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Drittes Kapitel.
Der Mann hinter dem Vorhang

Zwischen den Briefen, die Camden Hale ungefähr eine Woche später erhielt, war einer in einem kleinen, grauen Umschlag. Die Adresse war in Schulschrift, ohne alle charakteristischen Merkmale, geschrieben. Der Brief lag zu unterst, und Hale las ihn erst, als er sein Frühstück schon halb beendet hatte.

Er las den Brief mit steigender Verwunderung, gegen Ende des Briefes verwandelte sich diese in Schrecken. Seine Jugendsünde war genau mit Namen und Daten geschildert. Der Brief drohte mit der Enthüllung des Geheimnisses und war einfach J. Green unterzeichnet.

Hale saß einen Augenblick wie versteinert, der Angstschweiß trat ihm in kleinen Perlen auf die Stirn. Schließlich erhob er sich wankend, warf den Brief in den leeren Kamin, zündete den Briefbogen an und beobachtete, wie er langsam verglomm.

Als seine Frau etwas später herunterkam, saß er am Tisch und spielte gedankenlos mit den Krümeln auf seinem Frühstückstisch, seine Augen waren voll Angst. Sie starrte ihn überrascht an. »Fühlst du dich nicht wohl, Liebling?« fragte sie ängstlich.

»Ich hatte wieder einen meiner Anfälle,« stotterte Hale und legte die Hand aufs Herz.

Sie sah ihn forschend an. »Vielleicht tätest du besser, zu Hause zu bleiben. Ich werde nach dem Arzt schicken,« schlug sie besorgt vor. »Ich hatte zwar die Absicht, heute abend zu meiner Mutter zu fahren, aber ich möchte nicht gern eine Woche lang fort sein, wenn du ernstlich krank bist.«

»Ich fühle mich schon besser, Mary,« sagte er, schwach lächelnd, »verdirb dir meinetwegen nicht deine Reise! Sollte ich mich im Laufe des Tages nicht wohler fühlen, werde ich zum Arzt gehen.«

»Versprich mir, daß du auf dem Wege ins Büro ihn aufsuchen wirst,« bat sie, und nach kurzem Zögern versprach er es. Er tat es jedoch nicht; denn seinen Fall konnte kein Arzt heilen. Er fuhr direkt ins Büro. Kaum war er eine halbe Stunde dort, als das Telefon läutete.

Die Stimme, die sprach, war außerordentlich deutlich, obgleich während des Gesprächs ein seltsames Geräusch zu hören war. Es klang wie das Rauschen von Blättern.

»Hier spricht J. Green,« sagte die Stimme, »ist dort Mr. Hale? Mr. Camden Hale?«

»J–ja.« Die Antwort schien sich von den trockenen Lippen des Mannes zu ringen.

»Ich hoffe, Sie erhielten heute morgen meinen Brief. Ja? Und was gedenken Sie zu tun?«

»Was könnte ich denn tun?«

»So ist es recht! Es hat keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken. Sagen wir, tausend Pfund. Das wird genügen, um mich alles vergessen zu machen.«

»Wollen Sie mich arm machen?«

»Haben Sie schon darüber nachgedacht, was die Öffentlichkeit dazu sagen würde? Man würde Sie nicht bloß arm machen, sondern ins Gefängnis stecken. Sie würden alles, was Ihnen lieb ist, verlieren. Was würde zum Beispiel Ihre Frau sagen, wenn sie erführe, daß Sie ein Bigamist sind? Aber ich will es Ihnen nicht zu schwer machen. Sagen wir tausend Pfund in zwei Raten. Zunächst heute abend fünfhundert als Anzahlung.«

»Ich weiß nicht, woher ich das Geld in der kurzen Zeit nehmen soll. Es würde mir große Schwierigkeiten bereiten, ich müßte was versetzen oder ein Darlehn aufnehmen.«

»Zu unangenehm!« Die Stimme des Fremden hatte einen weichen, freundlichen Klang. Dem Lauschenden kam es vor, als ob sein Bedränger nachgebe. Dieser Gedanke gab ihm Mut.

»Ich versichere Ihnen,« sagte er mit neuer Hoffnung und überzeugender Stimme, »daß ich das Geld nicht sofort flüssig machen kann, ohne mich in eine sehr schwierige Lage zu bringen.«

Der Mann am anderen Ende des Drahtes lachte vor sich hin. »Sie sind ein großer Lügner, Hale. Ich kenne Ihr Einkommen und kann auch Ihre Ausgaben ziemlich genau schätzen. Ich weiß bestimmt, daß Sie in diesem Augenblick, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Scheck über tausend Pfund ausschreiben können. Also, mein lieber Freund, tausend Pfund ist mein Preis.«

»Aber –« Hale wollte protestieren, doch der andere unterbrach ihn.

