Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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6

Am Ende des Fahrweges, der von der Landstraße zum Hause führte, stand Mr. Clifford Lynnes Wagen. »Wagen« ist vielleicht ein etwas zu ehrenvoller Name für die Maschine, die er einige Tage vorher für fünfunddreißig Pfund gekauft hatte. Er ließ den Motor laufen, da er aus Erfahrung wußte, daß er ohne diese Vorsichtsmaßregel eine halbe Stunde brauchte, um die Maschine wieder in Gang zu bringen. Unter Rattern und Stoßen, Quietschen und Knarren brachte er das Auto auf die Straße und fuhr mit viel Lärm etwa hundert Meter weit, dann bog er in einen Fahrweg ein, der in das Gebüsch führte.

Das Ende des Weges brachte ihn zu dem grauen Steingebäude Slaters Cottage. Alle Fenster waren zerbrochen. In den sechziger Jahren hatte ein Besitzer des Hauses, der hoch hinaus wollte, einen kleinen Säulenvorbau errichten lassen, der sich jetzt in der Mitte stark gesenkt hatte. Mehrere Dutzend Ziegel fehlten auf dem Dach. Das einstöckige Gebäude bot ein Bild der Vernachlässigung und Verwüstung.

Eine Gruppe von drei Männern stand vor der Tür. Clifford kam gerade in dem Augenblick an, als sie sich einig geworden waren. Einer der Leute ging auf ihn zu, als er aus dem ratternden Wagen sprang.

»Sie können mit diesem Trümmerhaufen hier nichts anfangen«, sagte er. Wie man aus dem Zollstock ersehen konnte, der aus seiner hinteren Hosentasche hervorguckte, gehörte er dem Baugewerbe an. »Die Fußböden sind verfault, das Haus muß ein neues Dach haben, und außerdem brauchen Sie eine neue Wasserleitung und Kanalisation.«

Ohne ein Wort zu verlieren, ging Lynne an ihm vorbei in das Gebäude. Es bestand aus zwei Räumen, einem zur Linken und einem zur Rechten vom Mittelgang aus, den er jetzt betrat. Am Ende der Halle lag eine kleine Küche, in der ein verrosteter Herd stand. An diese war eine Spülküche angeschlossen. Durch die zerbrochenen Fenster an der Rückseite sah man einen verwitterten Schuppen, der repariert war und dadurch das Glanzstück des ganzen Anwesens bildete.

Der Fußbodenbelag ächzte und krachte unter seinen Schritten. An einer Stelle war er ganz verfault, und ein großes Loch gähnte Lynne entgegen. Die früheren Tapeten hingen in zerrissenen, farblosen Fetzen von den Wänden, und die Decke konnte man vor Spinnweben kaum mehr erkennen.

Er kam wieder zu der Gruppe vor der Haustür. Er stopfte umständlich seine Pfeife aus einem großen Canvasbeutel, den er aus seiner Tasche hervorholte.

»Sind Sie ein Baumeister oder ein Poet?« fragte er den Mann mit dem Zollstock.

Der Baumeister grinste.

»Ich verstehe etwas vom Bauen«, sagte er, »aber ich bin kein Zauberer. Um dieses Haus in einer Woche herzurichten, brauche ich drei von Aladdins Zauberlampen.«

Clifford steckte seine Pfeife in den Mund und zündete sie gemächlich an.

»Wenn wir nun von der Möglichkeit absehen, den dienstbaren Geist aus Aladdins Lampe zu engagieren, wieviel Leute brauchen Sie dann, um die Reparaturen auszuführen?«

»Es ist keine Frage, wieviel Leute ich anstellen kann, es ist letzten Endes eine Geldfrage«, sagte der Baumeister. »Sicher kann in einer Woche alles fertig sein, aber das würde Sie fast tausend Pfund kosten. Und das ganze Haus ist nicht soviel wert.«

Clifford blies eine Rauchwolke in die Luft und beobachtete, wie sie sich zerteilte.

