Edgar Wallace
Die gelbe Schlange
Edgar Wallace

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11

Mr. Clifford Lynne hatte ein kleines, möbliertes Haus in Mayfair gemietet. Er schätzte sein Quartier, weil es einen Eingang von der Rückseite hatte. Hinter dem Hause befand sich eine kleine Garage, die einen Ausgang nach einer langen, sehr engen Gasse hatte, an der andere Garagen lagen. Über den Wagenräumen befanden sich die Wohnungen der Chauffeure.

Clifford Lynne war über eine Nachricht sehr verblüfft, aber sie betraf weder Fing-Su, noch Mr. Narth noch Joan. Ein Zweifel hatte sich zu starkem Verdacht verdichtet, und er war nicht weit davon entfernt, ihn als Tatsache zu nehmen.

Den ganzen Nachmittag hatte er in Zeitungen aus China gelesen, die mit der letzten Post aus China gekommen waren. Kurz vor sieben fand er einen Abschnitt im North China Herald, der ihn plötzlich mit einem Fluch in die Höhe fahren ließ. Leider war es zu spät, um sofort Nachforschungen anzustellen, da im selben Moment Besuch angekündigt wurde.

Mr. Ferdinand Leggat, dieser liebenswürdige, freundliche Mann, war durch die Garage in einem geschlossenen Wagen auf den Hof gekommen, und der Chauffeur Mr. Lynnes hatte ihn durch die Hintertüre hereingelassen. Es gab aber auch gute Gründe für diese Vorsicht.

Als er das kleine Speisezimmer betrat, drehte er sich hastig um und wollte die Tür hinter sich fest schließen. Aber der Diener, der ihm auf dem Fuß folgte, machte dies überflüssig. Sein Gesicht zeigte einen merkwürdigen Ausdruck, der nicht gerade Furcht bedeutete, aber man sah doch, daß ihm nicht ganz wohl zumute war.

»Ich wünschte, Sie hätten die Zusammenkunft etwas später arrangieren können, Mr. Lynne«, sagte er, als dieser ihm einen Platz anbot.

»Was bei Tage vor sich geht, sieht immer unschuldig aus«, bemerkte Clifford ruhig. »Außerdem verdächtigt niemand eine Droschke. Ich vermute, daß Sie sie auf der Straße anriefen? Und nach den paar halblauten Instruktionen brachte der Kutscher Sie hierher. Ja, wenn Sie in einer langen, grauen Limousine gekommen wären, die Sie in einer dunklen Straße aufgenommen hätte, würden Sie vielleicht die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.«

»Diese Kutscher schwatzen«, sagte der andere und spielte mit Messer und Gabel.

»Nicht dieser Mann, denn seit acht Jahren steht er in meinen Diensten. Alles, was Sie zu Essen und Trinken brauchen, steht auf dem Büfett – bitte bedienen Sie sich selbst.«

»Kommt Ihr Diener auch nicht herein?« fragte der andere nervös.

»Wenn das der Fall wäre, würde ich Sie nicht bitten, sich selbst zu bedienen«, entgegnete Clifford. »Ich möchte mit Ihnen ein wenig sprechen, bevor Sie gehen. Deswegen bat ich Sie, so früh zu kommen. Sagen Sie mir bitte, was hat sich heute ereignet?«

Lynne wandte sich zum Büfett, legte sich ein Stück Huhn und Salat auf den Teller und kam damit zu dem Tisch.

»Was ist passiert?« fragte er noch einmal.

Mr. Leggat schien keinen Appetit zu haben, denn er nahm nur eine Whiskyflasche und einen Siphon mit Sodawasser.

»St. Clay rast vor Wut«, sagte er. »Sie müssen sich sehr vor diesem Menschen in acht nehmen, Lynne. Er ist wirklich ein gefährlicher Kerl.«

Clifford Lynne lächelte.

»Habe ich Sie den ganzen weiten Weg von Ihrem Heim in South Kensington hierherkommen lassen, um das zu erfahren?« fragte er ironisch. »Natürlich ist er ein gefährlicher Kerl. Aber sagen Sie mir lieber, was hat sich zugetragen?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich sah Spedwell vor einigen Minuten, und er sagte mir, daß St. Clay –«

»Nennen Sie ihn doch lieber Fing-Su – dieses Gerede mit St. Clay fällt mir wirklich auf die Nerven!«

»Er sagte, daß Fing-Su zuerst Himmel und Hölle in Bewegung setzte und dann darauf bestand, daß Narth die Sache als einen Scherz ansehen sollte. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich das Mädel sorgsam bewachen lassen.«

Clifford sah den andern scharf an.

