Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20

Joan Bray schien es, als ob sie in großer Not und Furcht aus dieser Welt geflohen sei und nun langsam zurückkehre. Aber ein böses Schreckbild stand noch drohend vor ihr. Allmählich wurde sie sich darüber klar, daß sie in ihrem Bett lag . . . Dann war ja alles nur ein häßlicher Traum gewesen. Aber das Licht brannte doch noch, und ein Mann stand am Fußende ihres Lagers, der sie ernst betrachtete. Sie hob sich ein wenig auf und stützte sich auf ihre Ellenbogen. Ihre Gedanken konnte sie noch nicht sammeln, und stirnrunzelnd sah sie ihn an.

»Guten Morgen!« sagte Clifford Lynne heiter. »Ihre tanzfreudigen Cousinen kommen aber sehr spät zurück.«

Als sie sich zum Fenster wandte, sah sie, daß schon das blasse Morgengrauen den Himmel erhellte. Ihr Gesicht war feucht, ein halbgefülltes Wasserglas stand auf ihrem Nachttisch.

»Mr. Lynne!« Sie versuchte zu denken. »Wo – wo –« Sie sah sich im Zimmer um.

»Ich fürchte, ich habe Sie aufgeweckt?« sagte er, indem er ihre Frage ignorierte. »Ich bin ein etwas unbeholfener Einbrecher, obwohl es das leichteste Ding in der Welt war, in den Raum zu kommen, der neben der Tür liegt. Haben Sie mich gehört?«

Sie nickte langsam.

»Ach, das waren Sie?« fragte sie sprunghaft.

Er biß sich in Gedanken auf die Unterlippe und sah sie noch immer an.

»Ich bin furchtbar kompromittiert. Ich glaube, daß Sie das auch begreifen«, sagte er. »Ich bin in der dunklen Nacht in Ihr Haus geklettert, habe Sie zu Bett gebracht, und hier sind wir nun beide – Sie und ich – zusammen im fahlen Morgengrauen! Ich schaudere bei dem Gedanken, was Stephen Narth sagen wird, oder was sich die alberne Mabel einbildet. Was Letty betrifft« – er zuckte die Achseln – »kann ich wirklich nicht hoffen, daß sie ihr bekanntes Mitleid auch auf mich ausdehnt.«

Mühsam setzte sie sich aufrecht. Ihre Schläfen hämmerten.

»Machen Sie über alles einen Witz?« fragte sie und schauderte, als die Erinnerung an diese Nacht in ihr auftauchte. »Wo sind jene schrecklichen Kerle geblieben?«

»Sie sind lange nicht so schrecklich, wie sie aussehen. Immerhin sind sie fort. Sie entwischten durch das Fenster, und keiner von ihnen ist besonders schwer verletzt, ich bin froh, daß ich Ihnen das berichten kann. Ich habe schon einen angeschossenen blöden Kuli bei mir, und ich habe nicht den Wunsch, aus Slaters Cottage ein Krankenhaus für verbrecherische Chinesen zu machen.«

Er beugte den Kopf nach vorn und horchte. Seine scharfen Ohren hatten in weiter Entfernung das Geräusch eines Autos gehört.

»Es klingt so, als ob Stephen mit seinen beiden Grazien nach Hause käme«, sagte er.

Sie sah ihn an.

»Was werden Sie tun?« fragte sie bestürzt. »Sie können nicht hier bleiben.«

Er kicherte leise.

»Wie weiblich gedacht, sich in einer solchen Krise um Anstand zu kümmern!«

Dann ging er ganz unerwartet zu ihr, legte seine Hand auf ihren schmerzenden Kopf und streichelte ihr Haar.

»Verlassen Sie sich auf mich«, sagte er, und einen Augenblick später war er gegangen.

Man konnte hören, wie das Auto näherkam. Sie stand auf, ging zum Fenster und bemerkte, daß die Gardine beiseite geschoben war. Zwei große Scheinwerfer wurden sichtbar und bogen in die Fahrstraße ein. Sie hörte, wie die Gartentür geschlossen wurde und sah Clifford Lynne quer über den Weg auf ein Rhododendrongebüsch zueilen. Noch bevor er verschwunden war, hielt der Wagen vor der Tür, und Stephen Narth drehte das elektrische Licht an.

Von ihrem Standpunkt aus konnte sie die kleine Gruppe gut unterscheiden. Stephen sah in seinem weißen Frackhemd sehr bleich aus. Neben ihm standen die beiden Mädchen in ihren überreichen Abendkleidern. Sie konnte Stephens Gesicht nicht sehen, aber seine ganze Haltung berührte sie seltsam, in seinen Bewegungen lag etwas nervös Zögerndes. Er hatte es nicht eilig, ins Haus zu kommen. Zweimal ging er um das Auto herum, dann sprach er zu dem Chauffeur und erst, als sie schon die Schritte der Mädchen auf der Treppe hörte, trat er zögernd in die Halle.

Letty und Mabel hatten ihre Schlafzimmer im Erdgeschoß. Sie hörte Lettys hohe Stimme und die tiefere ihrer älteren Schwester. Dann mischte sich auch Mr. Narth in das Gespräch.

». . . Es ist doch gar keine Frage, daß es ihr gut geht!« sagte Letty ärgerlich. »Benimm dich doch nicht so lächerlich, Vater.«

Joan ging quer durch das Zimmer und öffnete die Tür.

»Warum sollte ihr denn etwas fehlen?« fragte Mabel. »Das ist doch vollendeter Blödsinn, Papa. Du wirst sie nur aufwecken. Das ist doch wirklich lächerlich!«

Sie vernahm Stephens schwere Tritte auf der Treppe und schloß verwundert die Tür. Gleich darauf klopfte es, und sie öffnete.

