Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel.
Ein Hund heult

Ferris Mance zahlte nicht, und trotzdem geschah ihm nichts. Zum erstenmal schien es der »Würger« mit seinen Drohungen nicht ernst zu nehmen. Wochen vergingen ohne jeden Zwischenfall, es schien so, als ob die Angelegenheit in Vergessenheit geraten sei. Da kam ein anderer Brief an. Er war kürzer gefaßt als der erste und verlangte eine bestimmte Antwort. Sollte diese nicht erfolgen, würde Ferris Mance es zu bedauern haben.

Mance trug den Brief sofort zu Bromley Kay, der sah sehr bekümmert aus, als er ihn las.

Weder in der Mordsache Camden Hale noch in der Plutarch-Sache war ein wesentlicher Fortschritt erzielt worden. Zeitungen und Öffentlichkeit kritisierten bereits die Unfähigkeit der Polizei.

»Behandeln Sie den Brief ebenso wie den ersten!« meinte Bromley Kay gleichgültig, als ob er ganz die Tatsache vergessen hätte, daß er damals Mance überlassen hatte zu tun, was er wollte.

»Danke vielmals,« grüßte Ferris Mance steif und verließ das Zimmer, während er den unangenehmen Brief auf Kays Tisch liegen ließ, wo der geplagte Beamte ihn einige Minuten später fand.

*

George Emmerson traf Peggy eines Nachmittags in der Oxfordstraße und lud sie sogleich zum Tee ein, und Peggy, die sich gern mit Männern bewundern ließ, nahm die Einladung bereitwilligst an.

»Eigentlich sollten Sie Ihre kostbare Zeit nicht so vergeuden,« sagte sie während des Tees.

Emmerson lächelte liebenswürdig. »Die Zeit, die ich mit Ihnen verbringe, ist niemals vergeudet. Wenn Sie mich heirateten, würde es für uns beide noch schöner sein.«

»Sie wissen ganz genau,« sagte Peggy liebenswürdig lächelnd, »daß ich Ferris Mance heiraten werde.«

»Davon weiß ich nichts, meine Liebe. Sie haben mir zwar so etwas Ähnliches erzählt, aber ich habe davon keine Notiz genommen, weil eine Frau meistens ihren Vorsatz ändert.«

»Ich wundere mich, daß Sie mich dann heiraten möchten, wenn das Ihre Meinung ist. Angenommen, ich würde versprechen, Sie zu heiraten, müßten Sie nicht fürchten, ich würde meinen Sinn wieder ändern?«

»Nun, ich würde schon dafür sorgen, daß Sie es nicht täten.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie mich zwingen würden?«

»Nein, so wollen wir nicht sagen, vielmehr würde der unwiderstehliche Reiz meiner Persönlichkeit Sie fesseln. Sie würden sich alle Tage im Sonnenschein meines Lächelns wärmen, und abends würden Sie auf der Lehne meines Stuhles sitzen, mir das Haar streicheln und süße Dinge ins Ohr flüstern.«

»Was für Dinge?«

»Süße Dinge, so daß ich keine Gelegenheit hätte, mich über angebrannte Koteletts oder zähes Fleisch zu beklagen. Ist es nicht wert, daran zu denken?«

»Ich glaube, ich würde es nicht ertragen können, George. Die Frau eines Polizisten zu sein, wäre für mich zu anstrengend. Dazu bin ich nicht geschaffen. Ich wünsche, selber gestreichelt und gehätschelt zu werden.«

»Auch ein guter Gedanke. Das verstehe ich großartig. Soll ich sofort anfangen?«

»Nicht hier, George. Überhaupt nicht. Sie vergessen ganz den armen Ferris Mance!«

»Sehr richtig.«

»Ferris zu vergessen? Ich bin sehr erstaunt über Sie.«

»Ich meine, ihn ›armer Ferris‹ zu nennen. Wenn er Sie halb so liebt wie ich, wird es für ihn ein harter Schlag sein, wenn ich Sie heiraten werde.«

»Sie dummer Junge, wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich Sie nicht heirate? Ich werde ihn heiraten. Sehen Sie dies an! Überzeugt Sie das auch nicht?«

Sie hielt den Goldfinger ihrer linken Hand hoch, und George starrte finster auf die Brillanten, die bei jeder Bewegung funkelten.

