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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Conway Wallacks Befreiung

Am andern Morgen fand ein Teil des geheimnisvollen Verbrechens seine Aufklärung. Als man die Eisenbahnstrecke zu beiden Seiten des Bahnkörpers hinter der Station, wo das Verbrechen zuerst beobachtet worden war, absuchte, fand man Teile der leeren Kisten.

Die Erklärung war einfach. Da der Zug gerade auf dieser Stelle der Strecke sein Tempo verlangsamte, war es den Räubern möglich gewesen, die Kisten aus dem Wagen zu werfen, damit ihre Helfer sie aufbrechen und leeren konnten. Nach den tiefen Spuren zu urteilen, hatte man dann die schwere Last über die Felder zur Landstraße getragen, wo ein Auto sie erwartete.

Soviel war klar. Aber wie war das Gas in den Wagen gekommen? Und wie hatten die Räuber es bewerkstelligt, während der Fahrt in den Wagen zu gelangen? Das war ein Geheimnis. Sie mußten im dichten Gas gearbeitet haben, aber sie hatten sich sicherlich durch Gasmasken geschützt.

In Scotland Yard hielt man den »Würger« für den Täter. Die Rücksichtslosigkeit, wie man mit menschlichem Leben umgegangen war, ferner die Gerissenheit und Sorgfalt, mit welcher der Plan ausgeführt war, alles deutete auf den »Würger« hin. Auf der andren Seite schien ein Zusammenhang mit dem Taplow-Mord zu bestehen.

Ein junger Detektiv fand zuerst feine, zerbrochene Glasstückchen auf dem Boden des Gepäckwagens Und entdeckte, als er weitersuchte, eine kleine Glaskugel – oder vielmehr ein Kügelchen – das durch Zufall noch unzerbrochen in einer dunklen Ecke des Wagens lag. Er packte seinen Fund sehr sorgfältig ein und übergab ihn seinem Vorgesetzten, und so gelangte die Kugel in die Hände von George Emmerson und Bromley Kay.

Emmerson meinte warnend: »Ich würde sie nicht so grob anfassen; sie ist so dünn, daß sie leicht in den Händen zerbrechen könnte, und dann wären hier zwei Stellen gleichzeitig zu besetzen.«

»So dumm bin ich nicht,« meinte Kay schroff. Er war ziemlich kurz angebunden; denn er und Sir Gregory hatten im Laufe des Vormittags eine Unterredung mit einem hohen Vorgesetzten gehabt, und man hatte ihnen offen den Vorwurf gemacht, daß die Polizei im Falle des »Würgers« vollkommen versagt habe.

»Es scheint so, als ob der ›Würger‹ seine Bande so gut organisiert hat, daß seine Leute selbst während seiner Abwesenheit seine Pläne ausführen können,« sagte Kay.

Emmerson sah ihn verwundert an.

»Sie sind also immer noch der Meinung, daß Conway Wallack der ›Würger‹ sei?«

Kay nickte. »Auf jeden Fall wird er morgen dem Gericht vorgeführt werden. Dann werden wir ja sehen.«

»Wenn Conway Wallack morgen verurteilt wird, dann werden Sie einen Unschuldigen verurteilt haben,« erwiderte Emmerson ihm.

Er sprach mit seltsamem Ernst, so daß Kay ihn von der Seite ansah.

»Sie scheinen Ihrer Sache ja sehr sicher zu sein,« bemerkte er.

»Die Wissenschaft irrt sich nur selten,« entgegnete Emmerson.

Kay zuckte die Schultern, dann blickte er auf das kleine gefährliche Glaskügelchen.

»Ob die Wissenschaft dies wohl auch für uns enträtseln kann?« überlegte er.

»Eine Autorität für Giftgas kann das natürlich. Leider gibt es nur sehr wenige hier, die mehr als der Durchschnitt davon verstehen. Ich kenne eigentlich nur drei, die dafür in Betracht kämen.«

»Sie meinen, daß sie uns etwas darüber sagen könnten?«

»Sicher werden diese kleinen Glaskügelchen in einem dieser drei Laboratorien hergestellt worden sein,« versicherte Emmerson.

»In dem Falle hätten wir es ja nur mit wenigen Leuten zu tun, aber wir können sie doch nicht alle drei verhaften,« sagte Kay.

»Das können wir zwar nicht, aber wir können etwas anderes tun. Wie wäre es, wenn wir einem nach dem anderen einen kleinen Privatbesuch abstatteten?« schlug Emmerson vor.

»Wenn Sie damit sagen wollen, daß wir bei ihnen einbrechen und nach Beweismaterial suchen sollen, so lehne ich das entschieden ab,« sagte Kay erregt, »wir sind hier, um das Gesetz zu schützen, und nicht, um es zu verletzen. Der Zweck heiligt niemals die Mittel!«

»Ich habe mir gedacht, daß Sie das sagen würden, aber trotzdem scheinen Sie meinen Vorschlag nicht ganz verstanden zu haben. Ich meinte, wir sollten mit jedem der drei eine Unterredung haben. Aus meinen Schlüssen –«

»Sie überschätzen Ihre Schlußkraft gewaltig. Bisher haben Sie wenigstens keinerlei Resultate aufzuweisen,« sagte Bromley Kay gereizt.

