Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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24

Clifford Lynne öffnete das Fenster und schaute hinaus. Der Draht war oberflächlich an der Wand entlang geführt, die sein Anwesen von dem Nachbargrundstück trennte, und verschwand über dem Dach der Garage nach der Hintergasse zu.

»Es ist gut, Simmons«, sagte er. Ohne ein Wort zu verlieren, ging er aus dem Zimmer über den Hof auf die Garage. Zuerst konnte er den dünnen Draht nicht sehen, aber nachdem er einige Zeit danach gesucht hatte, entdeckte er ihn, wie er entlang der Hinterwand lief, und konnte seine Spur bis zum Ende der Hintergasse verfolgen, wo er in einem offenen Fenster verschwand, das offensichtlich zu einer Chauffeurwohnung gehörte.

Ein Blick auf das Äußere des Hauses sagte ihm, daß die Räume nicht bewohnt waren. Die Fensterscheiben waren nicht geputzt, eine war zerbrochen, und er erinnerte sich, daß weiter unten in der Straße, in der er wohnte, ein leeres Haus stand. Diese Garage gehörte anscheinend dazu.

Ein großes Tor führte zu dem Wagenraum und eine schmale Tür zu der oberen Wohnung. Sie war nur angelehnt, und ohne Zögern öffnete er sie und stieg die enge Treppe hinauf. Oben befanden sich zwei leere Räume. Nur die Überbleibsel, die der letzte Bewohner zurückgelassen hatte, lagen umher. Der hintere Raum hatte als Schlafkammer gedient. Eine alte eiserne Bettstelle ohne Bettzeug war darin zurückgeblieben. Er ging in das vordere Zimmer, und hier fand er, was er erwartet hatte: einen zweiten kleinen schwarzen Kasten, genau wie der unter seinem Bücherschrank, und außerdem noch ein Telephon, das in guter Ordnung war, denn das Amt meldete sich auf seinen Anruf.

Niemand war in dem Raum, das hatte auch seinen guten Grund, denn der Horcher, der die ganze Unterhaltung durch das Mikrophon abgehört und sie an Fing-Su weitergegeben hatte, war ja durch seine Unterhaltung mit dem Diener genügend gewarnt. Er hatte natürlich die Hintergasse in demselben Augenblick verlassen, als Clifford sie betreten hatte.

Ein Chauffeur, der ihn gesehen hatte, beschrieb ihn als einen dunklen, militärisch aussehenden Mann mit einem bösen Gesichtsausdruck, und diese Beschreibung identifizierte ihn mit Major Spedwell.

Clifford Lynne ging zu seinem Eßzimmer zurück und fand Leggat in gedrückter Stimmung. Er goß sich gerade ein Glas Whisky mit unsicherer Hand ein.

»Was ist los? Was hat das alles zu bedeuten?« fragte der starke Mann voll Furcht.

Obgleich es Zeitvergeudung war, diesem betrunkenen Prahlhans die Gefahr klarzumachen, in der er schwebte, erzählte ihm Lynne doch, was er entdeckt hatte.

»Sie müssen sehr vorsichtig sein, Leggat«, sagte er. »Wenn Fing-Su weiß, daß Sie ihn betrogen haben, dann würde ich kein Kügelchen eines chinesischen Rosenkranzes für Ihr Leben geben. Für Sie wäre es nur gut, wenn der Lauscher Ihre Stimme nicht erkannt hätte.«

Aber gleich darauf erfuhr Leggat doch, wer der Horcher war, und dann war es ja klar, daß die Möglichkeit, daß Major Spedwell Leggats Stimme nicht erkannt hätte, kaum in Betracht kam.

»Fing-Su – bah!«

Trotzdem war ein unbehaglicher Unterton in Leggats schallendem Gelächter. Er hatte schon öfter recht unerfreuliche Situationen durchgemacht und war schon früher von wütenden Aktionären bedroht worden, die ihr sauer erspartes Geld von ihm zurückverlangten. Aber – der Chinese war doch anders einzuschätzen.

»Mein lieber guter Freund«, sagte er pathetisch. »Lassen Sie doch Fing-Su etwas gegen mich unternehmen! Das ist aber auch alles!«

»Wann werden Sie ihn wiedersehen?« fragte Lynne.