»Stellen Sie doch zweihundert Mann ein und lassen Sie sie in achtstündigen Schichten Tag und Nacht arbeiten. Noch heute abend können sie den Fußboden aufreißen. Holen Sie so viel Lastwagen als Sie brauchen, und lassen Sie alles Material als Eilgut verladen. Also, ich will Eichenfußböden haben – dann einen Baderaum – elektrisches Licht muß gelegt werden – ferner bauen Sie mir eine Warmwasserleitung in das Haus – vor die Fenster müssen eiserne Läden kommen – diesen Weg wandeln Sie in eine gute Fahrstraße um – außerdem möchte ich ein Schwimmbassin hinter dem Hause haben – – das ist alles, wie ich denke.«

»In sieben Tagen?« staunte der Baumeister.

»Besser noch in sechs«, antwortete Lynne. »Entweder nehmen Sie die Arbeit an, oder ich werde einen anderen finden.«

»Aber Mr. Lynne, für das Geld, das Sie diese Sache kostet, können Sie eines der schönsten Häuser in Sunningdale kaufen –«

»Aber mir gefällt gerade diese Wohnung hier«, sagte Clifford Lynne. »Und dann noch eins: das Haus muß sicher vor Schlangen sein.«

Er blickte in seinem kleinen Besitztum umher. Der Zaun, der die Grenzen bezeichnete, wurde von dem Geäst der Bäume verdeckt.

»Alle diese Kiefern würden besser umgehauen«, sagte er. »Ich brauche eine klare, übersichtliche Feuerzone.«

»Was für eine Zone?« fragte der Baumeister neugierig.

»Außerdem müssen die eisernen Fensterläden Schießscharten haben – ich vergaß, Ihnen das zu sagen. Geben Sie mal Ihr Buch her.«

Er nahm dem Architekten das Notizbuch aus der Hand und begann zu skizzieren.

»Solche Form sollen sie haben und ungefähr diese Abmessungen«, sagte er, indem er ihm das Buch zurückgab. »Nehmen Sie den Auftrag an?«

»Ich will ihn übernehmen«, sagte der Baumeister, »und ich kann Ihnen versprechen, daß das Haus in einer Woche bewohnbar sein wird. Aber es wird Sie unheimlich viel kosten.«

»Ich weiß, was mich die Sache kostet, wenn das Haus nicht fertig ist«, unterbrach ihn Clifford Lynne.

Er steckte seine Hand in die Tasche, zog ein Lederetui mit Banknoten heraus, öffnete es und entnahm ihm zehn Scheine, jeden zu hundert Pfund.

»Ich will mit Ihnen keinen Kontrakt machen, weil ich eben ein Geschäftsmann bin. Heute ist Mittwoch, die Möbel werden nächsten Dienstag ankommen. Lassen Sie Öfen in jedem Raum aufstellen, und heizen Sie tüchtig. Es ist möglich, daß ich Sie für eine Woche nicht sehe, aber hier gebe ich Ihnen meine Telephonnummer. – In dieser Richtung legen Sie einen Graben bis zur Hauptstraße an, ferner brauche ich eine Telephonanlage, und denken Sie daran, daß der Zuführungsdraht unterirdisch gelegt sein muß – und zwar recht tief. Schlangen können nämlich graben!« fügte er leise hinzu.

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, stieg er in sein Auto und fuhr damit unter vielem Stoßen und Schaukeln die Straße entlang. Plötzlich war er den Blicken entschwunden.

»Ich werde in nächster Zeit nicht viel schlafen können«, sagte der Baumeister, und damit hatte er auch recht. –

Am nächsten Morgen regnete es, leise fielen die Tropfen. Es sah so aus, als ob es den ganzen Tag anhalten würde. Das war wenigstens die Ansicht von Mr. Narths Chauffeur, der gewohnt war, resigniert den Wechsel des englischen Klimas zu beobachten.

