Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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3

Stephen Narth verließ sein Bureau in der Old Broad Street gewöhnlich um vier Uhr. Um diese Zeit wartete seine Limousine, um ihn nach seiner schönen Villa in Sunningdale zu bringen. Aber an diesem Abend zögerte er, aufzubrechen, nicht weil noch ein besonderes Geschäft zu erledigen war oder weil er etwas Zeit brauchte, um über seine mißliche Lage nachzudenken, sondern weil die Post aus China mit der Fünfuhrbestellung kommen mußte. Er erwartete heute seinen monatlichen Scheck.

Joseph Bray war ein Vetter zweiten Grades von ihm. Als damals die Narths Handelsfürsten waren und die Brays ihre ärmsten Verwandten, wurden die Unternehmungen Joe Brays in der großen Familie kaum beachtet. Erst vor zehn Jahren erfuhr man davon, als Mr. Narth einen Brief von seinem Vetter erhielt, in dem dieser wieder Anschluß an seine alten Verwandten suchte. Niemand hatte gewußt, daß ein Mann namens Joe Bray existierte, und als Mr. Stephen Narth den schlecht geschriebenen Brief las, war er nahe daran, ihn zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen. Er hatte gerade genug mit sich allein zu tun und konnte sich nicht um das Geschick entfernter Verwandter bekümmern. Doch kurz bevor er den Brief zu Ende gelesen hatte, entdeckte er, daß der Schreiber dieses Briefes der berühmte Bray war, dessen Name auf allen Börsen der Welt Klang und Geltung hatte – der berühmte Bray von der Yünnan-Gesellschaft. Und so wurde Joseph Bray wieder wichtig für ihn.

Sie hatten sich noch nie gesehen. Wohl war ihm eine Photographie des alten Mannes zu Gesicht gekommen, auf der er grimmig und hart dreinschaute. Wahrscheinlich hatte auch der Eindruck, den dieses Bild auf ihn machte, ihn davon abgehalten, seinen Verwandten um weitere Hilfe zu bitten, die er doch so dringend brauchte.

Perkins, sein Sekretär, kam kurz nach fünf mit einem Brief ins Bureau.

»Miß Joan kam heute nachmittag hierher, während Sie in der Sitzung waren.«

»Ach so!« entgegnete Stephen Narth gleichgültig.

Sie war eine Bray, eines der beiden Mitglieder des jüngeren Zweiges der Familie, die er schon kannte, bevor damals der wichtige Brief von Joe Bray kam. Sie war eine entfernte Cousine und war in seinem Hause aufgewachsen, hatte die gute, aber wenig kostspielige Erziehung genossen, wie man sie eben einer armen Verwandten angedeihen ließ. Ihre Stellung in seinem Haushalt hätte man kaum beschreiben können. Joan war wirklich sehr brauchbar: sie konnte das Haus versehen, wenn seine Töchter abwesend waren, sie konnte die Bücher führen und einen Hausverwalter ersetzen oder auch ein Dienstmädchen. Obgleich sie etwas jünger als Letty und viel jünger als Mabel war, verstand sie es ausgezeichnet, beide zu bemuttern.

Manchmal nahm sie an den Theaterbesuchen der beiden Mädchen teil, und gelegentlich kam sie auch zu einem Tanzvergnügen, wenn gerade eine Dame fehlte. Aber für gewöhnlich blieb Joan im Hintergrund. Manchmal empfand man es sogar unangenehm, daß sie bei Einladungen mit an der Tafel sitzen sollte. Dann mußte sie in ihrer großen Dachstube essen, und, um die Wahrheit zu sagen, sie war gar nicht böse darüber.

»Was wollte sie denn?« fragte Mr. Narth, als er den Umschlag des wichtigen Briefes aufschnitt.

»Sie wollte wissen, ob sie etwas nach Sunningdale mitnehmen sollte. Sie war in die Stadt gekommen, um mit Miß Letty einige Einkäufe zu machen«, sagte der alte Schreiber und fuhr fort: »Sie fragte mich, ob eine der beiden jungen Damen wegen der Chinesen telephoniert hätte.«

»Chinesen?«

Perkins erklärte. An dem Morgen waren in der Gegend von Sunni Lodge zwei gelbe Kerle aufgetaucht, beide ziemlich unbekleidet. Letty hatte sie im langen Grase liegen sehen, in der Nähe der großen Wiese. Zwei kräftig aussehende Leute, die aber, sobald sie das Mädchen sahen, aufsprangen und in der Richtung auf die kleine Pflanzung davonliefen, die zwischen dem Landgut von Lord Knowesley und der kleineren, weniger anspruchsvollen Besitzung des Mr. Narth lag.

Letty, die an nervösen Anfällen litt, war zweifellos erschreckt worden.

»Miß Joan glaubte, daß die Leute zu einer Zirkustruppe gehörten, die heute morgen durch Sunningdale zog«, sagte Perkins.

Mr. Narth fand nichts Besonderes dabei und weit davon entfernt, die Sache der Ortspolizei anzuzeigen, suchte er die Geschichte mit den Chinesen möglichst bald zu vergessen.