»Besorgen Sie sich heute abend das Geld,« sagte er bestimmt, »in Einpfundnoten, sie dürfen nicht in Serien sein, beachten Sie das! Wie Sie sie bekommen, überlasse ich Ihnen. Schnüren Sie sie in ein kleines, nettes Bündel zusammen, und legen Sie es in die Halle, wenn Sie heute abend schlafen gehen. Falls Sie in den frühen Morgenstunden ein Geräusch hören sollten, rühren Sie sich nicht! Sollten Sie es doch tun, könnte es für Sie sehr unangenehm werden. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, ich verstehe,« sagte Hale heiser.

»Also gut,« fuhr die Stimme fort, »daß Sie aber keinen Irrtum begehen, es würde Ihnen sehr schlecht bekommen!«

Camden Hale hing den Hörer an und setzte sich aschfarbenen Gesichts an seinen Schreibtisch. Zum erstenmal im Leben lernte er diese entsetzliche Furcht kennen. Er hatte geglaubt, daß sein Vergehen längst begraben sei, und wunderte sich, wie dieser geheimnisvolle Fremde es entdeckt hatte.

Geld von ihm ziehen war ebenso schwer, wie ihm Zähne ziehen. Er hatte den materiellen Erfolg zu seinem Fetisch gemacht, und das Glück hatte ihm gelächelt. Was er dem anderen erzählt hatte, war natürlich nicht wahr, tausend Pfund konnten ihn nicht arm machen, er hätte ohne weiteres den dreifachen Betrag zahlen können. Für ihn gab es jetzt keine Wahl, er mußte zahlen. Die Enthüllung des Geheimnisses würde für ihn geschäftlichen und gesellschaftlichen Ruin bedeuten. Es würde ein Verhängnis sein, das sowohl sein Vermögen als auch sein Ansehen vernichten würde.

So saß Hale an seinem Schreibtisch und malte mit zitternder Hand allerlei Figuren auf die Schreibunterlage.

Im nächsten Augenblick erhob er sich und nahm den Hörer ab. »Können Sie mir bitte sagen,« fragte er liebenswürdig, »mit welcher Nummer ich soeben verbunden war?«

»Mit der öffentlichen Fernsprechstelle Nr. 9,« sagte die müde Stimme des Fräuleins am anderen Ende. Hale war so enttäuscht, daß er vergaß, sich zu bedanken. Als er das Zimmer durchschritt, kam ihm jedoch ein Gedanke. Ein freudiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Er hatte einen Weg gefunden, den geheimnisvollen Fremden zu überlisten.

Mitternacht!

Ein Mann, dessen untere Gesichtshälfte von den Augen bis zum Kinn hinter einem seidenen Taschentuch verborgen war, schlich vorsichtig durch die Halle in Camden Hales Haus. Die Gummisohlen seiner Schuhe gaben auf dem Parkettboden nicht den geringsten Laut. Außer seinem kaum hörbaren Atem unterbrach nichts die Stille der Nacht. Plötzlich ein leises Knacken, und das Licht der elektrischen Lampe, die der Eindringling in der Hand hielt, strahlte auf den Boden. Der Mann ließ den kleinen Lichtkreis auf die Wand fallen und schickte ihn dann suchend umher, bis er einen Tisch fand, der an der Seite stand. Auf dem Tisch lag ein großes Paket in braunem Packpapier, mit dickem Bindfaden verschnürt.

Mit einem leisen Ruf der Überraschung ging der Fremde darauf zu. Als er seine Hand ausstreckte, um das Paket zu ergreifen, tönte aus dem Dunkel eine leise, aber befehlende Stimme. »Hände hoch!« Im selben Augenblick leuchtete das Licht in der Halle auf.

Der Fremde drehte sich um und ließ die Taschenlampe, als ob sie ihn gestochen hätte, klirrend auf den Boden fallen. Die Hände hob er schnell über den Kopf.

Camden Hale stand in der Nähe des Eingangs der Halle, er hatte eine Hand am Schalter und in der anderen eine Pistole, deren Lauf auf den Fremden gerichtet war.

»Es ist also doch nicht gelungen, Mr. Green,« sagte er höhnisch.

Der Fremde zeigte ein dummes Grinsen. »Was soll das bedeuten?« fragte er und machte eine Bewegung mit den Händen.