»Morgen abend. Dann ist wieder Logensitzung. Ein verdammter Blödsinn! So nenne ich so etwas! Aber man muß den Unfug mitmachen, wenn es auch nur dazu dient, den verrückten Teufel zu belustigen!«

Lynne sah ihn mit ungewöhnlichem Ernst an. Er allein von allen begriff die Mentalität dieses Chinesen und überschaute alle verbrecherischen Möglichkeiten, zu denen ihm ein ungeheurer Reichtum die Macht gab.

»Wenn Sie meinen Rat annehmen, Leggat, werden Sie morgen in der Loge fehlen«, sagte er. »Verlassen Sie England so lange, bis ich mit dieser Bande abgerechnet habe. Fahren Sie nach Kanada, morgen geht ein Dampfer dorthin ab. Wenn Sie sich beeilen, können Sie Ihren Fahrschein und Ihren Paß noch in Ordnung bringen.«

Leggat setzte sein Glas geräuschvoll auf den Tisch.

»Hier bin ich, und hier bleibe ich«, sagte er kühn. »Kein Chinesenkuli kann mich aus England vertreiben. Vergessen Sie nicht, Lynne, ich kann mit dem Vogel umgehen . . .!«

Clifford Lynne hörte ihm nicht zu. Sein Geist beschäftigte sich zu sehr mit all den möglichen Folgen, welche die Entdeckung der Geheimleitung haben konnte, als daß er auf das Geschwätz des anderen geachtet hätte. Er warnte Leggat noch einmal, bevor dieser fortging, und ließ ihn in seinem eigenen Wagen durch die hintere Garage nach Hause bringen. Dann ging er nochmals in die Hintergasse und stellte noch einige Nachforschungen an. Als er wußte, daß der Horcher niemand anders als Major Spedwell gewesen sein konnte, gab er sich viel Mühe, mit Leggat telephonisch in Verbindung zu kommen. Aber der meldete sich nicht.

Der Mann schwebte wirklich in großer Gefahr. Wie weit würde Fing-Su gehen? Sicherlich konnte man auf alles gefaßt sein, nach dem zu urteilen, was bereits geschehen war. Er jedenfalls zog ganz andere Schlußfolgerungen aus der Tätigkeit der »Freudigen Hände« als Leggat. Diese Logenversammlungen mochten vom europäischen Standpunkt aus lächerlich erscheinen, aber sie konnten auch Verbrechen und Tod bedeuten.

An diesem Nachmittag hatte Clifford eine Unterredung mit einem hohen Beamten in Scotland Yard. Mit einem Empfehlungsbrief vom Auswärtigen Amt ging er zu dem strengsten aller öffentlichen Ämter. Die Unterredung hatte aber bedeutend länger gedauert als er vermutete. Das Ergebnis war, daß er einer seiner schwersten Sorgen enthoben wurde. Von Scotland Yard fuhr er direkt nach Sunningdale. Wenn er sich jetzt noch beunruhigt fühlte, so war es die Sorge um das Ergehen Ferdinand Leggats.

Die Tür zu seinem Haus war verschlossen, und er fand Joe zusammengekauert auf dem Sofa schlafen. Mr. Bray erwachte in aufsässiger Stimmung. Er war böse, daß er wie ein Gefangener eingeschlossen war. Cliffords Scharfsinn entging es nicht, daß das wahrscheinlich im voraus eine Rechtfertigung dafür sein sollte, daß er sich nicht an seine Vorschriften gehalten hatte.

»Das schadet meiner Gesundheit und schlägt mir aufs Gemüt.« Aber er schaute dabei doch schuldbewußt seinen Partner an, vor dem er großen Respekt hatte.

»Du bist draußen gewesen!« sagte ihm Clifford auf den Kopf zu.

Es wäre auch wirklich nicht viel dabei gewesen, wenn er es getan hätte. Niemand in Sunningdale kenne Joe, und mit Ausnahme von Fing-Su war es noch zweifelhaft, ob jemand in England ihn erkannt hätte.

»Ich bin nur ausgegangen, um ein paar Blumen zu pflücken«, erklärte Joe. »Weißt du, Blumen haben so etwas Sonderbares, Cliff, das mich ganz weich macht. Du kannst spionieren gehen. Du bist natürlich hart gesotten! Aber wenn man so auf der Wiese alle diese Glockenblumen sieht –«

»Es ist zu spät für Glockenblumen, die blühen jetzt nicht mehr, wahrscheinlich meinst du Löwenzahn«, sagte Cliff kühl, »oder vielleicht Steckrüben?!«

»Nein, ganz bestimmt Glockenblumen!« sagte Bray mit einem heftigen Kopfnicken, »sie hatten sich gleichsam unter den Bäumen eingenistet – und Cliff« – er hustete – »ich habe das schönste Mädchen getroffen, das du jemals gesehen hast!«

Clifford sah ihn entgeistert an, und Mr. Bray errötete. War das der kühne Abenteurer mit dem eisernen Willen? Der Mann, der von Armut zu Reichtum gekommen war durch beispiellose Verachtung aller Gesetze, die in China Land und Gebräuche beherrschten? Er war vor Verwunderung sprachlos.

