Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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12

Die rührige Tätigkeit der Chinesischen Handelsgesellschaft hätte weiter keine große Beachtung erfahren, wenn man sie nicht für die Arbeiterunruhen verantwortlich gemacht hätte, die wegen der Verwendung gelber Menschen ausgebrochen waren. Man wußte, daß die Gesellschaft mit dem Kapital reicher Chinesen gegründet war. Deshalb war es nicht verwunderlich, daß die Gründer es vorzogen, Landsleute anzustellen. Als die Beschwerden der Arbeiterschaft beigelegt und die Leute der Chinesischen Handelsgesellschaft als Gewerkschaft anerkannt waren, verstummten die Anfeindungen. Aber die Proteste erneuerten sich, als die Bewohner der umliegenden Gegend durch ein Verbrechen in Schrecken versetzt wurden, das in der Nähe der Fabrik begangen wurde. Es blieb aber glücklicherweise bei dem einen Fall, da die Gesellschaft durchgreifende Maßnahmen ergriff und den chinesischen Arbeitern Wohnungen in dem Fabrikgebäude selbst zuwies. Es war Platz genug dazu vorhanden, denn es standen viele Betonhäuser hier. Es war eine der vielen Fabrikanlagen, wie sie während des Krieges aus dem Boden wuchsen und mit dem Waffenstillstand entbehrlich wurden. Die Firma hatte diese große Niederlassung für einen Bruchteil des Wertes erworben.

Die Fabrik erhob sich an den Ufern des träge dahinfließenden Surrey-Kanals. Sie hatte eine eigene kleine Dockanlage und einen Uferkai, wo unzählig viele Lastboote Woche um Woche entladen und wieder beladen wurden. Nur die Lastboote waren mit weißen Arbeitern bemannt; auf den Schiffen, welche die Waren der Gesellschaft an die afrikanische Küste brachten, waren sowohl die Offiziere wie die Mannschaften Chinesen.

Die sogenannte »Gelbe Flotte« bestand aus vier Schiffen, die man günstig erworben hatte, als die Schiffahrt ganz daniederlag. Offensichtlich handelte die Firma mit gutem Erfolg in Reis, Seide und den tausendundein Produkten des fernen Ostens. Diese Waren wurden gewöhnlich an den Ufern des Pool unterhalb London entladen und kamen auf dem gewöhnlichen Handelsweg in den Markt. Die Ladung der Schiffe wurde durch Leichter herangebracht, die vom Surrey-Kanal kamen. Man lud nur solche Güter, welche die Gesellschaft in China schnell umsetzen konnte.

Es regnete, als Clifford Lynne in einer Droschke aus der Old Kent Road fuhr, um möglichst schnell nach Peckham zu kommen. Kurz vor der verlassenen Kanalbrücke hielt der Wagen, und Lynne stieg aus. Er gab dem Kutscher kurze, leise Instruktionen. Dann ging er zu dem Kanalufer hinunter. Außer dem Sirenengeheul eines entfernten Dampfers, der auf dem Wege zum Meere war, wurde die Stille durch kein Geräusch unterbrochen. Rasch ging er die enge Uferstraße auf der Wasserseite entlang. Einmal kam er an einem Boot vorbei, das am Ufer festgemacht war, und hörte die leisen Stimmen des Bootsmannes und seiner Frau, die sich miteinander unterhielten.

Nachdem er zehn Minuten gegangen war, verlangsamte er seine Schritte. Gerade vor ihm, auf der linken Seite, lagen die dunklen Gebäude der chinesischen Fabrik. Er ging durch das Haupttor. Die kleine Türe für Fußgänger stand offen. Davor hockte ein ungeheuer großer Kuli, den er im Schein der Zigarre sah, die der Mann rauchte. Der Wächter entbot ihm mit gurgelnder Stimme »Guten Abend«, und er erwiderte den Gruß.

