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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Tod oder lebendig

Zwei Tage später hielt ein hoher Beamter, der über die Mißerfolge der Polizei empört war, eine Besprechung ab, der auch Sir Gregory Haverstock und Bromley Kay beiwohnten.

»Haben Sie die Zeitungen gesehen?« fragte er, und beide bejahten die unangenehme Frage. Es war gerade die Zeit, wo die Aufdeckung der Verbrechen gar keine Fortschritte machen wollte. Die Flucht Conway Wallacks hatte die geheimnisvolle Gestalt des »Würgers« noch berühmter gemacht.

»Kann denn nichts getan werden, um dieser Welle der Verbrechen Einhalt zu gebieten?« fragte er aufgeregt. »Es muß doch Mittel und Wege geben, die Bande zu sprengen und ihre Mitglieder der gerechten Strafe zuzuführen.«

»Die Organisation dieses Mannes ist nach menschlichem Ermessen unangreifbar,« sagte Sir Gregory, »wir können darin keine Lücke finden. Es kommt zwar vor, daß er Fehler begeht, aber blitzschnell berichtigt er sie auch wieder.«

»Sie haben doch einige Mitglieder der Bande gefaßt.«

»Und dafür mußten sie sterben. Bill Scarfe hat uns ein Geständnis abgelegt, die Mitteilungen, die er uns machte, waren mangelhaft und von unserem Standpunkt aus fast wertlos. Trotzdem wurde er getötet. Durch einen Fehler unserer Leute wurde ein Mann namens Comstock damals nicht als Mittäter bei dem Plutarch-Raub erkannt. Bei einem anderen Verbrechen erschien er wieder auf der Bildfläche und wurde von seinem Anführer erschossen, damit er nicht in unsere Hände fallen und das Haupt der Organisation verraten konnte.«

»Und die anderen?«

»Hier sind ihre Namen und Adressen,« sagte Bromley Kay und reichte ein Blatt Papier über den Tisch.

»Wie sind Sie in ihren Besitz gelangt?«

Kay warf Sir Gregory einen Blick zu, und der letztere antwortete: »Sie wurden uns durch die Post zugeschickt. Wir haben keine Ahnung, wer sie uns sandte!«

»Nun, warum wollen Sie denn nicht auf Grund dieser Angaben die angegebenen Mitglieder der Bande verhaften? Gibt es einen Grund, der dagegen spricht?«

Sir Gregory antwortete protestierend: »Ja, wenn wir das täten, würden wir denjenigen, den wir fangen wollen, nur warnen. Falls er nicht bereits gewarnt ist. Diese Liste ist von derselben Hand, geschrieben wie die früheren Mitteilungen, die an uns gelangt sind. Es ist eine Schrift, die keinerlei Eigenart aufweist, es ist eine reine Schulschrift.«

»Jede Handschrift weist doch charakteristische Züge auf,« meinte der andere. Sir Gregory schüttelte den Kopf.

»Durchaus nicht. Haben Sie jemals von der Packhard-Handelsschule in New York gehört?«

»Nein, Sir Gregory, was hat das mit dieser Angelegenheit zu tun?«

»Sehr viel. In jener Schule erhielt eine Klasse, die aus vierzig Damen und Herren im Alter von sechzehn bis zwanzig Jahren bestand, die Aufgabe – ohne daß sie wußten für welchen Zweck – dieselben Wörter niederzuschreiben. Die Ähnlichkeit der Handschriften war verblüffend. Die Sachverständigen, denen man die Proben vorlegte, waren nicht in der Lage, sie voneinander zu unterscheiden.«

Der andere blickte nachdenklich vor sich hin. »Wahrscheinlich der Erfolg langer Übung,« bemerkte er.

Sir Gregory nickte. »Es ist für geschickte Leute sehr leicht, die Handschrift anderer nachzuahmen. Nicht alle Erpressungen kommen zu unserer Kenntnis. Wir erfahren meistens nur von denen, bei welchen es sich um den Verlust größerer Summen handelt.«

»Ich verstehe. Sie wollen also sagen: Wenn wir diese Männer verhaften, werden wir weiter als je davon entfernt sein, den Hauptschuldigen zu fassen.«

»Freilich. Übrigens sind einige von den Leuten, die in der Liste aufgezählt sind, bereits verschwunden. Offenbar haben sie schon Wind bekommen. Das bedeutet, daß der Verlust der Liste bereits bemerkt worden ist, und dann weiß sicher auch das Haupt der Bande davon.«

»Wer bearbeitet den Fall?«

»Dr. Emmerson.«

»Ein Doktor?«

»Ja, Mediziner. Er ist sicher sehr geschickt, obgleich seine Arbeitsmethoden etwas ungewöhnlich sind, und er hat nicht die Achtung vor dem Gesetz, die ein Diener des Rechts eigentlich haben sollte.«

Der andere, der nicht ohne Humor war, lächelte bei der Beschreibung Sir Gregorys.

