Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel.
Der Mann, der starb

Der Laut, der Bill Scarfe aus tiefem Schlaf auffahren ließ, hätte einen ehrlichen Bürger nicht gestört, doch der Einbrecher war im Augenblick vollkommen wach. Es war ein seltsames Rascheln, als ob Seide einen anderen Gegenstand streifte.

Bill Scarfe richtete sich im Bett auf und starrte in die Dunkelheit. In der Nähe der Tür bewegte sich ein Schatten, und als der Einbrecher unter dem Kissen nach dem Revolver suchte, der ihn in diesen Tagen weder bei Tag noch bei Nacht verlassen hatte, leuchtete das Licht auf.

Für einige Sekunden blendete ihn das plötzliche Licht, dann sah er deutlicher, und ein unartikulierter Schrei erstarb in seiner Kehle.

An der Tür, eine Hand am Schalter, stand eine hohe Gestalt. Sie war schwarz gekleidet, das Gesicht war von einer schwarzen Maske verdeckt, deren Fransen bis ans Kinn reichten.

»Hallo, Bill,« rief der Eindringling mit einer unnatürlich hohen Stimme, »du hast mich wohl nicht erwartet?«

Der Mann im Bette stöhnte wie ein verwundetes Tier, und der kalte Schweiß trat auf seine Stirn.

»Erhole dich, Bill,« fuhr der Besucher fort, »kann man nicht einmal seine Freunde um Mitternacht besuchen, ohne daß man ihnen einen heillosen Schreck einjagt? Bill, du bist ja weiß wie Kalk. Reiß dich doch zusammen und tu so, als ob du dich freust, mich zu sehen. Fühlst du dich nicht durch meine Anwesenheit hoch geehrt? Ich opfere nicht für jeden Beliebigen meinen besten Schlaf.«

Während er wieder mit jener unheimlichen, hohen Stimme lachte, kam er von der Tür und setzte sich auf den Rand des Bettes. Sehr, sehr vorsichtig schob Scarfe seine Hand unter das Kissen, seine Augen waren starr auf das Gesicht des anderen gerichtet. Es war durchaus keine Heiterkeit, die in den Augen des Fremden funkelte.

»Bill,« sagte er, und seine Stimme klang nicht lauter als ein Flüstern, »du hast deinen Revolver unter deinem Kissen, du siehst, ich kenne deine Gewohnheiten. Gib ihn mir! Er könnte in deinen Händen losgehen, und ich möchte dir nicht verraten, was dann geschehen würde.«

Die Bewegung war so schnell, daß man ihr kaum mit den Augen folgen konnte, aber Scarfe fühlte einen stählernen Griff um seine Hand, und im nächsten Augenblick war der Revolver wie durch ein Wunder in die Hände des maskierten Mannes gelangt.

»Nun können wir unsere Angelegenheiten besprechen, ohne einen unangenehmen Zwischenfall befürchten zu müssen. Ich hasse Waffen. Erstens ist das viel zu umständlich, und zweitens machen sie viel zuviel Lärm. Ich sehe nicht gern Blut fließen.«

»Was willst du?« fragte Bill Scarfe heiser.

»Was ich will, Bill? Nun, das ist eigentlich eine komische Frage. Ich kam, um dich zu besuchen und dir eine kleine Lektion zu geben. Ich habe mir vorgenommen, dich von deinen gottlosen Wegen abzubringen, solange es noch Zeit ist. Ich weiß, mein Freund, daß ich nicht wie ein Abstinenzler aussehe, aber ich bin heute abend hier, um die Sache derer zu fördern, die kaltes Wasser und kalten Tee trinken. Tatsächlich, Bill, deine schlechten Gewohnheiten machen mir viel Kummer. Stelle dir vor, ein Gentleman unter meinen Bekannten – fast hätte ich gesagt ›von meiner Bande‹ – hat sich vergessen und einen Mauerstein genommen und ihn durch das Fenster einer Kneipe geworfen! Was hat es gekostet, Bill?«

»Fünf Pfund,« sagte der andere schaudernd. »Außerdem mußte ich das Fenster bezahlen,« setzte er traurig hinzu.