»Warum hätte ich sie auch nicht treffen sollen?« sagte Joe keck. »Ich bin noch kein alter Mann – nicht weit über fünfzig.« Er warf Clifford diese Herausforderung an den Kopf, aber der kümmerte sich nicht darum. »Es gibt viele Leute, die nicht glauben, daß ich schon fünfzig Jahre alt bin!«

»Du bist ein hundertjähriger alter Sünder, und wenn man deinen Verstand ansieht, ein zehnjähriges Kind!« sagte Clifford lächelnd und in guter Laune. »Wer ist sie denn, Joe?«

»Das weiß ich nicht. Ein schönes Mädchen mit wundervoller Figur. Ein wenig rothaarig, aber das zeigt, daß sie Geist hat. Was für ein Mädchen!« Er warf den Kopf ekstatisch hin und her.

»Wundervolle Figur – meinst du vielleicht dick?« fragte Clifford brutal.

»Nein, wohlproportioniert!« wich Joe aus. »Und jung. Sie kann höchstens fünfundzwanzig sein. Und ein wundervoller Teint, Cliff – es blühen Rosen auf ihren Wangen!«

»Du meinst sie ist rot?« fragte sein wenig romantischer Freund und lachte. »Hast du sie denn nach ihrem Namen gefragt?«

»Nein, das tat ich nicht!« Joe ereiferte sich. »Das verrät doch keine gute Erziehung, wenn man Leute direkt nach ihrem Namen fragt –«

»Wenn du sie gefragt hättest, würde sie dir gesagt haben, daß sie Mabel Narth heißt!«

Das Gesicht des alten Mannes wurde bedenklich lang.

»Mabel Narth?« fragte er mit hohler Stimme. »Was, meine eigene Nichte!«

»Sie ist ebensowenig deine Nichte wie ich dein Onkel bin«, sagte Clifford. »Der Stammbaum stimmt nicht ganz. Sie ist deine Cousine Nummer dreiundzwanzig im neunzehnten Grad. Die Verwandtschaft ist so weit entfernt, daß man große Mühe hat, sie durch ein gewöhnliches Fernrohr festzustellen. Aber Joe, bei deinem Alter!«

»Fünfzig«, murmelte Joe. »Männer meines Alters sind beständiger als junge.«

»Ich darf wohl annehmen, daß du nicht gesagt hast, wer du bist?«

»Nein, ich habe ihr nur angedeutet, daß mein Einkommen zum Lebensunterhalt reicht.«

»Du hast ihr also gesagt, daß du reich bist? Haben ihre Augen nicht aufgeleuchtet?«

»Was willst du damit sagen?« fragte Joe mit einem Ton, als ob er sich verteidigen müßte.

»Du bist ein verrückter Kerl«, sagte Clifford. »Was macht der Kuli?«

»Dem geht es gut. Er hat die ganze Zeit gebeten, ihn fortzulassen, aber ich habe es nicht getan, bevor du kamst.«

»Er kann heute abend weggehen – wenn ich an ihn denke, bekomme ich direkt Heimweh nach einem ordentlichen Bambusstock und nach dem Fußboden des Yamen! Ich vermute, daß du weißt, daß er uns ersticken wollte? Diesen Morgen fand ich den Beutel mit Schwefel, den er in den Schornstein zu werfen versuchte.«

Clifford ging hinaus zu dem verschlossenen Abwaschraum, um seinen Gefangenen aufzusuchen. Er sah nicht mehr sehr kampfesmutig aus, als er dort saß, ein altes Betttuch um die Schultern geschlungen. Lynne untersuchte seine Wunde. Zu seiner Überraschung hatte sich sein Zustand bedeutend gebessert.

»Lassen Sie mich vor Sonnenuntergang frei,« bat er, »denn ich bin in diesem Land fremd, und für einen Mann wie mich ist es schwer, den Weg nach der großen Stadt zu finden.«

Irgend etwas in dem Betragen des Mannes erregte Cliffords Argwohn, und er erinnerte sich an Joes Mitteilung.