Der Kanal machte hier, etwas oberhalb des Tores, eine Biegung, und in einigen Sekunden konnte ihn der Kuli nicht mehr sehen. Jetzt bog die Mauer im rechten Winkel ab, und er kam in einen engen, dunklen Durchgang, der an der Mauer entlang lief. Es hatte sich eingeregnet, und die Tropfen fielen melancholisch auf seinen Mantel. Er hatte eine elektrische Lampe aus seiner Tasche gezogen. Mit ihrer Hilfe konnte er den tiefen Löchern in dem scheinbar selten benutzten, schlechten Fußweg ausweichen.

Jetzt fand er, wonach er gesucht hatte – eine schmale Tür, die tief in der Mauer zurücklag. Er stand still und lauschte ein paar Minuten, dann steckte er den Schlüssel in das Loch und drehte ihn um. Er öffnete leise und schlüpfte hinein.

Soweit er sehen konnte, hob sich zu seiner Linken die gerade Umrißlinie des Hauptgebäudes gegen den Himmel ab. Zu seiner Rechten stand ein Betonschuppen, der so niedrig war, daß die Traufkante des Daches sich nicht über Augenhöhe erhob. Während des Krieges hatte man diesen Platz benutzt, um die Bomben mit Sprengstoff zu füllen, und augenscheinlich hatte dieser Schuppen zur Unterbringung der Sprengstoffe gedient.

Er tastete sich vorsichtig weiter und vermied es, seine Taschenlampe zu gebrauchen. Von irgendwoher kamen aus dem dunklen Gelände die tiefen Töne eines Chorgesangs. Da sind die Quartiere der Leute, dachte er, als er bemerkte, aus welcher Richtung das Geräusch kam.

Eine schöne breite Steintreppe, die unterhalb der Erdgleiche lag, führte ihn zu dem Tor des Schuppens. Wieder stand er still und lauschte, steckte den Schlüssel ein und drehte ihn leise um. Nachdem er seine Lampe einen Augenblick eingeschaltet hatte, sah er eine zweite Flucht von Stufen, die tief in die Erde hinabführten. Hier waren zwei Tore, aber sie glichen keinem von denen, durch die er bisher gegangen war. Sie waren reich mit fein geschnitzten Figuren verziert und mit leuchtenden, lebhaften Farben bemalt. Selbst wenn er in solchen Dingen nicht kundig gewesen wäre, hätte er chinesische Kunstformen in ihnen erkannt.

Es dauerte einige Zeit, bevor er das Schlüsselloch fand. Aber schließlich hatte er eines der beiden Tore geöffnet. Als es sich auftat, kam ihm schwerer Weihrauchduft und ein beißender Geruch entgegen, den er nur allzu gut kannte. Trotz seines Mutes fühlte er sein Herz schneller schlagen.

Nachdem er die Tür sorgsam hinter sich geschlossen hatte, leuchtete er mit seiner Blendlaterne die Wand entlang, und nach einer oder zwei Sekunden hatte er den elektrischen Schalter gefunden. Ohne Zögern drehte er das Licht an. Sofort leuchteten zwei glitzernde, elektrische Lampen auf, die von massiv bronzenen Pfosten getragen wurden.

Der Raum war lang und schmal und hatte eine niedrige Decke. Die Betonwände, die ehemals die Sprengstoffe eingeschlossen hatten, waren mit roter Seide bespannt, in die chinesische Sprüche eingestickt waren. Diese Wandbespannungen wechselten mit Pilastern ab, die aus gehämmertem Golde zu sein schienen. Der Steinboden war mit leuchtenden, farbigen Majolikafliesen gedeckt, und an drei Seiten des Raumes zog sich der breite Streifen eines dunkelblauen Teppichs hin. Aber das beachtete er im Augenblick alles nicht, seine Aufmerksamkeit wurde auf einen länglichen Marmoraltar gelenkt, der am anderen Ende des Raumes stand. Hinter diesem, auf einem steinernen Unterbau, befand sich das besondere Symbol der Geheimgesellschaft: zwei goldene Hände, die in Freundschaft ineinandergeschlungen waren. Sie waren an einem rotlackierten Pfosten befestigt, der mit Inschriften von Goldbuchstaben bedeckt war.

