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Sechstes Kapitel.
Der »graue Bock«

Zum »grauen Bock« kam eines Abends ein gewisser Bill Scarfe und brachte ihm Nachrichten, bei denen der abgefeimte Halunke vor Überraschung und Wut fluchte.

Der »graue Bock« wohnte am Rande Ostends und unterhielt als ehrbarer Bürger ein Trödel- und Altwarengeschäft. Er hatte seinen Beinamen erhalten, weil zwei widerspenstige Locken seines grauen Haares wie die Hörner eines Ziegenbockes aussahen, und das schmale Gesicht verstärkte diesen Eindruck. Andere erzählten, daß er in früheren Jahren in der Trunkenheit nicht wie die andern weiße Mäuse, sondern graue Ziegen gesehen hätte.

Mochte es sein, wie es wollte, jedenfalls hatte er den Namen erhalten, und er gehörte so zu ihm, daß sein wirklicher Name gar keine Bedeutung mehr hatte.

Die Polizei kannte den Mann gut, obgleich sie gern noch mehr gewußt hätte. Es gab noch allerlei dunkle Stellen in seinem Leben, die sie gern beleuchtet hätte, aber es bot sich niemals die Gelegenheit dazu. Man hatte sich die größte Mühe gegeben und mehr als einmal versucht, ihm etwas anzuhängen. Doch sein Glück war sprichwörtlich geworden, es war ihm immer gelungen, sich herauszuwinden, kaum, daß ein kleiner Schatten auf seinen Charakter fiel. Wenigstens konnte er sich rühmen, niemals das Gefängnis von innen gesehen zu haben.

Der Graue hatte das Gefühl, als ob das Interesse der Polizei etwas zu groß sei. Als ordentlicher Bürger schätzte er den Schutz der Polizei, aber als sie anfing, ihm unerwartete Besuche abzustatten, fand er, daß sie ihr Recht überschreite und ihn belästige. Mehr als einmal hatte ihre Sorge um sein Wohlbefinden dazu geführt, daß eine interessante Gesellschaft hastig aufgelöst werden mußte. Kein noch so großzügiger Gastgeber kann es ohne Bitterkeit mit ansehen, wenn seine Gäste über die Hofmauern klettern müssen.

Zurück zu Bill Scarfe.

Als Bill seine Geschichte erzählte, begann der »graue Bock« das spitze Kinn zu streichen und an der Nase entlangzuschielen. Bei anderer Gelegenheit hätte er über Scarfe gelacht und seine Geschichte als Zeichen einer besonders großen Furcht angesehen; aber sie war zu ausführlich erzählt, um erfunden zu sein. Daß der Fremde seinen Beinamen gekannt hatte, ließ ihn allerlei befürchten. Er hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen gebildete Verbrecher. Er hatte das Gefühl, als ob sie in unlauteren Wettbewerb mit ihren weniger kostspielig erzogenen Brüdern treten und den Angehörigen der Unterwelt, die die natürlichen oder unnatürlichen Feinde der Gesellschaft sind, das Brot aus dem Munde nähmen.

»Was denkst du darüber?« fragte Bill Scarfe zum Schluß.

Sein Gegenüber schüttelte den grauen Kopf. »Das ist jetzt noch schwer zu sagen,« meinte er zurückhaltend, »wenn alles stimmt, wird er wohl tun, was er gesagt hat. Ich werde mit ihm sprechen, und dann werden wir schon einig werden. Hast du eine Ahnung, was in dem Paket war?«

»Ja,« sagte Bill Scarfe, »Banknoten. Das Papier war etwas eingerissen, und ich sah sie.«

»Oh!« stieß der Graue hervor. Er war von der wichtigen Mitteilung überrascht, obgleich er es sich nicht merken lassen wollte.

»Ich denke, du kannst jetzt gehen,« sagte er kühl; denn er wollte allein sein, um die Lage zu überdenken.

Bill Scarfe erhob sich bereitwillig von seinem Sitz und stülpte den Hut auf den Kopf. Er war an solche kurzen Abschiede gewöhnt.

Der »graue Bock« führte ihn zu einer Seitentür und ließ ihn auf eine dunkle, enge Gasse hinaus. Als er zurückkehrte, war es schon dunkel geworden, er ging und schloß den Laden. Das dauerte einige Zeit, und erst nach einer halben Stunde kehrte er in das Wohnzimmer zurück, wo er Bill Scarfe empfangen hatte.

