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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Freundschaftliche Unterredung

Donald McNab blickte auf die Karte in seiner Hand und dann auf seinen Besucher.

»Es tut mir leid, ich kenne Sie nicht,« sagte er höflich.

»Es würde Ihnen noch mehr leid tun, wenn Sie mich kennten,« erwiderte Emmerson leicht, »aber Ihre Unkenntnis ist etwas, dem wir schnell abhelfen können. Zunächst sehen Sie, daß ich Sie kenne, und zwar – sehr gut.«

Er nahm die Karte, die McNab hingelegt hatte; mit der Feder in der Hand lächelte er den Geldverleiher über den Tisch hinweg an. »Ich werde nur zwei kleine Wörter hinzusetzen. Aber das wird für Ihr teures Leben von großer Bedeutung sein.«

Er schrieb und schob die Karte über den Tisch McNab zu. Das Gesicht McNabs wurde um einen Schein blasser; denn unter den Worten »George Emmerson« stand nun »Scotland Yard«.

»W – was wollen Sie von mir?« stotterte er.

»Eine Menge, vielleicht möchten Sie mir einmal Ihre Lebensgeschichte erzählen. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie in mir einen aufmerksamen und teilnahmsvollen Zuhörer finden werden.«

»Wenn Sie nicht in geschäftlichen Angelegenheiten gekommen sind, habe ich für Sie keine Zeit,« sagte McNab, nachdem er sich erholt hatte und sein Mut wieder zurückgekehrt war.

»Mir geht es gerade so. Heute ist auch mein schwerer Tag. Bereiten Sie sich vielleicht schon auf die Nacht vor?«

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Donald McNab grob.

»Dann will ich es Ihnen deutlicher sagen. Haben Sie in letzter Zeit so in den ›kleinen Morgenstunden‹ einige Veranstaltungen gehabt? ›Kleine Morgenstunden,‹ das ist schottisch. Ich glaube aber nicht, daß Sie das kennen werden, obgleich Sie den schottischen Namen McNab führen.«

»Meine Vorfahren waren in Glasgow bekannt und geachtet. Ich stamme aus einem alten, angesehenen Geschlecht,« sagte der Geldverleiher förmlich.

»Ich glaube das, soweit es sich auf ›alt‹ bezieht,« gab Emmerson lächelnd zu, »aber ich möchte gern wissen, was das Geschäft macht.«

»Das Geld ist knapp,« sagte der andere sorgenvoll, als er auf sein Lieblingsthema kam, »außerdem mache ich mit Polizeibeamten keine Geschäfte.«

»Das ist auch ganz richtig so! Aber, wenn Sie nicht aufpassen, werden sie vielleicht mit Ihnen ein Geschäft machen. Ich glaube, daß man Sie fassen wird, weil Sie ohne Erlaubnis oder Lizenz, oder was man dazu haben muß, ein Sanatorium oder so etwas ähnliches eröffnet haben.«

»Ich habe niemals in meinem Leben ein Sanatorium gehabt.«

»Spielen Sie mit mir doch nicht Versteck, Donald, und geben Sie es nur zu! Was war denn mit der kranken jungen Dame, die Sie ungefähr eine Woche bei sich hatten?«

»Ganz offen, Mr. Emmerson, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen,« entgegnete McNab, doch aus seinen Augen blickte die Furcht, »ich kann Ihnen versichern, ich habe während meines ganzen Lebens niemals eine kranke junge Dame in meinem Hause gehabt.«

»Nun, vielleicht war sie gar nicht krank,« gab Emmerson großmütig zu, »oder vielleicht hat eine Person, die Ihnen nicht wohl wollte, das verbreitet, um Ihnen Unannehmlichkeiten zu machen. Meinen Sie, daß das möglich ist?«

»Vielleicht. Manche Leute scheinen eine sonderbare Vorstellung von meinem Beruf zu haben,« gab er eifrig zu.

»So! Was macht denn das Dienstmädchenproblem?«

»Ich bin mit meinen Dienstboten zufrieden.«

»Das glaube ich. Ich meine aber die Dienstboten anderer Leute. Sie sollten das eigentlich wissen. Sie sehen doch sehr viele in dem kleinen Büro, das Sie haben, nicht wahr?«

»Mr. Emmerson, irgend jemand verbreitet über mich Lügen,« sagte McNab mit gequälter Stimme.