»Hallo!« sagte Narth heiser. »Geht's gut?«

Sein Gesicht war unheimlich bleich, seine Unterlippe bebte. Die Hände hatte er in die Taschen gesteckt, damit sie nicht sehen sollte, wie sie zitterten.

»Ist alles in Ordnung?« krächzte er wieder.

»Ja, Mr. Narth.«

»Ist nichts passiert?« Er schob seinen Kopf nach vorn und schaute sie an. Wie er so dastand, glich er einem Vogel.

»Ist wirklich alles in Ordnung, Joan?«

Seine Stimme war so belegt und sein Benehmen so sonderbar, daß sie es sich nur dadurch erklären konnte, daß er betrunken war.

»Hat dich niemand gestört? Na, das ist gut . . . Die Mädchen haben dich wohl aufgeweckt. Gute Nacht, Joan.«

Er stolperte unsicheren Schrittes die Treppe hinunter, und sie schloß verwundert die Tür.

Sie sollte sich noch mehr wundern, als sie später am Morgen zum Frühstück herunterkam und zum erstenmal hörte, daß der Diener gestern abend ausgegangen war. Mr. Narth hatte antelephoniert und ihn gebeten, ihm ein Buch in die Stadt zu bringen. Zu welchem Zweck brauchte denn Mr. Narth ein Buch? Der Abend war doch vollständig damit ausgefüllt, daß er sich seinen Töchtern widmen mußte. Nur Narth hätte es erklären können, und wenn er es getan hätte, wäre wohl niemand mit seiner Erklärung zufrieden gewesen.

Erst um elf Uhr kam er zum Frühstück herunter. Sein Gesicht war gelb, er sah nervös und gereizt aus, als ob er keinen Schlaf hätte finden können.

»Sind die Mädchen noch nicht aufgestanden?« Bei solchen Gelegenheiten sprach er hastig, abgerissen und gewöhnlich war die Folge einer durchwachten Nacht, daß er sich am nächsten Morgen recht unleidlich aufführte. Aber obgleich sie einen Ausbruch seiner bösen Laune fürchtete, war er ausnehmend friedlich.

»Wir müssen nun an deine Hochzeit denken, Joan«, sagte er, als er mit einem ärgerlichen Gesicht Platz nahm. Er hatte wenig Appetit.

»Dieser Clifford ist scheinbar ein guter Mensch. Es ist allerdings peinlich, daß er der Seniorpartner ist, und ich bin froh, daß ich ihm nicht alles gesagt habe, was ich ihm eigentlich damals sagen wollte, als wir –«

»Ich werde am nächsten Freitag heiraten«, sagte Joan ruhig.

Er sah sie mit einem beunruhigten Ausdruck an.

»Am Freitag? Unmöglich, das ist unmöglich – das ist – das ist unfein! Warum denn so bald? Du kennst doch den Mann noch gar nicht!«

Er sprang in ohnmächtiger Wut von seinem Stuhl auf.

»Ich dulde das nicht! Die Sache muß so gemacht werden, wie ich es wünsche. Weiß Mabel davon?«

Es ist merkwürdig, dachte Joan, daß Mabel ihm nichts davon erzählt hat. Später allerdings erfuhr sie, daß die älteste Tochter von Mr. Narth diese Sensation für einen privaten Familienrat aufgehoben hatte.

»Wo bleibt denn da der Anstand?« sagte Narth theatralisch. Sein Benehmen war so ungewöhnlich, daß Joan ihn unwillkürlich ansehen mußte. »Da muß doch erst noch eine Menge Dinge vorher erledigt sein, bevor du heiratest. Du bist mir doch verpflichtet, Joan. Hast du denn deinen Bruder ganz vergessen?« –

»Sie haben mir das Vergessen unmöglich gemacht, Mr. Narth«, sagte sie mit steigendem Unwillen. »Für alles das, was Sie für meinen Bruder getan haben, gab ich ja als Entgelt meine Einwilligung, Mr. Lynne zu heiraten. Clifford Lynne wünscht, daß die Hochzeit am Freitag stattfindet, und ich habe meine Zustimmung dazu gegeben.«

»Habe ich denn gar nichts mit der Angelegenheit zu tun?« brach er stürmisch los. »Man muß mich doch dabei zu Rate ziehen!«

»Das beste ist, Sie ziehen Clifford Lynne zu Rate«, sagte Joan kühl.

»Warte doch einen Augenblick«, rief er hinter ihr her, als sie den Raum verlassen wollte. »Wir wollen uns doch nicht aufregen, Joan. Ich habe einen ganz besonderen Grund, weswegen ich dich bitten möchte, diese Heirat auf ein späteres Datum zu verschieben – was ist los?« fragte er nervös den eben zurückgekehrten Diener, der noch im Straßenanzug im Vorraum erschien.

»Wollen Sie Mr. Lynne empfangen?« fragte er.

»Will er denn mich sprechen? Sind Sie sicher, daß er nicht Miß Joan meint?«

»Er fragte ausdrücklich nach Ihnen.«

Narths Hand zitterte, als er seine Tasse hinsetzte.

»Führen Sie ihn in die Bibliothek«, sagte er unwirsch. Er mußte sich für diese Unterredung wappnen, denn sein Instinkt sagte ihm, daß sie recht unangenehm werden würde, und sein Instinkt hatte ihn auch nicht belogen, denn Clifford Lynne war gekommen, um einige recht peinliche Fragen an ihn zu stellen.

 


 << zurück weiter >>