Als er über die Türschwelle trat, erstarb das selbstgefällige Lächeln auf seinen Lippen; denn dort, in seinem eigenen Stuhl, saß ein großer, kräftig gebauter Mann mit glattem, schwarzem Haar, der sich die Hände an dem lustigen Feuer wärmte. Bei dem erstaunten Ruf des andern wandte er sich um, und der »graue Bock« erschrak etwas, als er sah, daß das Gesicht des Fremden von einer Maske verhüllt war.

»Wer – was, zum Teufel, willst du hier?« fragte der »graue Bock«. Er versuchte mit größerer Sicherheit zu sprechen, als er tatsächlich fühlte.

Die durchdringenden, dunklen Augen, die durch die Öffnungen der schwarzen Maske blickten, starrten ihn an.

»Hallo,« sagte der Fremde, »du scheinst dich über meine Anwesenheit nicht gerade zu freuen.«

»Verdammt nochmal! Ich kenne dich nicht.«

»Tatsächlich nicht? Ich dachte, Bill Scarfe hätte dir alles über mich erzählt.«

Der Mund des anderen blieb offen. »Wie kommst du darauf?« fragte er.

»Es war doch Bill, den du vor einer Weile hinausließest, nicht wahr? Ich glaube, ihn erkannt zu haben. Aber er konnte dir natürlich nicht meinen Namen nennen, wenn er nicht gerade einen erfunden hat. Tatsächlich, mein lieber ›grauer Bock‹, ich glaube, es wird Zeit, daß ich mir auch einen ›nom-de-guerre‹ zulege; falls dein Französisch nicht ganz auf der Höhe ist: Das ist dasselbe wie ein Spitzname. Dann weißt du doch wenigstens, wie du mich anreden kannst. Kannst du nicht vielleicht einen passenden vorschlagen?«

»Warum denn ich?« entgegnete der Graue ruhig. Es war etwas an diesem höflichen Fremden, das ihm gefiel. »Ich denke, das werde ich lieber dir überlassen?«

Wie du wünschst. Ich betrachte das als ein Kompliment. Ich hoffe, daß deine Anhänger auch alle so leicht zufriedengestellt sein werden wie du. Aber wirklich, wenn ich zu euch komme, um eure Unternehmungen zu leiten, müßt ihr einen Namen haben, um mich anreden zu können, mein wirklicher Name eignet sich nicht dazu.«

»Ich verstehe dich nicht,« sagte der »graue Bock« höflich, »ich weiß nicht, was du eigentlich willst.«

»Mein lieber Freund, tu nicht so, als ob du so beschränkt seist, du wirst jetzt nicht von der Polizei gefragt. Du kannst mir glauben, ich weiß mehr von dir als die Polizei. Ich kann dir jede Einzelheit von allen Unternehmungen aufzählen, an denen du in letzter Zeit beteiligt warst. Ich weiß zum Beispiel, daß du die Pentland Smaragden hattest, obgleich die Polizei glaubte, daß dein alter Bekannter, Mr. Donald McNab, derjenige sei, der sie aufbewahre.«

Die Augen des Grauen verkleinerten sich, und sein Gesicht wurde ein wenig blaß; denn das war eine Angelegenheit, die er von Anfang bis zu Ende allein erledigt hatte, und er glaubte, annehmen zu können, daß er seine Spuren erfolgreich beseitigt hätte.

»Was willst du denn?« fragte er, um die Sache zu Ende zu bringen.

»Weiter nichts, als dich zum Mitglied meiner Organisation machen,« sagte der Mann in der schwarzen Maske gelassen, »mit meinem Verstand und euren Erfahrungen werden wir imstande sein, eine ganze Menge des überflüssigen Geldes dieser Stadt zu bekommen.«

»Ich habe das Handwerk aufgegeben,« sagte der Alte mit geheuchelter Entrüstung.

»Wie schade! Doch wenn du etwas zurückdenkst, wirst du finden, daß das doch nicht ganz stimmt. Wer stahl vor ungefähr einem Monat am hellen Tage Brells Brillanten? Wer holte sich vergangenen Winter die Devon-Perlen? Du, mein Sohn, Du!«

Der Graue schluckte und hob eine Hand, um das Zucken des Mundes zu verbergen.

»Tu nicht so, als ob du ein bekehrter Sünder seist!« fuhr der andere fort. »Ich glaube es Dir doch nicht. Du bist genau der, der du immer warst, vielleicht noch etwas schlimmer. Du siehst, ich weiß ebensoviel, als ob ich in deinem Kopfe säße und deine eigenen Gedanken dächte. Aber ich möchte nicht, daß du mir aus Furcht dienst, ich möchte vielmehr, daß du mich liebst. Kannst du dir das vorstellen?« Er lachte in einer seltsamen, schrillen Art, und trotz seiner starken Nerven erschauerte der »graue Bock«.