Mr. Stephen Narth dagegen rühmte sich, daß er überhaupt keine Notiz vom Wetter nehme. Aber irgend etwas lag in dem dunklen Himmel und der traurigen Landschaft, das mit seiner geistigen Verfassung übereinstimmte, so daß sich das Wetter auf ihn selbst übertrug und seine Niedergeschlagenheit noch vergrößerte.

Er sagte sich selbst immer wieder auf dem Wege von Sunningdale zu seinem Bureau, daß gar kein Grund vorläge, nicht guten Mutes zu sein. Sicher waren die Erlebnisse des gestrigen Tages nicht angetan, ihn aufzumuntern. Aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß es einen Weg gab, die Bedingung des alten Bray zu erfüllen, und die Tatsache, daß Joan sich bereit erklärt hatte, seinen Wünschen nachzukommen, war doch sicher erfreulich, und man konnte gratulieren.

Clifford Lynne beeinträchtigte natürlich seine Freude und war ihm ein Dorn im Auge. Merkwürdigerweise hatte das Auftauchen der Giftschlange im Wohnzimmer Mr. Narth nicht weiter beunruhigt. Sicherlich war es außergewöhnlich, ihm war aber nichts davon bekannt, daß Gelbköpfe giftig seien, auch konnte er den Zusammenhang nicht übersehen, wie der mysteriöse Kasten in sein Haus gebracht worden war. So machte er es denn wie gewöhnlich und suchte ein Problem zu vergessen, das er nicht aufklären konnte. So war es ja auch viel einfacher. Die Lösung ging ja andere Leute an.

Der ganze Vorfall hatte, soweit er ihn betraf, nur die Bedeutung, daß der Teppich in seinem Wohnzimmer zu einem Reinigungsinstitut gebracht werden mußte, wo man die beiden kleinen Löcher wieder stickte. Clifford Lynne nahm natürlich die ganze Sache viel zu theatralisch. Das war ein Lieblingsausdruck von Mr. Narth, mit dem er alle Ereignisse des Lebens abtat, die besonders aufregend auf ihn wirkten. Wenn nun alles gesagt und vollbracht war – und dieser Gedanke brachte ihn in besonders gute Stimmung – dann war das große Vermögen Joe Brays in seinen Händen. Die Wolken, die den Horizont am Tage vorher verdunkelt hatten, zerteilten sich. Es blieb ihm jetzt nur noch übrig, die Hochzeit möglichst zu beschleunigen, und die Reichtümer Joes in Besitz zu nehmen, sobald die Bedingung erfüllt war.

Er war in glücklichster Stimmung, als er durch den Privateingang in sein Bureau eintrat und konnte den beiden Leuten, die ihn dort erwarteten, ein heiteres Gesicht zeigen. Major Spedwell hatte sich über das eine Ende des Tisches gelegt, eine Zigarre zwischen den Zähnen, während Mr. Leggat am Fenster stand. Er schaute in den strömenden Regen, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

»Hallo, meine Herren!« sagte Narth freundlich. »Sie sehen gerade so vergnügt aus wie Leichenbitter bei einer Beerdigung.«

Leggat drehte sich um.

»Weshalb sind Sie denn so vergnügt?« fragte er.

Stephen Narth hatte sich noch nicht überlegt, ob er seinen Kollegen einen vollständigen Einblick in seine Lage geben sollte. Denn mit dem Gelde, das ihm von der Brayschen Firma zukam, konnte er seine fragwürdigen Bekanntschaften abschütteln und zum Teufel jagen. Denn man kann nur mit Geld die Fehltritte der Vergangenheit abwaschen. Dann könnte er mit einem reinen Blatt und einem großen Kredit auf der Bank von vorn anfangen.

»Joe ist tot«, polterte er heraus, »und hat mir den größten Teil seines Vermögens vermacht.«

In seiner Freude war ihm diese unvorsichtige Äußerung entschlüpft, und er war schon böse über seine eigene Dummheit, bevor er diese Worte ganz ausgesprochen hatte.

Wenn Stephen erwartet hatte, daß diese Nachricht für die anderen eine Sensation bedeute, so war er enttäuscht.