Emmerson antwortete kurz: »Man kann niemals wissen, was die Zukunft bringt. Wenn ich zu Ihnen kommen und sagen werde: ›Mein lieber Herr Kommissar, der ›Würger‹ steht draußen vor der Tür‹, dann werden Sie für das, was Sie heute gesagt haben, noch um Entschuldigung bitten.«

Bromley Kay machte ein mißmutiges Gesicht; nach seiner Meinung war die Aufdeckung von Verbrechen eine ernste Angelegenheit. Die große Verantwortlichkeit seines Amtes hatte in ihm den Sinn für Humor erstickt.

Der Verteidiger Conway Wallacks war ein kluger Mann, aber sein Dienstmädchen war in gewisser Beziehung noch schlauer. Ob sie zu der Bande des »Würgers« gehörte, oder ob man sie nur für diesen Fall gewonnen hatte, konnte man nicht feststellen, jedenfalls erledigte sie ihren Auftrag glänzend.

Als ihr Herr eines Morgens beim Frühstück saß, steckte sie ein zusammengefaltetes Stück Zigarettenpapier hinter das Schweißleder seines Hutes.

Conway Wallack war durch einen Mitgefangenen im Untersuchungsgefängnis benachrichtigt worden, und während einer Unterredung mit seinem Verteidiger holte er das Papier unbemerkt heraus. Er las sorgfältig durch, was auf dem Papier stand, und dann zerkaute er es zu einer breiigen Masse.

Was sich dann ereignete, war von allen Taten des »Würgers« das waghalsigste Stück. Es gelang nur darum, weil es so außerordentlich kühn und schnell ausgeführt wurde.

Der Gefangenenwagen, in dem Conway Wallack saß, verließ das Gefängnis, um ihn nach dem Gericht zu bringen. Unterwegs wurde er an einer bestimmten Stelle durch den Verkehr aufgehalten. Niemand hatte den Motorradfahrer beobachtet, der an den Wagen heranfuhr und sich an ihn mit einer Hand stützte.

Einige hundert Meter weiter platzte jedoch einer der Reifen. Der Wagen wankte, schien umzukippen und fuhr eine Strecke im Zickzack, dann hielt er an.

Mit einem unterdrückten Fluch stieg der Fahrer ab. Gleichzeitig öffnete auch die Wache die Tür des Wagens und schaute fragend hinaus. In diesem Augenblick trat der Motorradfahrer, der dem Wagen weiter gefolgt war, in Tätigkeit. Er hob schnell die rechte Hand, etwas glitzerte darin, und der feine Strahl einer Flüssigkeit traf den Begleiter mitten ins Gesicht. Er war für den Augenblick vollkommen blind, sprang zurück und rang nach Atem; das Ammoniakgas schien ihn zu ersticken. Der Motorradfahrer warf seine Maschine hin und sprang in das Innere des Wagens.

Für den Bruchteil einer Sekunde starrte der Fahrer ihn mit offenem Munde an, dann sprang er mit dem Revolver in der Hand hinzu. Er hatte in seiner Aufregung einen Lieferwagen nicht bemerkt, der gerade herankam. Im nächsten Augenblick war es zu spät; denn der Fahrer dieses Wagens warf ihm ein ähnliches Glas ins Gesicht, und in den nächsten Minuten konnte er weder sehen noch irgend etwas anderes tun, als nach Luft ringen.

Aus dem Innern des Wagens tönte ein unterdrücktes Keuchen, ein dumpfes Krachen folgte, und dann erschien Conway Wallack in der Tür des Wagens und sprang auf die Straße. Der Motorradfahrer folgte und half ihm – da er noch Handfesseln trug – in das Innere des Lieferwagens. Die Tür wurde zugeschlagen, der Lieferwagen setzte sich in Bewegung, machte einen scharfen Bogen in eine Seitenstraße hinein und verschwand.

Das alles ging so schnell vor sich, daß es längst vorüber war, ehe die kleine Gruppe neugieriger Zuschauer überhaupt begriffen hatte, was vor sich ging. Und als der am andern Ende der Straße postierte Schutzmann herbeigelaufen kam, um zu helfen, waren Wagen und Motorradfahrer schon verschwunden.

Einige Minuten später fand man den Lieferwagen in der Seitenstraße, durch die er verschwunden war, an der Bordschwelle stehen. Man nahm an, daß Befreier und Befreiter hier in einen anderen Wagen gestiegen waren. Und dann waren sie – wenigstens für die Polizei – plötzlich verschwunden.

Das Eigenartige bei dem ganzen Vorgang war, daß niemand eine genaue und zuverlässige Beschreibung der Täter geben konnte. Selbst der Begleiter und Fahrer des Polizeiwagens hatten weiter nichts als den hellen Schein eines Gesichtes gesehen, und dann hatte ihnen das Ammoniak jede Sicht genommen und sie vollkommen widerstandslos gemacht.


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