Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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15

Mr. Stephen Narth war augenscheinlich in keiner guten Stimmung.

»Ich hoffe, daß es dich nicht unangenehm berührt hat, Joan«, sagte er, als er ihr unwilliges Gesicht sah. »Ich bin diesem Menschen sehr verpflichtet, und er bestand darauf, dich wegen dieses Geschäfts persönlich zu sprechen. Ich konnte nicht anders handeln. Der Himmel mag wissen, weshalb er so versessen darauf ist, eine der Gründeraktien zu kaufen, die doch absolut keinen Geldwert haben.«

Sie war über diese Mitteilung verblüfft und wunderte sich, daß er so wenig im Bilde war.

»Sie sind nichts wert?«

»Nicht einen Penny«, sagte Narth. »Nun, vielleicht ist das eine Übertreibung. Nominell sind sie zu einer Dividende von zweieinhalb Prozent berechtigt. Das heißt, daß der Kaufwert der Aktie etwa acht Schilling beträgt. Sie sind niemals im offenen Markt gehandelt worden und werden auch niemals gehandelt werden. Ich glaube nicht, daß der alte Joe welche besaß. Aber ich will mich informieren.«

Er klingelte, und als Perkins erschien, sagte er ihm:

»Bringen Sie mir die Statuten der Yünnan-Gesellschaft.«

Nach einigen Minuten kam der Sekretär mit einem dicken, blau eingebundenen Bande zurück, den er auf den Tisch legte.

Mr. Narth öffnete den staubigen Deckel. Während er auf der ersten Seite las, hielt er plötzlich inne.

»Das ist doch seltsam!« rief er aus. »Ich wußte nicht, daß Lynne ein Direktor ist.« Er runzelte die Stirn. »Aber ich vermute, nur dem Titel nach«, sagte er, als er Seite für Seite umblätterte.

Fünf Minuten lang herrschte tiefes Stillschweigen, das nur durch das Rascheln der Blätter unterbrochen wurde.

»Donnerwetter!« keuchte Narth. »Höre nur: Die Leitung der Gesellschaft und die Verfügung über die Reservefonds liegt in den Händen des Aufsichtsrates, der in geheimer Abstimmung gewählt wird. Zur Teilnahme an dieser sind nur die Inhaber von Gründeraktien berechtigt. Ungeachtet irgendwelcher anderslautenden Bestimmungen in den nachfolgenden Paragraphen soll der Aufsichtsrat der Bevollmächtigte der Majorität sein.«

Bestürzt sah er auf.

»Das bedeutet, daß die gewöhnlichen Aktionäre bei der Leitung der Gesellschaft überhaupt nichts zu sagen haben, und daß von den neunundvierzig Gründeraktien, die ausgegeben wurden, Fing-Su vierundzwanzig in seinem Besitz hat!«

Er sah in das erstaunte Gesicht Joans.

»Ich habe heute gehört, daß der Reservefonds der Yünnan-Gesellschaft sich auf acht Millionen beläuft«, sagte er. »Diese Summe kam zusammen durch den Ertrag von Bergwerken, Goldminen, auch gehört dazu das Geld, das nach der russischen Revolution bei der Gesellschaft deponiert wurde . . .«

Er sprach etwas unzusammenhängend.

»Und die Majorität befindet sich in den Händen Clifford Lynnes«, sagte er langsam. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, welch unbarmherzig grausamer Kampf um diesen ungeheuer großen Fonds im Gange war.

Er hob seine Hand an die zitternden Lippen.

»Bei Gott, ich wünschte, ich hätte mit der Geschichte nichts zu tun!« sagte er heiser, und etwas von seiner Furcht teilte sich dem jungen Mädchen mit.

Sie fuhr in dem Wagen von Mr. Narth nach Sunningdale zurück. Unterwegs überholte sie eine gewöhnlich aussehende Droschke. Zufälligerweise sah sie in den anderen Wagen hinein und erkannte Clifford Lynne. Auf seinen Wink ließ sie ihren Wagen halten.

Er stieg aus seiner Droschke aus und kam zu ihrem Wagen. Ohne zu fragen, öffnete er die Tür und stieg ein.

»Ich will mit Ihnen bis zum Ende meines Weges fahren«, sagte er. »Meine Droschke ist mit allerhand Proviant vollgeladen, so daß es sich unbequem darin fährt. Ich will nämlich meine neue Wohnung beziehen.«

Er sah sie scharf an.

»Sie waren in der Stadt. Da wir noch nicht verheiratet sind, habe ich ja noch nicht das Recht Sie zu fragen, warum Sie in solch einem eleganten Wagen fahren. Ich vermute, Sie haben unseren Freund Narth besucht?« Und plötzlich fragte er sie unvermittelt: »Haben Sie Fing-Su gesehen?«

Sie nickte.

»Ja, ich hatte heute morgen eine Unterredung mit ihm«, sagte sie.

»Zum Teufel, was haben Sie gemacht!«

Wenn er wütend war, verbarg er seine Aufregung nicht.

»Und was hat dieses naive und edle Naturkind Ihnen gesagt?« fragte er ironisch. »Ich will verdammt sein, wenn es nicht irgend etwas unverschämt Anmaßendes war. Alle Chinesen, die die Politur europäischer Zivilisation angenommen haben, bilden sich ein, große Diplomaten zu sein!«

Sollte sie ihm etwas erzählen? Sie hatte kein Versprechen gegeben, und nur Fing-Su hatte sie gebeten, den Inhalt ihrer Unterhaltung als vertraulich zu betrachten.