»So, so«, sagte Leggat sarkastisch. »Und wann werden Sie das Geld in die Hand bekommen?«

»In ein oder zwei Monaten«, sagte der andere leichtfertig.

»Ein oder zwei Monate bedeuten einen oder zwei Monate zu spät«, sagte Major Spedwell. Dabei überzog sein dunkles Gesicht ein widriges Grinsen. »Ich habe heute morgen die Rechnungsrevisoren gesehen. Unter allen Umständen müssen die fünfzigtausend Pfund bis morgen beigebracht werden.«

»Tatsächlich,« unterbrach ihn Leggat, »wir sind fertig, Narth. Wir müssen das Geld in den nächsten vierundzwanzig Stunden aufbringen. Wenn keine Wenns und Abers in dem Testament enthalten sind, können Sie das Geld ja auf Grund der Dokumente leicht leihen. Ist eigentlich eine Bedingung in dem Testament?«

Narth runzelte die Stirn. Was wußte der andere? Aber Leggat sah ihm unentwegt in die Augen.

»Es ist eine Bedingung in dem Testament«, gab Narth zu. »Aber die ist praktisch schon erfüllt.«

Leggat schüttelte den Kopf.

»Damit können Sie gar nichts anfangen«, sagte er. »Ist das Testament so abgefaßt, daß Sie morgen fünfzigtausend Pfund darauf leihen können?«

»Nein«, sagte Narth kurz. »Ich kenne den wahren Wert des Vermögens nicht, und außerdem ist eine Bedingung –«

»Stimmt!« sagte Spedwell. »So ist die Lage, und die Lage ist äußerst gefährlich. Sie können nicht einen Sechser auf ein Testament bekommen, in dem eine Bedingung enthalten ist, die noch nicht erfüllt wurde, und auf ein Vermögen, dessen wahren Wert Sie nicht kennen. Ich wette, Sie haben noch nicht einmal eine Kopie dieses Testamentes.«

Stephen Narths Augen wurden klein.

»Sie reden wie ein Buch, Major«, sagte er. »Irgend jemand hat Ihnen mehr erzählt, als ich selber weiß.«

Major Spedwell drehte sich ungemütlich um.

»Jemand hat gar nichts erzählt«, sagte er bissig. »Das einzige, was mich und Leggat interessiert, ist, ob Sie bis morgen fünfzigtausend Pfund aufbringen können. Und da wir wissen, daß Sie es nicht können, haben wir Ihnen viel Unannehmlichkeiten erspart. Wir haben nämlich unseren Freund St. Clay gebeten, hierherzukommen und mit Ihnen zu sprechen.«

»Ihr Freund St. Clay? Ist das der Mann, den Sie gestern nannten?«

Plötzlich erinnerte sich Stephen Narth an die Prophezeiung Clifford Lynnes: »Sie werden ihn morgen sehen.«

»Hat denn Grahame St. Clay so viel Geld, daß er es wegwerfen kann?«

Spedwell nickte langsam.

»Ja, das kann er, und er ist auch bereit, es zu tun. Und wenn Sie meinen Rat annehmen, Narth, dann wirft er es sogar an Sie weg.«

»Aber ich kenne ihn doch nicht; wo kann ich ihn denn treffen?«

Spedwell ging auf die Türe zu, die nach dem Hauptbureau führte.

»Er wartet schon draußen, bis wir die Sache mit Ihnen besprochen haben.«

Stephen Narth sah ihn verwirrt an. Ein Mann, der fünfzigtausend Pfund ausleihen konnte, wartete auf die günstige Gelegenheit, sie zu verlieren?!

»Hier?« fragte er ungläubig.

Major Spedwell öffnete die Tür.

»Hier ist Mr. Grahame St. Clay«, sagte er.

Ein tadellos gekleideter Herr trat in das Bureau.

Narth starrte ihn mit offenem Munde an. Denn Grahame St. Clay war zweifellos ein Chinese.

 


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