Er antwortete trocken: »Es scheint mir, daß Sie nicht sehr von ihm begeistert sind. Hat er etwas erreicht?«

»Er hat zu unseren allgemeinen Ergebnissen manches beigetragen,« sagte Kay.

Der Vorgesetzte fuhr ruhig fort: »Um alles zusammenzufassen: Diese geheimnisvolle Person ist also direkt oder indirekt an der Ermordung – Camden Hales, an dem Plutarch-Raub und an dem Überfall auf den Nachtzug beteiligt. Außerdem legen Sie ihm die Morde an Bill Scarfe und Comstock zur Last. Übrigens, wurde Comstock nicht bei einer Entführung erschossen?«

»Sie entführten Miß Forrest,« sagte Kay und berichtete, was das Mädchen ihm alles erzählt hatte.

Der andere zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Das ist ja sonderbar. Ich sehe in der ganzen Affäre gar keinen Sinn.«

Kay meinte lächelnd: »Ich nehme an, daß der ›Würger‹ vielleicht nur seine Macht zeigen wollte. Er wollte Ferris Mance Furcht einjagen, damit er zahle. Aber durch die Befreiung des Mädchens wurde diese Absicht natürlich vollkommen durchkreuzt.«

»Das meine ich auch,« sagte der andere, »es scheint doch seltsam, daß ein maskierter Mann sie entführte und ein anderer, der dem ersten vollkommen ähnlich war, sie befreite.«

»Miß Forrest ist der Meinung, daß es zwei verschiedene Männer waren. Sie urteilt nach ihrem Gefühl. Sie sagt, daß sie beim zweiten Male nicht die geringste Furcht gehabt habe,« erklärte Bromley Kay.

»Und der Überfall auf den Nachtzug? Können Sie eine Erklärung finden, wie das Gas in den Wagen gelangte?«

»Es wurde in kleinen Glaskügelchen während der Fahrt hineingeschleudert,« sagte Sir Gregory.

»Das weiß ich, aber wie?«

Sir Gregory blickte auf Kay.

»Ich nehme an,« sagte dieser, »daß man vielleicht eine Lösung finden kann, wenn man die Größe der Kügelchen in Betracht zieht. Die Art des Hineinschleuderns muß für ihre Größe bestimmend gewesen sein.«

»Sie meinen also, daß der betreffende Gegenstand keine größere Kugel aufgenommen hätte?«

»Vielleicht ein Luftgewehr?« meinte Sir Gregory.

»Ich glaube, das wäre zu klein,« antwortete Kay beiden, »ich denke eher an ein Blasrohr.«

»Und das Gas selbst?«

»Wir haben darüber noch keine Auskunft erhalten. Es ist Sachverständigen – es gibt nur drei – übergeben worden. Wenn wir ihre Berichte erhalten haben, können wir vielleicht eine Spur verfolgen. Bis dahin tappen wir vollkommen im Dunkeln.«

»Geldgier ist eine weitverbreitete menschliche Eigenschaft,« sagte der Vorgesetzte unvermittelt.

Sir Gregory blickte schnell auf und Kay zeigte lebhaftes Interesse.

»Ich meine, daß eine Belohnung vielleicht zur Ergreifung des ›Würgers‹ führt.«

»Aber ich nehme an, daß selbst seine engsten Vertrauten nicht wissen, wer er überhaupt ist,« meinte Kay.

»Vielleicht nicht. Aber sie müssen doch oft mit ihm zusammen sein, sie müssen doch irgendeine Verbindung mit ihm haben. Ist Ihnen das nicht klar?«

Beide nickten.

»Wir wollen auf eine Mitteilung, die zu seiner Ergreifung führt, fünfhundert Pfund aussetzen. Höher darf ich nicht gehen. Außerdem können Sie die Erklärung abgeben, daß der Überbringer selbst straflos ausgehen wird. Wie würden Sie den Mann nach den geringen Mitteilungen, die Sie erhalten haben, beschreiben?«

»Wir können nur sagen, daß er dunkle Augen und dunkles Haar hat. Er kann sich tatsächlich sehr sicher fühlen.«

»Die Beschreibung ist natürlich sehr oberflächlich, aber wir müssen sie schon geben, wenn wir nichts besseres haben. Arbeiten Sie den Aufruf aus, Ihre Leute werden schon wissen, wie es zu machen ist, und bieten Sie fünfhundert Pfund für ihn, tot oder lebendig!«

»Tot oder lebendig,« wiederholte er grimmig, »ich würde das besonders hervorheben.«


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