Eine Weile las er diese Inschriften. Sie waren von wunderbarem Inhalt und ermahnten besonders zur Tugend und zur Kindesliebe. Unter den Händen stand unter einem kleinen, purpurroten Baldachin ein Thron. Als er näher kam, sah er glitzerndes Licht, das von der Spitze des Altars kam, und zu seinem Erstaunen bemerkte er, daß der Rand mit Diamanten besetzt war!

»Mag kommen, was will!« sagte er verwundert und streckte die Hand aus, um die glänzenden Edelsteine zu berühren.

In diesem Augenblick gingen plötzlich alle Lichter im Raume aus. Er fuhr herum und zog blitzschnell seinen Revolver aus der hinteren Tasche.

Mit schwirrendem Tone sauste etwas an seiner Backe vorbei. Er hörte den Aufschlag eines Messers, das gegen die Wand fuhr und dann auf den Boden niederfiel. Ein zweites Messer schwirrte hinterher. Da feuerte er zweimal in der Richtung nach der Tür. Er hörte ein Stöhnen, das plötzlich verstummte, als ob kräftige Hände den Mund des Getroffenen geschlossen hätten.

Tiefes Schweigen herrschte. Nur das Gleiten bloßer Füße auf dem glatten Boden zeugte von der Gegenwart seiner Angreifer.

Clifford stürzte nach vorn und setzte sich nieder. Im Nu hatte er seine Schuhe ausgezogen, knotete die Schnürriemen zusammen und hing sie um den Hals, wie er es früher als Schüler gemacht hatte, wenn er durch einen verbotenen Teich watete. Dann erhob er sich geräuschlos und tastete sich an dem Teppich entlang. Seine Ohren waren darauf eingestellt, den leisesten Ton zu erhaschen.

»Klick!«

Da stieß Stahl gegen den plattenbelegten Fußboden. Sie suchten ihn mit ihren bloßen Schwertern – wie viele mochten es sein?

Weniger als ein Dutzend, schloß er daraus, daß sie das Licht ausgedreht hatten. Eine größere Schar hätte es gewagt, seinem Revolver entgegenzutreten. Nach einer Weile wandte sich die Reihe der Sessel nach links. Er bewegte sich jetzt auf die Tür zu und mußte die größte Vorsicht gebrauchen.

Er stand still und lauschte. Jemand atmete tief, ganz dicht bei ihm. Das mußte der Torwächter sein. Da kam ihm ein Gedanke. Die Chinesen haben eine ganz besondere Art zu flüstern – ein tiefes Zischen, nicht lauter als das Seufzen des Nachtwindes.

»Geht alle zu den Händen!« flüsterte er. Er sprach in dem Dialekt von Yünnan und hatte damit Erfolg. Das Geräusch des Atmens verschwand aus seiner Nähe, und er bewegte sich verstohlen auf die Türe zu. Bei jedem Schritt stand er still und lauschte.

Der Teppich endete plötzlich, seine Finger berührten die seidene Bespannung und dann die bloße Wand. Nach einem weiteren Augenblick war er durch die offene Tür gegangen und stieg die Stufen herauf. Über ihm erhob sich am äußeren Eingang die Gestalt eines stehenden Mannes in vornübergeneigter, lauschender Haltung. Die Figur stand schwarz gegen den hellen Nachthimmel.

Clifford blieb stehen, um Atem zu holen. Dann sprang er mit zwei großen Schritten die Treppe hinauf.

»Wenn du dich rührst, bist du des Todes!« flüsterte er und drückte die Mündung seiner Pistole in den wattierten Rock.

Der Mann schreckte zurück, faßte sich aber sofort wieder. Clifford hörte ein Lachen, das er kannte.

»Schießen Sie nicht, Mr. Lynne! Sic itur ad astra! Aber ich ziehe einen anderen Weg zur Unsterblichkeit vor!«

In dem Lichte seiner Taschenlampe erkannte Clifford den Mann. Er trug einen langen Rock, der bis zu den Knöcheln herabreichte, auf seinem Kopf saß eine runde Chinesenmütze.

Es war Grahame St. Clay, B. A.!

 


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