»Du sorgst dich sehr darum, mein Haus zu verlassen«, sagte er. »Gib mir den Grund dafür an!«

Der Kuli senkte mürrisch den Blick.

»Du hast Angst!«

Die Augen des Chinesen blieben auf den Boden geheftet.

»Du hast Angst, daß du diese Nacht sterben sollst!«

Diesmal saß der Hieb. Der Chinese fuhr zusammen und hob den Kopf, indem er Lynne furchtsam ansah.

»Man sagt von dir, daß du ein Teufel bist und in den Herzen der Menschen lesen kannst. Was du jetzt sagst« – man konnte die Verzweiflung aus seinen Worten hören – »ist wirklich wahr. Ich fürchte zu sterben, wenn ich diese Nacht in deinem Hause zubringen muß.«

Clifford pfiff leise vor sich hin.

»Um welche Stunde würdest du sterben?«

»Zwei Stunden nach Mondaufgang«, antwortete der Kuli, ohne zu zögern. Clifford nickte.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte er und zeigte ihm den Weg nach London.

Als er zu Joe kam, wiederholte er ihm den Hauptinhalt der Unterredung.

»Der große Angriff kommt heute abend. Was sollen wir nun tun? Wir könnten nach Aldershot telephonieren, daß man uns ein halbes Bataillon zu Hilfe schickt, wir könnten uns blamieren und die Ortspolizei benachrichtigen, dann wären wir für den Tod dieser ehrbaren, nicht mehr ganz jungen Leute verantwortlich – oder wir können dem Angriff selbst standhalten und einen netten, ruhigen Kampf ausfechten.«

Er gewann der Sache die humorvolle Seite ab. Er setzte sich nieder und lachte leise in sich hinein. Sein Gesicht rötete sich, und Tränen traten ihm in die Augen. Und wenn Clifford Lynne so lachte, konnte sich irgendein anderer in acht nehmen.

Slaters Cottage und Sunni Lodge waren eine Meile von Sunningdale entfernt. Sehr isoliert, obgleich sie nur einige hundert Meter von der Straße nach Portsmouth ab lagen, wo immer Verkehr herrschte. Der nächste Nachbar von Mr. Narth war der Earl von Knowesley. Er war aber immer nur etwa einen Monat anwesend, denn er stammte aus dem Norden, liebte Lancashire und fühlte sich nur unter seinen Landsleuten wohl.

Auf der anderen Seite, hinter Slaters Cottage, dehnte sich das unerschlossene Gelände einer Terraingesellschaft aus.

»Ich bin der Meinung, daß sie darauf aus sind, ein Dokument aus meiner Brieftasche zu stehlen, Joe. Es wird ein Feuergefecht mit Schalldämpfern werden, wenn Spedwell die Sache leitet. Ich habe nämlich erfahren, daß er der Chef des Militärstabes ist.«

Gegen Abend bedeckte sich der Himmel, und es herrschte eine drückende Schwüle. Die Sonne war hinter großen Wolkenburgen verschwunden. Clifford Lynne nützte die letzten hellen Stunden aus, um Sunni Lodge einen Besuch abzustatten. Aber er ging nicht ins Haus, da er sich wohl denken konnte, daß Stephen Narth keinen großen Wert darauf legte, ihn zu sehen. Statt dessen machte er ohne Erlaubnis einen Rundgang durch den Park und sah in der Ferne Joan über den Tennisplatz gehen.

Er erzählte ihr kurz von allen Vorsichtsmaßregeln, die er für ihren Schutz getroffen hatte.

»Ich denke, die Gefahr wird in einer Woche vorüber sein. Ich habe das Auswärtige Amt bis zu einem gewissen Grade interessieren können, auch ist es mir gelungen, Scotland Yard zu alarmieren.«

»Ich kann nicht begreifen, was der Grund für all diese Unruhe und Aufregung ist«, sagte sie. »Soviel ich verstehe, handelt es sich um die Gründeraktie, die Fing-Su haben möchte?«

Er nickte.

»Warum ist das denn so wichtig? Mr. Narth versuchte, es mir zu erklären, aber ich bin genau so klug wie vorher.«

Sie gingen durch ein dünnes Föhrengehölz, das die westliche Grenze des Narthschen Landbesitzes umsäumte. Vom Hause aus konnte man sie nicht beobachten.