Langsam zog er den Inhalt des wichtigen Briefes aus dem Umschlag. Der Scheck lag darin und außerdem ein ungewöhnlich langer Brief. Joe Bray sandte im allgemeinen keine langen Episteln. Meist lag nur ein Bogen Papier bei mit der Aufschrift »Besten Gruß«. Er faltete die rote Tratte zusammen und steckte sie in seine Tasche.

Dann begann er den Brief zu lesen und war ganz erstaunt, weshalb sein Vetter plötzlich so mitteilsam geworden war. Der Brief war in der kritzligen Handschrift Joe Brays geschrieben. Fast jedes vierte Wort war falsch.

»Lieber Mr. Narth« (Joe nannte ihn niemals anders), »ich glaube, daß Sie sich wundern werden, wenn ich Ihnen einen so langen Brief schreibe. Nun wohl, lieber Mr. Narth, ich muß Ihnen mitteilen, daß ich einen bösen Anfall hatte und mich nur ganz langsam erhole. Der Doktor sagt, er kann nicht sicher sagen, wie lange ich noch zu leben habe. Deshalb kam ich zu dem Entschluß, mein Testament zu machen, das ich durch den Rechtsanwalt Mr. Albert van Rys habe aufsetzen lassen. Lieber Narth, ich muß gestehen, daß ich für Ihre Familie große Bewunderung hege, wie Sie ja wohl wissen. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen und Ihren Angehörigen helfen könnte. Dabei bin ich zu folgendem Entschluß gekommen. Mein Geschäftsführer, Clifford Lynne, der seit seiner frühesten Kindheit in meinem Hause lebt, wurde mein Teilhaber, als ich diese Goldminen entdeckte. Er ist wirklich ein guter Junge, und ich habe beschlossen, daß er jemand aus meiner Familie heiraten soll, um die Linie fortzuführen. Wie ich weiß, haben Sie mehrere Mädchen in Ihrer Familie, zwei Töchter und eine Cousine, und ich wünsche, daß Clifford eine von diesen heiratet. Er hat seine Einwilligung dazu gegeben. Er ist nun auf der Reise und muß in einigen Tagen bei Ihnen ankommen. Mein letzter Wille ist nun der: ich vererbe Ihnen zwei Drittel meines Anteils an der Goldmine und ein Drittel an Clifford unter der Bedingung, daß eines der drei Mädchen ihn heiratet. Sollte keines der Mädchen ihn mögen, so erhält Clifford alles. Die Hochzeit muß aber vor dem 31. Dezember dieses Jahres geschlossen sein. Lieber Mr. Narth, wenn dies nicht annehmbar für Sie sein sollte, so werden Sie im Falle meines Todes nichts erhalten.

Ihr aufrichtiger

Joseph Bray.«

Stephen Narth las den Brief mit offenem Munde und seine Gedanken wirbelten durcheinander. Die Rettung kam von einer Seite, an die er am allerwenigsten gedacht hatte. Er klingelte, um seinen Sekretär herbeizurufen und gab ihm in großer Eile einige Instruktionen. Da er den Fahrstuhl nicht erwarten mochte, rannte er die Treppe hinunter und sprang in sein Auto. Den ganzen Weg bis nach Sunningdale mußte er an den Brief und den ungewöhnlichen Vorschlag denken.

Natürlich mußte Mabel ihn heiraten! Sie war ja die älteste. Oder Letty – das Geld war schon so gut wie in seiner Tasche . . .

Als der Wagen durch die blühenden Rhododendronbüsche vorfuhr, war er sehr vergnügt und sprang mit einem strahlenden Lächeln aus dem Auto. Die wachsame Mabel sah vom Rasenplatz aus, daß irgend etwas Außergewöhnliches sich zugetragen haben mußte. Sie lief herbei. Auch Letty trat in demselben Augenblick aus der Haustür. Es waren hübsche Mädchen, nur ein wenig stärker, als er hätte wünschen können. Die ältere neigte dazu, das Leben von der traurigen, bitteren Seite zu nehmen und das führte gelegentlich zu Unannehmlichkeiten.

». . . Hast du von den schrecklichen Chinesen gehört?« Mabel sprang ihm mit dieser Frage entgegen, als er von dem Wagen kam. »Die arme Letty hatte beinahe einen Anfall!«

Sonst hätte er sie zum Schweigen gebracht, denn er war ein Mann, der sich nicht durch alltägliche Dinge aus der Fassung bringen ließ. Das ungewöhnliche Erscheinen eines oder zwei Gelben auf seinem Grund und Boden interessierte ihn wenig. Aber heute brachte er es sogar fertig, nachsichtig zu lächeln und machte sogar einen Witz über die Alarmnachricht seiner Tochter.