»Unterlassen Sie das,« sagte Camden Hale scharf, »und versuchen Sie es gar nicht erst! Sie behalten die Hände hoch!«

Der andere änderte den Ton, seine Stimme klang kläglich. »Nun gut, Herr. Seien Sie nicht zu streng gegen mich! Ich bin ohne Waffe gekommen.«

»Das freut mich zu hören,« zischte Camden Hale, »leider ist es jetzt zu spät, darüber zu sprechen. Sie haben doch hoffentlich darüber nachgedacht, daß ich Sie nicht der Polizei übergeben kann. Dort würden Sie für mich eine ebenso große Gefahr sein wie hier.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen,« sagte der andere unruhig. Camden Hale musterte ihn von oben bis unten. Seine harten, blauen Augen blitzten.

»Ich denke, Mr. Green, es wird besser sein, Sie sterben,« sagte er ruhig, »wenn ich Sie hier niederschieße, kann niemand beweisen, daß ich Sie nicht in Notwehr erschossen habe.«

»Mein Gott! Sie können mich doch nicht kaltblütig niederschießen,« rief der maskierte Mann voll Angst, »ich habe ja keine Waffe. Wenn Sie es nicht glauben, können Sie mich untersuchen.«

»Wenn die Polizei kommt, werden Sie eine Waffe haben, und aus Ihrem Revolver wird auch ein Schuß abgefeuert sein. Ich habe zur Vorsicht schon eine Kugel in die Decke gefeuert, sehen Sie dort gerade über Ihnen, wo der Putz abgeplatzt ist. Ich brauche auch nicht zu befürchten, daß ich das Haus alarmiere, meine Frau ist verreist, und die Dienstboten sind außer Hörweite. Sie sehen, ich habe an alles gedacht. Nun, haben Sie mir noch etwas zu sagen, bevor Sie sterben?«

»Sie – Sie –« Die Stimme des maskierten Mannes erstickte vor Schrecken. »Sie wollen mich doch nicht wirklich töten?«

»Ich denke, ich habe es Ihnen deutlich genug gesagt,« erwiderte Camden Hale fest, »es ist die einzige Möglichkeit, aus meiner Zwangslage herauszukommen. Ich will Ihre Erpressung nicht dulden, aber ich kann es mir auch nicht erlauben, Ihnen von der Polizei den Mund stopfen zu lassen.«

»Erpressung?« rief der maskierte Mann, »Herr, Sie sind im Irrtum! Das habe ich in meinem Leben nicht getan!«

»Nein?« Der Schatten eines Zweifels flog über Camden Hales Gesicht. Etwas wie Unsicherheit kam in seine Stimme. »Ich kenne Sie natürlich nicht, da ich Sie heute abend zum ersten Male sehe. Als Sie mit mir telefonierten, hatten Sie ein Stück Seidenpapier vor den Trichter gebunden. Ich hörte es rascheln. Es ist ein alter Trick, die Stimme unkenntlich zu machen.«

»Mein Gott, er redet lauter Unsinn!« sagte der Maskierte dumpf.

»Das kann jeder sagen!« entgegnete Hale.

Die Augen des anderen traten vor Angst aus den Höhlen. Er war überzeugt, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu tun hatte.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen,« sagte er verzweifelt, »aber, so wahr mir Gott helfe, ich habe das nicht getan, was Sie mir vorwerfen.«

Hale sagte nichts, aber sein Revolver sank Zoll um Zoll, bis er auf den Bauch des Verbrechers gerichtet war. Seine Finger berührten schon den Abzug, als sich das Unerwartete ereignete.

Der Vorhang hinter Hale bewegte sich, zwei sehnige Arme kamen plötzlich hervor, packten ihn an der Kehle. Der Revolver fiel klirrend zu Boden. Hale stieß einen gurgelnden Laut aus, der aus Staunen und Angst gemischt war.

Der Einbrecher starrte in versteinerter Angst, er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das war sonderbar, fürchterlich und unheimlich. Zwei sehnige Arme, die zu einem unsichtbaren Körper hinter dem Vorhang gehörten, preßten das Leben aus dem schlaffen, erstarrten Körper Camden Hales. Der Mann war nicht imstande, Hand oder Fuß zu bewegen. Er stand wie angewachsen und beobachtete, wie Camden Hales Gesicht fahl wurde und die Adern im Nacken anschwollen. Er sah die langen Finger der fest geschlossenen Hände sich dichter und dichter um die Kehle pressen, bis die Knöchel weiß durch die gespannte Haut schimmerten.