»Das überzeugt mich auch nicht. Nur ein einfacher, goldener Ring wird auf mich Eindruck machen, und den werden Sie von mir bekommen.«

»George, Sie sind wirklich der eigensinnigste Mensch, den ich kenne.«

»Nicht eigensinnig, nur beharrlich. Ich bin Ihr treuer Ritter. Wie heißt das Lied doch?«

George, wenn Sie anfangen zu singen, gehe ich hinaus.«

»So ist es richtig,« meinte George, »erst eine Einladung annehmen und dann fortgehen und mir die Rechnung überlassen. Der Mann muß immer zahlen. Dabei bin ich nur aufmerksam gegen Sie gewesen.«

»Sie sind nicht der einzige, der mir Aufmerksamkeiten erweist,« sagte das Mädchen mit einem Anflug von Ernst in ihrer Stimme. »Nein, ich meine nicht Ferris,« fuhr sie schnell fort, »es hat mich jemand während der ganzen Woche beobachtet und ist mir immer gefolgt.«

»Wirklich? Das ist wichtig, Peggy, darf ich mitkommen und sehen, wer es ist?«

»Wenn es Ihre kostbare Zeit erlaubt, können Sie es tun.«

»Alle Wege führen nach Rom, oder in meinem Falle nach Scotland Yard. Ich meine, man kann nie wissen, ob man nicht zufällig etwas Wichtiges entdeckt.«

»Ich finde, Sie nehmen sich nicht ernst genug,« bemerkte das Mädchen, als sie einen Autobus bestiegen.

»Mein Gott, denken Sie etwa, ich scherze, wenn ich nett zu Ihnen bin?«

»Sie sind gar nicht nett zu mir gewesen, Sie waren garstig. Wissen Sie, daß ich Sie gern haben könnte, wenn Ferris nicht wäre – wenigstens ein ganz klein bißchen?«

»Versuchen Sie es mit Coué,« schlug Emmerson vor, »sagen Sie jeden Morgen: ›Ich liebe George!‹ und Sie werden sehen, nach einiger Zeit wird es gehen.«

»Nein, danke schön. Ferris ist für mich genug.«

»Vielleicht. Ich glaube aber, daß Sie für Ferris viel zu gut sind. Ich habe gar nichts gegen ihn, außer, daß er viel zu viel an Sie denkt. Aber nun glaube ich, ich leide an dem gleichen Fehler. Ich wünschte, Sie wären nicht so schön, Peggy, vielleicht hätte ich dann mehr Aussicht.«

Die schlanke Hand des Mädchens faßte nur für den Bruchteil einer Sekunde die seine.

»Machen Sie sich nichts daraus, mein Freund!« sagte sie. »Sie werden schon eines Tages ein hübsches Mädchen finden. Ich bin überzeugt, daß Sie die Frau bekommen, die Sie verdienen.«

»Das ist es gerade, was ich befürchte,« sagte Emmerson schaudernd.

Als sie in der Nähe von Peggys Wohnung vom Autobus stiegen, sagte das Mädchen: »Sehen Sie sich nicht um, dort ist einer der Männer, die mich beobachten, dort auf der anderen Seite, der kleine Mann mit dem steifen Hut.«

Emmerson schaute über die Straße, sah den Mann scharf an, dann berührte er unauffällig sein rechtes Ohrläppchen. Der andere Mann berührte mit der rechten Hand sein Kinn.