Er sah, daß sie zögerte. Mit unheimlichem Scharfsinn durchschaute er, was sich ereignet hatte.

»Wollte er nicht eine Gründeraktie von der Yünnan-Gesellschaft kaufen?«

Als sie rot wurde, schlug er sich auf das Knie und lachte lang und ausgelassen.

»Armer kleiner Macchiavelli!« sagte er schließlich und wischte sich die Augen. »Ich ließ mir ja niemals träumen, daß er mit seinem Zehntel zufrieden wäre!«

»Seinem Zehntel?«

Er nickte.

»Ja, Fing-Su besitzt ein Zehntel der Anteile. Ist Ihnen das neu? Joe Bray verfügte über ein weiteres Zehntel.«

»Aber in wessen Besitz sind denn die übrigen Anteile?« fragte sie erstaunt.

»Im Besitz Ihres zukünftigen Gatten – Herrn darf ich ja wohl nicht sagen«, bemerkte er. »Unser chinesischer Freund ist mehr als ein Millionär, aber er ist damit nicht zufrieden. In einer Anwandlung von Verrücktheit gab Joe Fing-Sus Vater einige Gründeraktien und obendrein übereignete er später die meisten der ihm persönlich verbleibenden Fing-Su selbst! Joe Bray in allen Ehren – aber ich glaube nicht, daß er jemals bei Verstand war. Aber das Verrückteste, was er jemals angestellt hat –« Hier unterbrach er sich selbst. »Mag sein, daß er es nicht getan hat, aber ich habe meinen Argwohn . . . heute abend werde ich es sicher erfahren.«

Sie fragte ihn nicht, was er für einen Argwohn habe, und er fuhr fort:

»Es gab früher keine organisierte Yünnan-Gesellschaft, bis ich mein Vermögen mit Joe zusammenwarf. Er hatte gerade ein wenig Kohle aus dem Land gegraben, für das Fing-Sus verstorbener Vater eine Konzession erworben hatte. Aber dieser törichte alte Herr hatte einen Vertrag geschlossen, wonach der Chinese ein Zehntel des Reingewinns erhalten sollte. Mir war das alles unbekannt, bis ich einen Landstrich mit ergiebigen Kohlenlagern zu dem Unternehmen hinzubrachte. Infolgedessen entstanden so viele juristische Schwierigkeiten, um Fing-Sus Vater auszuschließen, daß die ganze Sache während der Prozesse nichts wert war. Nachher habe ich die Gesellschaft mit größerem Kapital neu gegründet. Verstehen Sie das?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist mir nur ganz undeutlich klar geworden«, sagte sie. »Aber ich möchte es gern verstehen.«

Wieder sah er sie prüfend von der Seite an.

»Damals setzte ich die Bestimmung betreffend der Gründeraktien durch, um den guten alten Joe daran zu hindern, noch weiterhin gegen sein eigenes Interesse zu handeln. Ihr verehrter Verwandter war nicht gerade sehr intelligent, aber er hatte das beste Herz, das jemals schlug. Gründeraktien waren ihm nichts wert, als er entdeckte, daß sie keine Zinsen brachten. Von den neunundvierzig ausgegebenen Aktien erhielt Fing-Sus Vater neun. Joe war sogar noch stolz darauf, und Joe und ich erhielten jeder zwanzig.«

»Was bedeutet denn eigentlich der Reservefonds?« fragte sie.

Einen Augenblick sah er sie argwöhnisch an. Schließlich sagte er: »Wir haben große Reserven, doch gehört ein erheblicher Teil davon nicht uns. Sehen Sie, wir hatten ein umfangreiches Geschäft in der Mandschurei, unter anderem betrieben wir dort auch Bankgeschäfte. Als die Revolution kam, wurden große Vermögen bei uns deponiert, und wir brachten sie nach Schanghai in Sicherheit. Viele von unseren armen Kunden kamen ums Leben und zwar gerade die Besitzer der größten Depots. Bei dem jetzigen Chaos ist es unmöglich, ihre Verwandten und Erben ausfindig zu machen. Ihr Geld bezeichnen wir als den Reservefonds B. Und diese ungeheuren Summen möchte sich Fing-Su gerne aneignen!«

Als er ihr Erstaunen sah, fuhr er fort:

»Vor einigen Monaten erfuhr ich, daß Joe mehr als die Hälfte seiner Gründeraktien diesem aalglatten Chinesenschuft gegeben hatte. Er hätte ihm auch alle ausgeliefert, nur fünf Aktien hatte er verlegt. Gott sei Dank entdeckte ich sie und brachte sie in meinen Besitz. Weil ich die Majorität habe, kann Fing-Su nicht an den Reservefonds heran. Wenn er aber einmal im Besitz einer weiteren Gründeraktie ist, dann können alle Gerichtshöfe in China ihn nicht davon abhalten, anderer Leute Geld zum Teufel zu jagen. O Joe, du hast eine schwere Verantwortung für alle diese Dummheiten!«

Aber jetzt tadelte sie ihn.

»Mr. Lynne – Clifford, ich muß Ihnen etwas sagen – wie können Sie von Ihrem verstorbenen Freund so schlechte Dinge sagen?«

Er antwortete hierauf nicht direkt. Als er wieder sprach, tat er so, als ob er ihre Frage nicht gehört hätte.

»Diese Welt ist wunderschön, es ist ein Genuß, in ihr zu leben«, sagte er. »Ich hasse auch nur den Gedanken, von hier zu scheiden. Aber an einem der nächsten Tage werde ich Fing-Su das Genick umdrehen!«

 


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