Der Mann mit der schwarzen Maske nickte. »So ist es,« stimmte der andere zu, »das stimmt mit dem überein, was ich von anderer Seite gehört habe. Nun, Bill, würde es nicht besser sein, wenn du ein Versprechen unterzeichnest, daß du nicht mehr trinken willst?«

»Wenn das alles ist, was du wünschst, will ich ein Dutzend unterzeichnen!«

»Und es auch halten, Bill?«

Die hohe Stimme des anderen war freundlich und zutraulich geworden. Es lag ein schmeichelnder Ton darin, der die Angst des Einbrechers beruhigte.

»Ja,« sagte er, »ich will es auch halten.«

»Ich glaube auch, Bill, du wirst das Versprechen halten. Ich bin überzeugt, daß du – ob du das Versprechen gibst oder nicht – solange, wie du lebst, keinen Tropfen mehr trinken wirst. Starke Getränke lösen die Zunge und nehmen das bißchen Verstand, das man noch hat, fort. Habe ich nicht recht, Bill?«

»Jemand, der trinkt, spricht viel,« gab Bill Scarfe etwas unbehaglich zu. Dies kleine philosophische Gespräch hatte er nicht erwartet, aber es war doch viel besser als das, was seine Phantasie sich ausgemalt hatte.

»So ist es,« sagte der Mann mit der Maske feierlich, »er spricht zuviel. Hast du jemals zuviel gesprochen, Bill?«

Ein schwaches Lächeln ging über das Gesicht des Einbrechers. »Deswegen brauchst du dich nicht zu sorgen,« sagte er und suchte seine Stimme in der Gewalt zu behalten; denn die Unterhaltung führte auf gefährliches Gebiet, »ich werde nicht sprechen.«

»Nein? Ich freue mich, daß du das sagst. Es ist sicher ein neuer Vorsatz, den du gefaßt hast. Vielleicht hat meine Gegenwart heute nacht hier dies verursacht.«

Scarfe sagte nichts, obgleich er den Fremden zweifelnd und voll Furcht betrachtete. Der andere fuhr fort:

»Ich sehe, Bill, daß ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt habe. Ich habe dich in möglichst schonender Weise von der Tatsache zu überzeugen versucht, daß du tatsächlich ein sehr schlechter Bursche bist. Ich glaube, daß du allem Anschein nach in der vergangenen Nacht sehr gesprächig gewesen bist.«

Bill Scarfes Gesicht wurde aschfahl, seine Kehle schnürte sich zusammen, als ob er verzweifelt versuchte, etwas zu schlucken.

»So wahr ich Bill Scarfe heiße,« murmelte er, »ich habe niemandem etwas gesagt.«

»Nein? Denke noch einmal nach!«

Die Stimme klang nicht mehr freundlich, sondern schmetterte wie eine Trompete. In jeder Silbe lag eine Todesdrohung.

»Scarfe« – das Wort fiel wie ein Peitschenhieb – »du hast in der letzten Nacht der Polizei ein Geständnis gemacht. Du hast ihnen alles erzählt, was du von mir weißt, wo ich zu finden sei und wie ich aussehe.«

Ein langer Zeigefinger stach fast in das Gesicht des andern. Mit einem angstvollen Stöhnen suchte Scarfe zurückzuweichen, aber alle Kraft schien ihn verlassen zu haben. Sein Wille schien vollkommen gebrochen zu sein.

»Scarfe, ich kann vieles vergeben, aber für einen Mann, der mein Brot gegessen hat und mich verrät, kenne ich kein Erbarmen. Ich habe dir vorhin schon gesagt, daß ich Blutvergießen hasse. Ich meinte es genau so, wie ich es sagte, doch vielleicht nicht so, wie du dachtest.«

Gleich einem Habicht ergriff er mit einer plötzlichen Bewegung den unglücklichen Einbrecher bei der Kehle. Der Angstschrei erstarb gurgelnd, als die beiden stählernen Hände sich um Bill Scarfes Hals legten.

»Tote können kein Geständnis machen,« zischte der Fremde, »darum solltest du, bevor du gehst, denjenigen sehen, den du verraten hast!«

Während er den zuckenden Einbrecher noch mit einer Hand hielt, entfernte er mit der anderen Hand die Maske und sah ihm ins Gesicht.

In Scarfes Augen flackerte ein Erkennen, gemischt mit großer Überraschung, auf, dann erlosch ihr Licht, sie wurden starr und gläsern.

Am Morgen fand man ihn mit verzerrtem Gesicht, und an seinem Halse waren die Würgemerkmale sichtbar.


 << zurück weiter >>