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Achtzehntes Kapitel.
Der unbekannte Retter

Das Mädchen erwachte mit einem undeutlichen Eindruck ihrer Umgebung. Ihr Bewußtsein war noch nicht ganz klar, und der süße Geruch des Betäubungsmittels erinnerte sie an eine Operation. Sie war in einem fremden Zimmer. Die Fensterläden waren geschlossen, und nur einige schwache Lichtstrahlen stahlen sich durch die Spalten. Als sie sich umschaute, wuchs das Gefühl der Fremdheit in ihr, und eine große Furcht stieg in ihr auf. Sie erinnerte sich an die dunkle Gestalt, die sich über sie beugte, an die hohe, kichernde Stimme, und dann konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Was sich später ereignet hatte und wo sie jetzt war, wußte sie nicht.

Langsam stieg sie aus dem Bett und faßte an die Tür. Die Klinke bewegte sich, aber die Tür gab nicht nach. Die war verschlossen. Sie ging ans Fenster. Schwere Fensterläden waren außen angebracht und verschlossen den Weg.

Sie ging ans Bett zurück, setzte sich auf den Rand und versuchte, ihre Angst zu unterdrücken. Ihre Kleider lagen, sorgfältig geordnet, auf einem Stuhl.

Etwas wie Bewunderung für den kühnen Mann überkam sie. Er mußte während der Flucht verweilt haben, die Gefahr der Entdeckung und der Gefangennahme auf sich genommen haben, um ihre Kleider und Schuhe mitnehmen zu können. Wenn sie für etwas, das in dieser Nacht geschehen war, dankbar war, so war es dies. Wenigstens konnte sie dem Kommenden mutiger entgegensehen, wenn sie angekleidet war.

Sie zog sich langsam an und war kaum damit fertig, als sie draußen Schritte hörte. Eine Frau schloß die Tür auf und trat ein. Es war eine finstere, schweigsame Person, die teilnahmslos das Mädchen betrachtete.

»Sie hätten nicht aufstehen sollen,« sagte sie gelassen, »das ist gefährlich; Sie sind krank gewesen.«

»Ich bin nicht krank gewesen,« wehrte sich das Mädchen aufgebracht. Dann bat sie milder: »Bitte sagen Sie mir, wo ich bin!«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen,« antwortete die Frau, »Sie werden gut behandelt werden, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«

»Wann kann ich fortgehen?«

Die Frau zuckte die Schultern: »Das weiß ich nicht.«

»Dann bin ich also eine Gefangene?«

Sie stellte die Frage voller dumpfer Angst, und für einen Augenblick kam etwas wie Mitleid in die Augen der Frau. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es auch wieder. Die Stimme war so teilnahmslos wie vorhin: »Sie sind eine Gefangene, aber es wird Ihnen nichts geschehen. Sie werden sofort Ihr Frühstück erhalten.«

Damit drehte sie sich um und verließ das Zimmer, indem sie die Tür sorgfältig hinter sich verschloß.

Peggy Forrest setzte sich auf den einzigen Stuhl, der in dem Zimmer war, und schaute traurig vor sich hin.

*

Fast eine ganze Woche hatte sie nun in dem Raum zugebracht. Ihre Wangen waren blaß geworden, und unter ihren Augen zeigten sich dunkle Ringe. Während der ganzen Zeit hatte sie nur die Frau gesehen, die sie bediente. Alle ihre Fragen wurden abgewiesen oder überhört. Über die Behandlung konnte sie sich in keiner Weise beklagen. Doch der Verlust der Freiheit drückte sie schwer. Die Ungewißheit ihres Schicksals ängstigte sie, obgleich die Frau ihr versichert hatte, daß ihr nichts geschehen würde. Die vollkommene Unkenntnis des Ortes, wo sie gefangen war, lastete auf ihr. Sie konnte sich Ferris Mance vorstellen, wie er über ihr Verschwinden verzweifelt war und sich den Kopf zerbrach, was wohl aus ihr geworden sei. Armer Ferris – er wußte nichts weiter von ihr, als daß sie entführt worden war. Und George Emmerson? Was würde George tun?

Er, als der Mann von Scotland Yard, sollte eigentlich mehr als ihr Geliebter handeln.

Der Drücker der Tür bewegte sich, das Mädchen sprang auf, als sie einen unterdrückten Fluch der Person hörte, die draußen stand. Sie wußte nicht, was das bedeuten sollte; denn die Frau hatte die Tür immer selbst auf- und zugeschlossen. Dann kam ihr der Gedanke, daß es jemand war, der die Schlüssel nicht finden konnte. Verschiedene Geräusche gaben ihr endlich die Gewißheit, daß die Person jenseits der Tür nicht zum Hause gehörte.

Plötzlich gab es ein scharfes Knacken, und die Tür flog auf.

Auf der Schwelle stand ein Mann, ein großer, dunkler Mann, dessen Gesicht von einer Maske bedeckt war. Er war von dem elektrischen Licht etwas geblendet. Als das Mädchen einen leisen Ruf der Überraschung und Furcht ausstieß, hob er warnend die Hand.