»Ich rechnete schon immer mit der Möglichkeit, daß Joe irgend etwas außergewöhnlich Überspanntes mit seinem Geld anfangen würde. Die Gründeraktien, wie wir sie nennen – in Wirklichkeit würden sie besser Verwaltungsteile heißen – wurden ausgegeben, um die Kontrolle über die Gesellschaft fest in der Hand zu behalten, was sich auch ereignen möge. Ursprünglich sollte ich fünfundzwanzig und Joe vierundzwanzig Stück erhalten. In Ergänzung dazu wurde eine gegenseitige Vereinbarung getroffen, daß für den Fall des Todes der überlebende Teil die Anteile des anderen erben sollte. Als ich nun auf einer Geschäftsreise nach Peking war, erhielt ich ein Telegramm von Joe, in dem er anfragte, ob ich etwas dagegen hätte, daß der Vater Fing-Sus auch einige Aktien erhielte. Unglücklicherweise hatte ich Joe, bevor ich Siangtan verließ, gerichtliche Generalvollmacht gegeben. Als ich zurückkam, mußte ich entdecken, daß der verrückte alte Kerl diesem Chinesen nicht nur neun Anteile ausgeliefert, sondern die übrigen vierzig zwischen mir und sich gleichmäßig geteilt hatte.«

Jetzt verstand sie alles.

»Aber Mr. Clifford, darüber kann es doch keine Aufregung mehr geben! Sie haben die Majorität in der Hand, und Sie brauchen doch keinen der Anteile wegzugeben oder zu verkaufen.«

Clifford lächelte bitter.

»Joe bestand mit dem größten Starrsinn auf der Bestimmung, daß im Fall des Todes der Überlebende die Anteile des andern erben sollte«, sagte er mit Nachdruck. »Fing-Su hat nun eine doppelte Möglichkeit, zu seinem Ziel zu kommen. Entweder will er mich durch irgendwelche Intrigen, die ich schon vorausahne, dazu bestimmen, ihm die eine Gründeraktie zu übergeben, oder –« Er vollendete den Satz nicht.

»Oder er will Sie töten«, sagte sie einfach. Er nickte.

»Er ist jetzt an dem Punkt angekommen,« fuhr er fort, »wo ihm der Erfolg auf alle Fälle versagt ist. Denn wenn ich in dieser Nacht getötet werden sollte, würde Fing-Su ganz automatisch verhaftet werden. Aber so schlau wie er ist, er bleibt ein Chinese und denkt wie ein Chinese. Das wird ihn auch zu Fall bringen. Er wälzt große Pläne in seinem Kopf und hält sich für unfehlbar. Er kann sich nicht denken, daß er einen Mißerfolg haben könnte.«

Schweigend gingen sie eine Minute lang nebeneinander.

Dann fragte sie:

»Wenn er mich in seine Gewalt brächte – das klingt übertrieben pathetisch? – was würde das nun an den Tatsachen ändern?«

»Dann müßte ich zahlen«, sagte er ruhig. »Und er weiß, daß ich zahlen würde.«

Sie fühlte, daß ihr das Blut in die Wangen schoß, und versuchte, gleichgültig zu erscheinen.

»Sie sind mir gegenüber durchaus nicht verpflichtet, Mr. Lynne«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich wollte es Ihnen schon immer sagen . . . jetzt, da Mr. Bray am Leben ist . . . daß ich Sie nicht heiraten möchte. Ich versprach es Mr. Narth, weil – nun gut, es war notwendig für ihn, daß ich heiratete.«

Sie hatte ihre ganze Energie aufbieten müssen, um ihm dies zu sagen. Es war doch viel schwieriger, als sie sich jemals hatte träumen lassen. Diese Entdeckung versetzte sie in nicht geringe Bestürzung. In der Ruhe ihres Zimmers war es sehr einfach gewesen, dies herzusagen, aber als sie es nun in Wirklichkeit aussprach, war es ihr, als ob mit jedem Wort ein Teil ihres neuen Lebensglücks dahinschwand. Sie sah zu ihm auf, und auch er suchte ihren Blick.

»Und aus anderen Gründen wollten Sie ja nicht heiraten«, sagte sie. Dabei schüttelte sie den Kopf, als wollte sie seine Antwort vorausnehmen.