»Da brauchen Sie nichts zu fürchten,« erklärte Emmerson mit einem Seufzer der Erleichterung, »das ist ein Mann von der Polizei. Ich möchte wissen, was hier in der Nachbarschaft los ist.«

»Sie meinen also, daß er gar nicht mich beobachtet, George?«

»Fragen Sie mich nicht, fragen Sie Ihr Gewissen. Wenn es Sie nicht anklagt, können Sie sich darauf verlassen, daß Sie nicht die Schuldige sind.«

»Ich würde Sie hereinbitten,« sagte sie, schnell den Gegenstand wechselnd, »es ist aber nicht nur schon zu spät, sondern ich habe auch schon zuviel Ihrer Zeit in Anspruch genommen, und außerdem würde es auch nicht recht gegen Ferris sein. Wenn Sie oft hier gesehen werden, werden die Leute darüber reden.«

»Und dies ist das Mädchen,« sagte Emmerson, zum Himmel aufblickend, »das mich aufforderte, sie zu besuchen, so oft ich hier vorbeikäme.«

»Ja, so oft Sie hier zufällig vorbeikommen. Aber das ist heute nicht der Fall.«

»Ich will nicht mit Ihnen streiten, Sie können Ihrem Gott danken, daß ich Sie nicht bei Ihrem Wort genommen habe und Sie als Schwester behandele. Ich küsse nämlich meine Schwester immer. Ich könnte also einen brüderlichen Kuß von Ihnen fordern.«

»Manchmal wünschte ich, Sie täten es,« sagte das Mädchen.

Ehe er sich von der Überraschung erholt hatte, war sie verschwunden. »Entweder ist sie kokett, oder meine Sache steht doch nicht so schlecht, wie ich dachte,« murmelte er.

Es war ein anderer George Emmerson, der nun dem Beobachter folgte. Emmerson ging an ihn heran. Ein Vorübergehender konnte denken, daß er sich nach dem Weg erkundigte; denn der Mann zeigte die Straße entlang. Aber was er sagte, hatte mit der Bewegung nichts zu tun.

Emmerson fragte nur: »Wer?«

Der andere antwortete ebenso einsilbig: »Die Dame.«

»Danke schön,« sagte Emmerson laut, »ich denke, ich werde den Weg jetzt finden.« Und er ging weiter.

Aber warum, warum ließ Scotland Yard Peggy beobachten, und warum verheimlichte man es ihm? Es sah so aus, als ob Bromley Kay eine besondere Information bekommen hätte, die er nicht kannte. Georg kehrte mit dem Entschluß zurück, seine freie Zeit zu eigenen Beobachtungen zu benutzen.

Am nächsten Morgen stand in einer Spalte des »Planeten« unter »Verloren« folgende Anzeige: »D. W. Nein F. M.« Bromley Kay übersetzte es richtig: »Dem Würger. Nein. Ferris Mance.«

»Da wird bald etwas passieren,« sagte er zu sich selbst.

»Rühren Sie sich nicht!« zischte eine Stimme. Peggy Forrest, die sich bei einem leisen Geräusch in ihrem Zimmer im Bett aufgerichtet hatte, fragte zitternd: »Wer ist dort?«

»Geht Sie nichts an,« sagte die Stimme. Die klang verstellt, aber etwas darin kam ihr bekannt vor. Was das war, konnte sie nicht sagen. Später kam es ihr plötzlich zum Bewußtsein.

Der Eindringling fuhr fort: »Es wird Ihnen nichts geschehen. Wenn Sie sich aber wehren oder schreien, wird Ihr Leben nicht einen Pfifferling wert sein. Ich werde Sie mit allen Decken aufheben. Sie brauchen sich bestimmt nicht zu fürchten.«

Vor unbekannter Angst zitternd, lag das Mädchen still. Eine dunkle Gestalt beugte sich über sie. Sie hörte ein schrilles Lachen, und ein Tuch mit einem eigenartigen, beißenden Geruch wurde ihr aufs Gesicht gepreßt.

Sie versuchte sich zu wehren. Sie hatte das Gefühl, als ob sie ersticke, und öffnete den Mund, um Luft zu bekommen. Die Dunkelheit um sie schien zurückzuweichen wie eine schwarze Wand, die der Wind fortführt. Dann wurde sie bewußtlos.