Eine – vielleicht eine und eine halbe Minute – und alles war vorüber. Als der Körper Camden Hales von dem fürchterlichen Griff befreit war, sank er wie ein leerer Sack in sich zusammen.

Bei dem Anblick stieß der maskierte Mann einen entsetzten Schrei aus und begann, sich an der Wand entlang davonzuschleichen.

»Bleibe, wo du bist!«

Die Stimme, die den Befehl gab, duldete keinen Widerspruch und war so drohend, daß der Einbrecher sich wieder stöhnend an die Wand drückte.

»Siehst du das Paket auf dem Tisch?« sagte der Mann hinter dem Vorhang. Der Einbrecher nickte. »Wirf es mir gefälligst herüber,« fuhr er fort. »Nein, du sollst es nicht bringen, ich habe gesagt, du sollst es werfen, du Idiot!« Das schwere Paket flog durch die Luft. Ein sehniger Arm fing es geschickt auf und zog es hinter den schützenden Vorhang.

»Nun nimm die Maske ab! Ich möchte sehen, wer du bist,« sagte der unsichtbare Mann.

Zögernd und widerwillig entfernte er das seidene Tuch, das den unteren Teil seines Gesichtes verdeckte. Wie er so dastand, hatte er nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Verbrecher.

»Gut,« sagte der Mann hinter dem Vorhang, »ich werde dich wiedererkennen. Übrigens, wie heißt du?« Der Einbrecher begann wieder zu jammern.

»Aber Herr,« sagte er fast weinerlich. »Sie wollen es doch nicht auf mich schieben? Ich trage nie einen Revolver bei mir.«

»Welches ist denn deine Spezialität?«

»Ich bin Einbrecher,« sagte der andere einsilbig.

»Bist du tüchtig?«

Der Mann unterdrückte mit Rücksicht auf das Ergebnis dieser Nacht alle Prahlsucht.

»Nur so so,« sagte er, »ich habe gerade mein Auskommen, das ist alles.«

»So? Das hätte ich gar nicht gedacht. Aber du hast mir deinen Namen noch nicht gesagt. Wie heißt du?«

»Scarfe,« sagte der Mann, »Bill Scarfe.«

»Schön, ich werde das in ein oder zwei Tagen feststellen können. Wohin gehörst du?«

»Zum ›grauen Bock‹.«

»Du gehörst zum ›grauen Bock‹? Ist das wahr?«

»Ich will sterben, wenn –« begann Bill Scarfe, als der andere ihn unterbrach.

»Ich sehe, daß es stimmt,« sagte er kalt, »und ich möchte nicht, daß du so etwas wünschst, wenigstens nicht in diesem Augenblick. Bevor du deine sterbliche Hülle ablegst, sollst du mir noch nützlich sein.« Aus seiner Stimme klang eine gewisse Befriedigung. Vielleicht war es wegen Bill Scarfes Verbindung mit dem »grauen Bock«? Diese zoologische Bezeichnung bedeutete: König der Unterwelt. In dieser Republik von Verbrechern unterwarfen sich alle dem Willen eines überragenden Mannes.

»Nun verschwinde, Bill Scarfe!« klang die Stimme befehlend.

»Verschwinden?« fragte Bill unzufrieden. In seiner Stimme lag etwas Mürrisches, als ob er sich um seinen rechtmäßigen Anteil am Raube betrogen fühlte.

»Du hast gehört, was ich sagte. Tu nicht so, als ob du nicht verstehst! Du bist in dieser Nacht in meine Macht geraten, also kannst du nicht erwarten, daß du etwas bekommst. Ich werde es bei der nächsten Gelegenheit gutmachen. Ich rate dir in deinem eigenen Interesse, kein Wort von dem zu sprechen, was du gesehen hast.«

»Wer? Ich? Sie können sich darauf verlassen, daß ich es nicht tun werde,« sagte der andere überzeugend.

Der Mann hinter dem Vorhang bewegte sich nicht, bevor volle fünf Minuten nach Bill Scarfes Verschwinden verstrichen waren. Dann endlich kam er hervor und schaute auf die am Boden liegende Gestalt. Er war ein großer Mann mit glattem, schwarzen Haar. Über seinen Augen trug er eine schwarze Maske mit einem Stück Tuch, das seinen Mund verbarg und bis ans Kinn reichte. Er war im Abendanzug.

»Du siehst, Camden Hale, es hat keinen Zweck, mich überlisten zu wollen,« sagte er, als ob die stille Gestalt auf dem Boden ihn hören und verstehen könnte.


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