»Um die Linie der berühmten Familie fortzusetzen – nein«, sagte er. Ihr Mut sank. »Um die kuriosen Ideen Joe Brays zu erfüllen – nein. Es bleibt keiner von all den Gründen bestehen, die mich zu der verrückten Reise nach England brachten und mich veranlaßten, mich aus einem anständigen Mitglied der Gesellschaft in einen langbärtigen Strolch zu verwandeln. Da haben Sie vollkommen recht. Aber immerhin ist doch noch ein sehr triftiger Grund vorhanden, weswegen ich Sie heiraten möchte –«

Er legte seinen Arm liebreich um sie und zog sie an sich. Aber er küßte sie nicht. Seine ernsten Augen suchten die ihren, und sie konnte die Worte und Gedanken lesen, die er nicht aussprach. Sie zitterte am ganzen Körper. Ein tiefes Donnerrollen kam von ferne und zerriß die Stimmung. Erschreckt fuhren sie auf. Mit einem Seufzer trat er zurück und legte seine Hände auf ihre Schultern.

»Nächsten Freitag wird eine Hochzeit in dieser Familie gefeiert werden«, sagte er kurz. Dann neigte er sich zu ihr und küßte sie.

Die ersten Blitze leuchteten gespenstisch auf und ließen die Spitzen der Föhren in fahlem Licht aufflammen, als er pfeifend den Fahrweg nach Slaters Cottage zurückging.

»Es wird eine stürmische Nacht geben, Joe«, sagte er fröhlich, als er in das Wohnzimmer trat.

Joe verbarg hastig ein Schriftstück, an dem er eben gearbeitet hatte.

»Setzest du ein neues Testament auf?«

Mr. Bray hustete, und ein böser Verdacht stieg in Clifford auf, ja, dieser Verdacht wurde für ihn zur Wirklichkeit.

Vor vielen Jahren hatte Joe einst unter vielen Stockungen und Hemmungen eine kleine Schwäche eingestanden und ihm zur Begutachtung ein Schreibheft mit seinen poetischen Ergüssen überreicht.

»Du dichtest doch nicht etwa, Joe?« fragte Clifford mit leiser Stimme.

»Nein, das tue ich nicht«, sagte Joe laut. »Was du auch alles denkst!«

Ein Donnerschlag in unmittelbarer Nähe ließ das kleine Haus erzittern, und als Joe nun sprach, zeichnete das bläuliche Licht der Blitze die Bäume in grellem Licht.

»Der ganze Himmel steht in Flammen«, sagte Joe poetisch.

»Heute bist du an der Reihe, die Würste zu braten«, erwiderte sein mehr nüchtern veranlagter Freund. Sie gingen zusammen in die kleine Küche, um ihr Abendessen zu bereiten.

Der Sturm dauerte eine Stunde lang, aber er war nur das Vorspiel zu dem schweren Unwetter, das sich später entlud. Um neun Uhr wurde es so dunkel wie in einer Winternacht. Am ganzen Horizont sah man ununterbrochenes Wetterleuchten. Clifford hatte die eisernen Fensterläden geschlossen, und vier Gewehre lagen schußfertig auf dem Sofa.

»Das erinnert mich an einen der Stürme, die du oben auf dem großen See durchgemacht hast,« sagte Joe, »und an das schlimmste Unwetter, das ich je in Harbin erlebt habe – noch lange bevor einer von euch Grünschnäbeln aus den reservierten Gebieten herausgekommen war.«

Er sah nach dem Schreibtisch hinüber, wo er sich eben literarisch betätigt hatte und seufzte tief.

»Soweit ich es feststellen kann, ist sie eine Cousine dritten Grades von mir«, sagte Joe. »Die Schwester ihres Vaters hat den Sohn meiner Tante geheiratet.«

»Zum Teufel, wovon schwätzest du denn jetzt?« fragte Clifford erstaunt.

»Von ihr!« sagte Bray kurz.

Augenscheinlich hatte Mabel einen sehr tiefen Eindruck auf dieses empfängliche Herz gemacht.

»Ich hoffe, daß der Sturm sie nicht zu sehr erschrecken wird, denn Mädchen ängstigen sich immer bei Gewitter . . .«

»Ich für meinen Teil würde die Entscheidung lieber heute nacht als morgen früh sehen«, sagte Clifford, als er zur Küche ging. »Wenn wir ersäuft werden sollen, so wäre es mir lieber bei Mondlicht.«

Joe trat dicht hinter ihm in die Küche.

»Was ist das wieder für ein Gerede von Ersäuftwerden?« fragte er nervös. »Wohin geraten wir denn?«

»Aufs Meer hinaus in einem Schiff«, sagte Clifford, als er eine Wurst aus der Speisekammer holte.

 


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