»Nein, das sind keine Lügen. Die Stellenvermittlung ist allem Anschein nach doch sehr einträglich. Obgleich ich den Namen, den Sie dort führen, nicht kenne, ahne ich ihn doch. ›J. Green‹ ist zwar nicht sehr anziehend, aber Sie sind es ja auch nicht. Wir kommen jedoch von unserem Thema ab. Da Sie es bestreiten, wollen wir annehmen, daß die Dame nicht krank war.«

»Wie Sie nur auf diesen Gedanken gekommen sind,« sagte McNab verzweifelt, »ich kann Ihnen nur immer wieder versichern, daß ich in meinem ganzen Leben keine junge Dame in meinem Hause gehabt habe. Ich bin Junggeselle.«

»Sie hatten doch eine junge Dame in Ihrem Hause, Miß Forrest nämlich,« sagte Emmerson und beobachtete, wie der andere erblaßte.

»Ich schwöre –« begann McNab, als Emmerson ihn unterbrach.

»Schwören Sie nicht, Donald! Hat der Mann, der Miß Forrest befreit hat, Ihre Kinnlade sehr verletzt?«

»Was Sie mir da erzählen, Mr. Emmerson, ist mir vollkommen unverständlich,« sagte McNab mit einem Anflug von Würde.

»Glauben Sie tatsächlich, daß ich Ihnen das glaube, Mr. Donald McNab, Noah Baxeter, Abraham Moß?«

Der Geldverleiher starrte ihn mit offenem Munde an, dann glitt er in seinen Stuhl.

Emmerson schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich weiß nicht, woher das kommt,« murmelte er, »ob es mein Gesicht ist, oder was es ist: In letzter Zeit gewöhnen die Leute sich an, in meiner Gegenwart in Ohnmacht zu fallen.«

Er stand auf und ging zu dem Bewußtlosen. Schnell durchsuchte er McNabs Taschen, entnahm ihnen einige Briefe und Papiere und steckte sie in seine eigene Tasche. Als er das getan hatte, holte er ein Glas Wasser und benetzte die Stirn des Geldverleihers.

Plötzlich öffnete McNab die Augen.

Emmerson sagte: »Es ist wieder alles in Ordnung, Donald. Sie sind noch nicht gestorben. Nur die Guten sterben jung.«

»Was ist passiert?« murmelte McNab.

»Wahrscheinlich das schlechte Gewissen, Donald.«

McNab lehnte sich in seinen Stuhl zurück, er sah bleich, erschüttert und krank aus.

»Ich habe ein schwaches Herz, Mr. Emmerson.«

»Ein Grund mehr für Sie, ein ehrliches und rechtschaffenes Leben zu führen. Sie wissen nicht, wann Sie einmal ins Gras beißen müssen,« sagte Emmerson. Es war nicht das geringste Mitleid in seiner Stimme, und McNab krümmte sich bei den harten, kalten, sachlichen Worten.

Er hob sein furchtverzerrtes Gesicht, von dem alle Spuren von Mut verschwunden waren. Die Säcke unter seinen Augen, die tiefen Linien um seinen Mund traten noch schärfer hervor. Aber seine nächsten Worte zeigten, daß er entschlossen war, dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen.

»Ich möchte nur den Geldschrank abschließen, dann komme ich freiwillig mit,« sagte er.

Emmerson schüttelte den Kopf. »Nein, mein Lieber, ich habe nicht die geringste Absicht, Sie zu verhaften. Ich bin nur hergekommen, um mich mit Ihnen zu unterhalten und Sie daran zu erinnern, daß ich genug von Ihnen weiß, um Sie ins Gefängnis zu schicken, sobald es mir gefällt. Die Flucht des Conway Wallack war übrigens prächtig arrangiert.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen,« sagte Donald McNab mit einem fast unmerklichem Stocken seines Atems.

Emmersons Augen leuchteten; denn sein Gegenüber hatte mit keinem Wort geleugnet, daß er Conway Wallack kenne.

»Es war alles gut verabredet, und mancher ist wohl auch bestochen worden. Tatsächlich, Donald, der ›Würger‹ ist sehr klug und versteht gut zu organisieren.«

McNab grinste schwach: »Es scheint nicht viel zu geben, was Sie nicht wissen, Mr. Emmerson.«

»Jawohl, ich bin nahezu allwissend.«

Er ging zur Tür, dann hielt er an und sagte über die Schulter: »Ich möchte Ihnen den Rat geben, nicht zu oft zweifelhafte Besucher zu empfangen. Es bringt Ihr Haus in schlechten Ruf!«

Noch ehe der erstaunte McNab ihn fragen konnte, was er damit sagen wolle, war Emmerson gegangen.

Er war jedoch kaum einige Minuten fort, als ein anderer Besucher bei McNab eintrat.

»Nun, McNab, haben Sie die Liste für mich besorgt?« fragte er.

Donald McNab erschrak; denn obgleich das Gesicht ihm unbekannt war, war es die Stimme Conway Wallacks.

»Ja, Mr. Wallack –,« begann er, als der andere ihn kurz mit einer Geste unterbrach.