»Sie meinen Miß Bray – ich glaube, es ist besser, daß Sie die Dame Miß Bray nennen. ›Das Mädel‹ klingt ein wenig respektlos«, sagte er kühl. »Meinen Sie nicht auch?«

Leggat zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich wußte nicht, daß Sie so verflucht korrekt sind«, brummte er.

»Ja, das bin ich in der Tat«, sagte Clifford. »Also – Fing-Su ist bestimmt gefährlich, das habe ich nie bezweifelt. Aber wissen Sie auch, wie tödlich gefährlich er ist?«

»Ich?« fragte Leggat verwundert. »Warum?«

Der andere sah ihn sonderbar an.

»Ich vermute, daß Sie in seine kostbare Gesellschaft der ›Freudigen Hände‹ eingetreten sind, und daß Sie da so eine Art Hokuspokuseid geschworen haben?«

Leggat rutschte unbehaglich in seinem Stuhl hin und her.

»Ach so! Nun ja, ich kümmere mich sehr wenig um diese Dinge«, sagte er verlegen. »Geheimgesellschaften sind alle ganz gut in ihrer Weise, aber sie sind doch schließlich nur eine Spielerei mit allerhand mystischen Dingen. Aber abgesehen davon – Fing-Su besitzt eine große Fabrik in London. Es würde ihm schaden, wenn er sich auf unreelle Tricks einließe. Er sagte mir zum Beispiel, daß er in etwa einem Jahr den ganzen Handel Südchinas in seiner Hand haben wird, und man erzählt sich, daß er Handelsniederlassungen bis weit an die tibetanische Grenze hat! Der Mann muß jährlich Tausende verdienen! Diese Geheimgesellschaft ist nur ein Handelskniff. Von Spedwell weiß ich, daß Logen dieses Systems fast in jeder größeren Stadt Chinas bestehen. Natürlich kommt das dem Geschäft zugute. Er hat es dadurch erreicht, daß er von seinen Landsleuten fast wie ein Gott verehrt wird. Sehen Sie sich doch einmal die Bureaus an, die er am Tower Hill baut, und die Fabrik draußen in Peckham!«

»Ich will die Fabrik in Peckham diesen Abend noch besuchen«, sagte Lynne. Erstaunen malte sich auf Leggats Gesicht.

»Was wollen Sie denn damit erreichen?« fragte er. »Der Platz wimmelt von Chinesen. Er beschäftigt dort über zweihundertfünfzig Mann. Die Peckham-Leute würden bei Ihrem Erscheinen einen Aufstand machen, auch wenn es nur fünfzig wären. Deshalb läßt er die Leute auch innerhalb der Fabrik wohnen. Sie können in die Werke nicht hineinkommen, selbst nicht für Geld und gute Worte.«

Clifford Lynne lächelte.

»Trotzdem werde ich es versuchen«, sagte er. »Alles, was ich von Ihnen dazu brauche, ist der Hauptschlüssel zu den äußeren Toren.«

Der große Mann wurde totenbleich, und die Hand, die das Whiskyglas hielt, zitterte.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst?« fragte er mit heiserer Stimme. »Großer Gott, Mann, Sie werden doch nicht dorthin gehen – ich kann Sie unmöglich dorthin bringen – gibt es denn gar keinen anderen Weg? Können Sie Ihr Ziel nicht mit Hilfe der Polizei oder des Auswärtigen Amtes erreichen?«

»Die Polizei und das Auswärtige Amt würden mich auslachen«, sagte Lynne. »Ich will selbst mit eigenen Augen sehen, was sich innerhalb der Umfassungsmauer dieses drei Morgen großen Grundstücks abspielt. Ich will genau feststellen, was Mr. Grahame St. Clay mit seinen Warenhäusern, seinen Schiffen und seinen Motorbooten macht. Aber besonders begierig bin ich, die Halle der ›Weißen Ziege‹ kennenzulernen.«

Leggat zitterte wie Espenlaub. Er öffnete seinen Mund, um zu sprechen, aber er konnte kein Wort hervorbringen.

»Dort lauert der Tod!« stieß er endlich hervor.

Ein stahlharter Blick des andern ließ ihn erschauern.

»Vielleicht auf Sie – aber nicht auf mich!« sagte Clifford Lynne.

 


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