»Was meinst du mit all diesem Gerede?« fragte er in einem freundlichen Ton, hinter dem er seine Nervosität zu verbergen suchte, »was soll ich denn für dich tun?«

»Eine Menge! Ich habe viele Fälle, die ich nicht selbst ausführen kann oder will. Ich brauche Einbrecher und geschickte Arbeiter. Burschen, die flink bei der Arbeit sind und schnell verschwinden können. Ich werde ein Heer von Spezialisten zusammenbringen. Es soll aus allen Gruppen bestehen, aus geschickten Fassadenkletterern, gewandten Einbrechern, den besten Dieben und klugen Erpressern. Wir wollen eine Aristokratie des Verbrechertums bilden. O, denke daran, es werden goldene Zeiten für die Unterwelt kommen!«

»Es gibt aber auch eine Menge Verräter unter uns.«

Das Kinn des Verführers zuckte, die dunklen Augen blitzten.

»Gott sei dem Mann gnädig, den ich beim Verrat ertappe!« Der Fremde mit der schwarzen Maske kam näher und legte die Hände auf die Schultern des Alten, und dieser abgefeimte Sünder schauerte, als er fühlte, wie ihn die stählernen Finger packten. Selbst durch den Rock erfaßten sie ihn wie ein Schraubstock.

»Ich würde das Leben aus dem Manne herauspressen, wie ich einen Käfer unter meinem Fuß zertrete,« drohte der Unbekannte, »ich trage immer eine Waffe bei mir, aber wenn ich es irgend vermeiden kann, gebrauche ich sie nicht. Sie macht zuviel Geräusch. Ich ziehe es vor, meinen Gegner so zu nehmen« – er hob seine Hände, und die langen, schmalen Finger öffneten und schlossen sich in der leeren Luft – »und ihm das Leben auszupressen.

Da hast du, was ich bin – ›der Würger!‹ Der Name ist so gut wie jeder andere. So erledigte ich auch Camden Hale, mit den bloßen Händen. Er versuchte mich zu überlisten und verlor dabei sein Leben und erschreckte den armen Bill Scarfe.

Entschuldige, wenn ich dich geängstigt habe,« sagte er mit einem eigenartigen Gurren in der Stimme, »manchmal geht mein Gefühl mit mir durch.«

›Wie ein Teufel!‹ dachte der »Bock«, hütete sich aber, den Gedanken auszusprechen. Der Fremde ließ sich in den Stuhl am Kamin fallen: »Ich bin dabei, einen Plan auszuführen, der uns eine Menge Geld bringen wird. Zunächst brauche ich einen Schofför, auf den wir uns verlassen können, der zu uns hält und schweigt. Kannst du mir einen verschaffen?«

»Ja, das kann ich. Wann brauchst du ihn?«

»So schnell wie möglich.«

»Ich kann das morgen erledigen. Aber was ist das für ein Plan, und wie groß ist mein Anteil?«

»Du brauchst dich nicht zu sorgen, wieviel das ist, jedenfalls ist es mehr, als du erwartest. Was den Plan betrifft, davon werde ich dir erzählen, wenn es Zeit ist, vorher nicht. Ich habe zuviel gute Pläne in die Brüche gehen sehen, weil die Leute ihren Mund nicht halten konnten. Ich werde jedem sagen, was er und sein Mitarbeiter zu tun hat.«

Der Fremde schwieg einen Augenblick, um sich eine Zigarette anzuzünden. Als er das Streichholz hob, zögerte er und schien auf etwas zu lauschen.

»Jemand klopfte an die Ladentür,« sagte er, »geh und sieh nach, wer es ist!«

»Ich habe nichts gehört.«

»Ob du es gehört hast oder nicht,« herrschte der andere ihn an, »tu, was ich dir sage!«

Vor sich hin brummend, ging der »graue Bock« den Flur entlang und stolperte durch den dunklen Laden. Er öffnete die Tür und sah hinaus, die Straße lag fast einsam da. An der Ecke gingen zwei Gestalten unter dem flackernden Licht einer Laterne vorüber.

»Es ist niemand da,« brummte er und stolperte wieder zurück.

An der Tür des Wohnzimmers blieb er mit einem Ausruf des Erstaunens stehen. Das Zimmer war leer. Der Mann mit der schwarzen Maske war verschwunden. Die Zigarette, die er geraucht hatte, lag glimmend vor dem offenen Kamin.


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