»Mein Liebling – es ist doch gar nichts dabei, um darüber zu erschrecken. Perkins hat mir alles erzählt. Die beiden armen Kerle waren wahrscheinlich ebenso erschrocken wie Letty selbst! Kommt einmal mit mir ins Wohnzimmer, ich habe etwas sehr Wichtiges mit euch zu besprechen!«

Er nahm die beiden mit sich in den schöngelegenen Raum, schloß die Tür und berichtete dann seine aufsehenerregenden Neuigkeiten, die aber zu seiner nicht geringen Verwunderung schweigend aufgenommen wurden. Mabel steckte ihre unvermeidliche Zigarette in Brand, klopfte die Asche auf den Teppich und begann, nachdem sie einen Blick mit ihrer Schwester gewechselt hatte:

»Für dich, Vater, ist das alles ja sehr gut, aber was haben wir denn von der ganzen Geschichte?«

»Was ihr davon habt?« fragte der Vater erstaunt. »Das ist doch ganz klar, welchen Vorteil ihr davon habt. Dieser Mann bekommt doch den dritten Teil des großen Vermögens –«

»Aber wieviel von diesem Drittel bekommen denn wir?« fragte Letty, die Jüngere. »Und ganz abgesehen davon – wer ist denn dieser Geschäftsführer? Mit all dem Geld, Vater, können wir eine ganz andere Partie machen, als ausgerechnet den Geschäftsführer einer Mine heiraten.«

Das tödliche Schweigen wurde von Mabel unterbrochen.

»Immerhin müssen wir die Sache mit dir auf die eine oder andere Weise beraten und in Ordnung bringen«, sagte sie. »Dieser alte Herr scheint sich einzubilden, daß es für ein Mädchen nur darauf ankommt, daß ihr Mann reich ist. Aber mir genügt das noch lange nicht.«

Stephen Narth lief es kalt den Rücken herunter. Ihm war es im Traum nicht eingefallen, auf dieser Seite so heftigen Widerstand zu finden.

»Aber versteht ihr denn nicht, daß wir gar nichts bekommen, wenn keine von euch diesen Mann heiratet? Natürlich würde ich mir an eurer Stelle die Sache auch überlegen, aber ich würde eine so glänzende Partie nicht ausschlagen.«

»Wieviel hinterläßt er denn eigentlich?« fragte die praktische Mabel. »Das ist doch der Angelpunkt der ganzen Frage. Ich sage ganz offen, ich habe nicht die Absicht, eine Katze im Sack zu kaufen, und dann – was werden wir für eine gesellschaftliche Stellung haben? Wahrscheinlich müßten wir doch nach China gehen und in irgendeiner erbärmlichen Hütte wohnen.«

Sie saß auf der Ecke des großen Tisches im Wohnzimmer, hatte ein Knie über das andere gelegt und wippte mit den Fußspitzen. Stephen Narth erinnerte sie in dieser Stellung an eine Bardame, die er in seiner frühen Jugend einmal gekannt hatte. Irgend etwas stimmte in Mabels Erscheinung nicht und das wurde auch nicht ausgeglichen durch ihre kurzen Röckchen und ihren wirklich hübschen Bubikopf.

»Ich habe gerade genug Sparen und Einschränken mitgemacht«, fuhr sie fort. »Ich kann nur sagen, daß bei dieser Heirat mit einem unbekannten Mann ich von vornherein ausscheide.«

»Und ich auch«, sagte Letty bestimmt. »Es ist ganz richtig, was Mabel sagt. Als Frau dieses Menschen würden wir eine erbärmliche Rolle spielen.«

»Ich kann nur sagen, daß er euch gut behandeln würde«, sagte Narth schwach. Er wurde ganz von seinen beiden Töchtern beherrscht.

Plötzlich sprang Mabel vom Tisch auf den Fußboden. Ihre Augen glänzten.

»Ich weiß einen Ausweg! – Das Aschenbrödel!«

»Das Aschenbrödel?« fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Natürlich – Joan, du großes Kind, lies doch den Brief genau!«

Alle drei durchflogen atemlos das Schreiben und als sie es fast zu Ende gelesen hatten, quietschte Letty vor Vergnügen.

»Natürlich, Joan!« rief sie. »Warum sollte den Joan nicht heiraten? Das ist doch eine große Sache für sie – ihre Aussichten auf Heirat sind doch gleich Null, und sie würde doch hier überflüssig sein, wenn du sehr reich wärest. Weiß der Himmel, was wir mit ihr anfangen sollten.«

»Joan!« rief er und dabei streichelte er sein Kinn in Gedanken. An Joan hatte er nicht gedacht. Zum viertenmal las er den Brief Wort für Wort. Die Mädchen hatten recht, Joan erfüllte alle Ansprüche Joe Brays. Sie war doch ein Mitglied der Familie. Ihre Mutter war eine geborene Narth. Bevor er den Brief wieder auf den Tisch legen konnte, hatte Letty schon geklingelt, und der Diener kam herein.

»Sagen Sie doch Miß Bray, daß sie herkommen möchte, Palmer.«

Drei Minuten später trat das Mädchen in das Wohnzimmer, das Opfer, mit dem die Familie Narth die Schicksalsgötter besänftigen wollte.

 


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