»Das ist nicht mehr mein Name. Nennen Sie mich Harley Briggs!«

»Mr. Briggs,« sagte McNab neugierig, während seine Stimme um eine Oktave fiel, »was haben Sie mit Ihrem Gesicht gemacht?«

»Augenbrauen rasiert und mein Gesicht hier und da kräftig massiert. Es verändert das ganze Aussehen, nicht wahr?«

McNab nickte. »Tatsächlich,« stimmte er zu, dann fragte er: »Wissen Sie, wer kurz vor Ihnen hier war?«

»Emmerson,« antwortete der andere prompt. Als er die Überraschung in McNabs Gesicht sah, erklärte er:

»Ich habe solange gewartet, bis er herauskam. Ich sah Ihn nämlich hineingehen.«

Es entstand eine Pause. Dann fragte er: »Was wollte er hier, Donald?«

»Erkundigungen einziehen. Aber er hat nicht viel erfahren. Er versuchte, über Ihre Flucht zu sprechen.«

»Darüber ist eigentlich gar nichts zu erzählen,« lachte Wallack höhnisch, »die Hauptsache war die Organisation. Jeder kannte seine Aufgabe und führte sie durch, bevor die Zuschauer überhaupt merkten, was gespielt wurde. Ich habe mir gleich gedacht, daß Emmerson es durchschauen würde. Ich glaube, er ist selber ein halber Verbrecher.«

»Verbrecher?« rief McNab neugierig aus.

»Ganz recht! Ich kann mir gut vorstellen, daß es ihm nicht gefallen würde, wenn seine Vorgesetzten nur die Hälfte der Dinge wüßten, die er begeht.«

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß er der ›Würger‹ selbst ist?« sagte Donald ängstlich, als er schnell den Gedanken aufgriff.

»Wer ist der ›Würger‹?« entgegnete der andere, »wissen Sie zum Beispiel, wer der ›Würger‹ ist?«

McNab kniff die Augen zusammen. »Nein, ich weiß es nicht,« gab er offen zu, »obgleich ich vielmehr mit ihm zu tun habe als alle die anderen.«

Wallack lächelte seltsam. »Dann kann also auch Emmerson der Mann sein, trotz allem, was Sie wissen oder dagegen sagen können. Es wäre sogar möglich, daß ich selbst der ›Würger‹ wäre. Nicht wahr?«

McNab antwortete nicht. Er saß da und starrte wie hypnotisiert auf den anderen. Wallacks hageres Gesicht bewegte sich auf ihn zu, bis es wie das Haupt einer Schlange aussah, die sich auf ihr Opfer stürzen will, seine scharfen Augen starrten in das Gesicht McNabs.

»Das einzige, was Sie genau wissen, ist, daß Sie selbst nicht der ›Würger‹ sind.«

»Ich dachte – vielmehr ich hörte,« verbesserte sich McNab hastig, »daß Emmerson verschiedene Verbrechertests bei Ihnen anwandte und darnach erklärte, daß Sie nicht der ›Würger‹ seien.«

»Das ist möglich, daß Sie das hörten,« sagte Wallack beherrscht, »doch solche Tests sind nicht unfehlbar. Außerdem hat George Emmerson vielleicht auch seine guten Gründe gehabt, den Verdacht von mir abzulenken. Ist es Ihnen niemals aufgefallen, daß er von unserm Handwerk eine Menge versteht?«

»Allerdings.«

»Ziehen Sie daraus Ihre eigenen Schlüsse!« sagte Mr. Briggs mit einer Handbewegung. »Nun, bitte, die Liste!«

McNab ging an den Geldschrank und schloß ein Fach auf. Daraus nahm er einen Umschlag und übergab ihn Wallack.

»Ich habe allen Nachricht gegeben,« sagte er, als der andere den Umschlag einsteckte. Aber er sagte nicht, was Wallack gern gewußt hätte, nämlich, daß er für seinen eigenen Gebrauch eine zweite Liste angefertigt hatte. Ein kluger Mann läßt niemals eine Gelegenheit ungenützt vorbeigehen, und es erschien McNab ganz nützlich, eine Liste der wichtigsten Mitglieder der Bande zu haben, sie konnte ihm später vielleicht einmal von Nutzen sein. Wenn die Liste auch keinen Geldwert hatte, vielleicht konnte sie ihm doch – wenn es einmal schief gehen sollte – seine eigene Straflosigkeit sichern.

Als er an das Papier dachte, daß in seiner Tasche steckte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Erst spät abends, als McNab in seinem Arbeitszimmer die Taschen leerte, entdeckte er den Verlust des wertvollen Dokumentes. Er war sich aber nicht ganz sicher, ob er es nicht etwa nur verlegt habe.


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