»Machen Sie keinen Lärm,« flüsterte er, »ich möchte das Haus nicht alarmieren. Ich selbst habe schon Lärm genug gemacht. Kommen Sie, schnell!«

Sie zögerte. »Wer sind Sie?« fragte sie und versuchte, ihre Stimme zu beherrschen; sie glaubte in dem Eindringling den Mann zu erkennen, der sie entführt hatte. Mit Rücksicht darauf erschien ihr sein jetziges Benehmen rätselhaft.

»Darauf kommt es jetzt nicht an,« sagte er flüsternd, aber bestimmt, »das werde ich Ihnen später sagen. Beeilen Sie sich, wenn Ihnen Ihr Leben und Ihre Freiheit lieb sind.«

Der Mann drehte das Licht aus, und für einen Augenblick standen sie im Dunkeln. Dann umschloß seine Hand die ihre mit eisernem festem Griff. Sie war erstaunt, daß der Griff des Fremden ihr ein Gefühl der Beruhigung gab.

Er führte sie schnell und geräuschlos durch dunkle Räume und ein Gewirr von Korridoren. Sie kamen an eine Treppe, und die Hand des Mannes faßte ihren Arm. »Gehen Sie vorsichtig!« sagte er weich, und ihr Herz schlug bei dem vertrauten Ton der Stimme, aber sie konnte sie nicht erkennen. Sie hatte sie schon früher gehört, das war alles, was sie sagen konnte.

Sie ging leichtfüßig weiter, und der Mann schlich geräuschlos wie eine Katze. Irgendwo vor ihnen in der unergründlichen Dunkelheit stolperte ein Mann und hustete. Das Mädchen fühlte, wie der Griff an ihrem Arm fester wurde, aber sie war klug genug, um den Ruf, der ihren Lippen entfliehen wollte, zu unterdrücken.

Es näherten sich Schritte. Der Griff um ihren Arm löste sich. Eine Stimme flüsterte in ihr Ohr: »Rühren Sie sich nicht!« Sie hielt mitten im Schritt an und fühlte mehr, als daß sie es hörte, wie der Mann sich von ihr abwandte. Nach dem Bruchteil einer Sekunde hörte sie einen unterdrückten Angstschrei, das schnelle Laufen von Füßen und kurz darauf einen furchtbaren, gurgelnden Laut, dem ein dumpfer Fall folgte.

Sie fuhr mit der Hand an ihre Kehle und stieß einen erschrockenen Ruf aus.

»Es ist alles in Ordnung,« sagte eine flüsternde Stimme neben ihr, »ich habe ihn unschädlich gemacht.«

»Doch nicht getötet?« stieß sie hervor.

Der Fremde lachte leise. »Vielleicht habe ich ihm den Unterkiefer ausgerenkt,« flüsterte er zurück.

Er nahm wieder ihren Arm, und sie merkte, daß sie dem Körper auf dem Boden auswichen. Er öffnete nun eine Tür. Sie standen auf einer Treppe, die in den Garten führte. Drüben sah sie die Schatten der Bäume.

»Fürchten Sie sich?« flüsterte ihr Retter.

»Mit Ihnen zu gehen?« sagte sie, indem sie erriet, was er meinte. »Nein, durchaus nicht.«

Nachdem er vorsichtig die Tür geschlossen hatte, stiegen sie die Stufen hinunter. Ein Fußweg lief zwischen den Bäumen hindurch zu einer Mauer. An einer kleinen Pforte hielten sie an.

»Sie werden durch diese Pforte auf die Straße gehen,« befahl der Mann. »An der Ecke werden Sie eine Straßenbahn finden. Ich gebe Ihnen den Rat, damit nach Hause zu fahren. Sie brauchen keine Furcht zu haben. Sie werden vollkommen sicher sein.«

»Und Sie? Wem habe ich zu danken?« fragte sie höflich, obgleich ihr Herz aufgeregt pochte.

»Mein Name ist augenblicklich nebensächlich. Es tut mir leid, daß ich nicht mit Ihnen kommen kann. Hier nehmen Sie dies! Es ist Ihr Wohnungsschlüssel, sonst können Sie vielleicht nicht hinein.«

Sie fühlte, wie das kalte Metall in ihre Hand gedrückt wurde und eine Hand sich um die ihre schloß.

»Sie glauben, daß ich nichts zu fürchten habe?« fragte sie. Sie hätte gern gesehen, daß er sie begleitete, nicht weil sie sich fürchtete, sondern damit er ins Licht käme und sie sehen konnte, wer er wäre. Die entfernte Vertrautheit seiner verstellten Stimme ließ sie nicht ruhen.

»Ich fürchte,« sagte der Mann lachend, weil er schnell ihre Gedanken erraten hatte, »Sie müssen auf eine andere Gelegenheit warten, um zu sehen, wer ich bin. Ich muß in dieser Nacht noch einen anderen Fisch fangen.«

»Sie wollen wieder zurück?« rief sie ängstlich.

»Ja, das will ich. Aber Sie brauchen sich meinetwegen keine Sorge zu machen.«

Er schob sie sanft zur Pforte.

»Gehen Sie nun, bevor ich in Versuchung komme, Sie zu küssen!«

Er verschwand schnell im Schatten der Bäume und war ihren Blicken entschwunden, bevor das verwirrte Mädchen daran denken konnte, eine entsprechende Antwort zu geben.


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