»Verwünschte Angelegenheit,« sagte die dunkle Gestalt zu sich, »aber es mußte sein.«

Der Mann beugte sich nieder, faßte das Mädchen und wickelte die Decken fest um sie. Ohne das Licht anzuzünden, trug er sie fort. Er bewegte sich, als seien ihm die Räume vollkommen vertraut.

Am Rande des Bürgersteiges hielt ein Auto, ein Mann stand an der Tür des Wagens.

Gerade als der andere mit seiner Last in den Armen aus der Haustür kam, näherte sich ein Hund und lief auf den Mann zu, der am Wagenschlag stand. Der Hund betrachtete ihn einen Augenblick nachdenklich, dann lehnte er sich an die Beine des Mannes.

Anscheinend war der Mann kein Tierfreund; er brummte etwas vor sich hin und versetzte dem Hund einen Tritt. Er traf ihn in die Seite. Das Tier stimmte ein langes Geheul an.

Der Mann, der den Hund getreten hatte, fluchte heftig, und der andere, der das Mädchen in seinen Armen trug, sagte wütend: »Warum mußtest du auch den Köter stoßen?«

Ehe der erste Mann antworten konnte, hörten sie das scharfe Klappern herbeieilender Füße. Mehrere Gestalten lösten sich aus dem Dunkeln und stürzten sich auf das Paar. Im nächsten Augenblick entstand ein wildes und wüstes Durcheinander.

Der Mann, der das Mädchen trug, sprang in den Führersitz und legte seine Last neben sich, während sein Genosse den Rückzug deckte. Einer der Verfolger sprang auf das Trittbrett und faßte das Steuerrad.

Der Mann im Wagen nahm einen Schraubenschlüssel und schlug wütend und blind auf den anderen ein. Der Bursche sackte zusammen.

Er schaute sich schnell um und sah, daß sein Helfer noch auf den Füßen stand und sich die Angreifer vom Leibe hielt.

Blitzschnell griff er mit der Hand in die Tasche. Auf dem blanken Lauf eines Revolvers blitzte das Sternenlicht. Er feuerte einmal, zweimal. Einer der Angreifer fuhr mit der Hand an den Arm und stieß einen Schmerzenslaut aus, während sein Gegner taumelte und zu Boden fiel.

Der Mann im Wagen kuppelte ein, der Motor hatte während der ganzen Zeit leise gebrummt, und der Wagen schoß die Straße hinunter, bevor noch der dritte Mann seine Gedanken sammeln konnte. Der ganze Vorgang hatte nicht länger als eine Viertelminute gedauert.

Der dritte Mann starrte dem Wagen nach, und da er sah, daß eine Verfolgung nutzlos sei, wandte er seine Aufmerksamkeit seinem Genossen zu.

»Verletzt?« fragte er.

»Ja, am Arm,« sagte der andere einsilbig, »wie geht es denn dem andern Burschen?«

Er zeigte mit der nicht verletzten Hand auf den Bürgersteig.

Sein Gefährte bückte sich: »Ich glaube, er ist erledigt. Einen Augenblick, ich will nur ein Streichholz anzünden.«

Beim Schein der zitternden Flamme schauten sie beide in das weiße, leblose Gesicht, das sie anstarrte.

»Das Gesicht kenne ich,« sagte der Mann mit dem verletzten Arm, »ich habe es schon früher gesehen. Es ist Comstock, der Besitzer des gelben Wagens, der nach dem Plutarch-Raub verschwand. Wo ist denn eigentlich Pagson?«

Detektiv Pagson, der den Plutarch-Raub bearbeitet hatte, lag mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht nach unten, auf der Straße. Der Schlag mit dem Schraubenschlüssel, den der »Würger« ihm versetzt hatte, hatte seine Schädeldecke wie eine Eierschale zertrümmert.


 << zurück weiter >>