos ausgehen.«

»Dich verraten?« fragte Overbury bestürzt. Der Mann mit der Maske nickte.

»Weißt du nicht, daß die Polizei auf mich – tot oder lebendig – eine Belohnung von fünfhundert Pfund ausgesetzt hat und dem Mann, der ihnen Mitteilungen macht, die zu meiner Ergreifung führen, Pardon gewährt? Hier ist für jemand eine gute Gelegenheit, leicht Geld zu verdienen. Hat einer von euch Lust dazu?«

Eine Zeitlang sprach niemand. Dann schaute endlich der kleine Coke am anderen Ende des Tisches auf.

»Wir sind hier keine Spitzel,« sagte er mit einer gezwungenen Festigkeit in der Stimme.

»Das freut mich zu hören. Aber nachdem ich euch schon soviel erzählt habe, ist es vielleicht besser, wenn ich euch noch einiges sage. Zunächst einmal, die Polizei hat eine Liste von uns – alle unsere Namen und Adressen.«

»Woher hat sie die?« fragte Overbury ängstlich.

»Darüber kann ich nichts sagen. Jedenfalls haben sie die Liste, das ist vorläufig genug.«

»Alle unsere Namen und Adressen? Heißt das, auch deine?« beharrte der kleine Coke.

Der Mann mit der Maske schüttelte langsam seinen Kopf, und in seinen Augen tauchte ein leises Lächeln auf.

»Wenn ich sagte ›alle‹, so habe ich leicht übertrieben, natürlich unabsichtlich. Einige von uns sind nicht darin eingeschlossen,« verbesserte er sich.

»Das heißt also,« sagte Overbury drohend, »wenn die Polizei eine Razzia machen sollte, wird sie uns fangen, und du und deine besonderen Freunde werden entwischen.«

»Und wenn ihr vorsichtig sein werdet, werden sie euch auch nicht fangen.«

»Wieso nicht?«

»Nun, das Beste für euch alle ist, daß ihr euch aus dem Staube macht. Geht zurück in eure Schlupfwinkel! Sie haben es ja nicht auf euch abgesehen. Mich und noch einen oder zwei andere wollen sie haben. Solange ihr die Aufmerksamkeit der Polizei nicht auf euch lenkt, wird sie euch in Ruhe lassen. Seht euch den ›grauen Bock‹ an. Sie kennen ihn ganz genau, hin und wieder durchsuchen sie sein Haus, aber habt ihr jemals gesehen, daß er mit einem Polizisten Arm in Arm fortgegangen wäre? Niemals! Und warum nicht? Ich will es euch sagen: Wenn ihr den Honig wegstellt, kommen die Fliegen nicht. Das ist die Sache!«

»Du meinst also, das beste für uns sei, daß wir auseinandergehen,« sagte Coke, als der Gedanke langsam in sein Gehirn eingedrungen war.

»Zerstreut euch! Verschwindet! Verkriecht euch! Glücklicherweise brauche ich euch für eine Weile nicht.«

»Und was wollt ihr machen?« Overbury stellte die Frage.

Die Augen des Mannes mit der Maske blitzten. »Hast du schon gehört, was den Affen tötet?« fragte er.

Da keiner etwas erwiderte, antwortete er sich selbst: »Neugierde tötet ihn. Und sie kann auch noch andere Tiere töten!«

Overbury sprang auf. Auf dem Flur erklang das Geräusch herbeieilender Schritte. Jemand klopfte an die Tür.

»Öffnet – im Namen des Königs!« befahl eine Stimme, und alle Augen wandten sich erschreckt zur Tür.

»Öffnet selbst!« rief der »Würger« mit seiner hellen, schrillen Stimme.

Auf ein Zeichen von ihm standen die Männer auf, schoben den Tisch zur Seite und öffneten eine Falltür.

»Macht, daß ihr fortkommt, so schnell ihr könnt! Macht kein Geräusch!« flüsterte der Mann mit der Maske schnell.

Die Männer draußen begannen, gegen die Tür zu schlagen. Sie ächzte und krachte unter den schweren Schlägen. Splitter flogen davon. Plötzlich gab die Tür nach, die Flügel flogen nach innen, und ein Haufen Polizisten stürzte ins Zimmer.

Es entstand eine kurze Pause. Dann hob der Mann mit der Maske seinen Arm, und etwas funkelte im Licht.

Er feuerte –. Die einzige elektrische Birne ging in Scherben, und der Raum war vollkommen dunkel.

Im nächsten Augenblick herrschte undurchdringliches Chaos, aber sofort durchblitzten die Strahlen elektrischer Taschenlampen die Dunkelheit, und die Polizei konnte sich auf die dunkle Masse stürzen, die nach der Falltür drängte.

Einer fiel über den anderen, jeder schlug und stieß um sich, scharfe Schüsse fielen. Ein Polizist rang mit seinem Gegner, als er plötzlich zwei starke Hände an seiner Kehle fühlte, sein Angstschrei erstarb, leblos sank der Körper zu Boden.

Sein Mörder warf einen schnellen Blick um sich und erkannte, daß es in der Dunkelheit unmöglich sei, einen vom andern genau zu unterscheiden. Er beugte sich über den leblosen Körper des Polizisten. Da schien der Kampf aufzuhören. Die Lichtkegel der Lampen wanderten in eine Ecke des Raumes.

Ein kräftiger Polizist drängte sich durch die Kämpfenden. »Ich habe eine elektrische Birne,« rief er.

Er stieg auf einen Stuhl und schraubte die Birne in die Fassung. Im gleichen Augenblick war der Raum vom Licht durchflutet.

Der Inspektor, der die Aktion leitete, schaute schnell um sich. Mehrere Mitglieder der Bande waren von seinen Leuten zu Gefangenen gemacht worden, und das Loch unter der Falltür war leer. Er stieg einige Stufen hinunter, dann kam er zurück.

»Dort unten ist noch eine Tür,« sagte er, »sie ist verschlossen und verrammelt, wir müssen sie aufbrechen. Haben wir Verluste, Leute?«

Seine Augen schweiften suchend durch den Raum und blieben in einer entfernten Ecke haften. Er wandte erschrocken seinen Kopf.

»Wer ist das?« fragte er und deutete auf den am Boden liegenden Körper.

»Penn,« antwortete einer der Leute, nachdem er in das dunkelrote Gesicht gesehen hatte.

»Wirklich? Wo sind denn sein Rock und Helm? Sie sind verschwunden!«

Niemand konnte es sagen. Und auch eine Durchsuchung des Raumes war ergebnislos.

Der Inspektor verließ schnell das Zimmer und ging nach draußen.

»Ist hier jemand hinausgegangen?« fragte er den Posten der Kette, die das Haus umzingelt hatte.

Der andere schüttelte den Kopf. »Niemand außer dem Mann, den Sie nach Scotland Yard geschickt haben.«

»Ich habe keinen nach Scotland Yard geschickt!« rief der Inspektor. »Warum ließen Sie ihn durch?!«

»Ich konnte ihn nicht aufhalten; ich hatte keinen Befehl, unsere eigenen Leute anzuhalten.«

»Du Esel,« rief der Inspektor wütend, »es war keiner von uns! Wissen Sie, wen Sie durch die Finger haben schlüpfen lassen?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Den ›Würger‹ selbst!«


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