Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Amber tritt die Ausreise an

Amber fuhr an einem trüben Dezembertag nach Southampton; ein grauer schwerer Nebel lag auf dem Wasser; man sehnte sich nach Gemütlichkeit, nach warmen, behaglichen Kaminecken hinter geschlossenen Vorhängen, und das Meer hatte nichts zu bieten als die furchtbare Öde und Einsamkeit.

Er hatte nicht erwartet, Cynthia auf dem Waterloo-Platz zu treffen, denn er hatte sich am Abend vorher ganz unbestimmt verabschiedet. Sie war so unbeirrt ruhig und gefaßt gewesen, hatte sich so sachlich benommen, daß er die Worte, die er sich vorher zurechtgelegt hatte, einfach nicht aussprechen konnte.

Er war eifrig damit beschäftigt, einen Brief an sie aufzusetzen – den er, ehe das Schiff in See stach, aufgeben wollte – und war gerade an dem Satz angelangt, der ihr seine Aussichten für die Zukunft kurz umrissen darlegen sollte, als sie plötzlich den Zug entlang kam und ihn fand.

Darauf war er nicht gefaßt – ganz verlegen pries er das herrliche Wetter und vergaß dabei, daß der Regen wider das Wagenfenster klatschte. Er dankte ihr dann in aller Form, daß sie gekommen sei, um ihn abfahren zu sehen.

Sie mußte ihn in diesem Augenblick nicht gerade für intelligent oder sehr geistreich gehalten haben, denn er bemerkte, daß sie lächelte – aber was soll ein Mann sagen, dessen Herz so voll ist, daß er nicht reden kann, und den die Höflichkeit zwingt zu reden?

Allzu schnell verflogen die letzten Augenblicke, als auch schon des Schaffners Pfeife schrillte. »Oh, daß dich –!« Amber sprang auf. »Schade – ich wollte sagen – Oh, zum Henker!«

Sie lächelte wieder.

»Sie werden eine Menge Zeit haben,« sagte sie ruhig. »Ich fahre nach Southampton.«

Überglücklich und dankbar sank Amber in seinen Sitz zurück, als der Zug aus dem Bahnhof hinausfuhr. Was er gern gesagt hätte, kann man sich leicht denken. Die Gelegenheit war da und kehrte vielleicht nicht wieder. Er meinte, es sei heute ein herrlicher Tag – sie konnte annehmen, sein Verstand habe einen Knax bekommen. Er vergeudete eine halbe Stunde damit, ihr zu erklären, daß die Hutmacher ihm einen Helm geschickt hätten, der zwei Nummern größer als nötig ausgefallen sei, und er malte ihr aus, wie er darin ausgesehen hätte.

Sie war höflich interessiert ...

Nur zu schnell erreichte der Zug die Endstation Southampton. Es regnete – ein feiner, kalter Staubregen war es, dessen Tropfen sich an die Fensterscheiben setzten und die Umrisse der Gebäude verzerrten, an denen der Zug auf seinem Weg zu den Docks langsam vorbeifuhr.

Amber seufzte tief auf, und als er darauf in des Mädchens schalkhafte Augen blickte, lächelte er auch.

»Wirklich schlechtes Wetter, meine Gnädige,« wiederholte er traurig, »der Himmel weint, England trauert über den Verlust seines Sohnes oder so was ähnliches.«

»Es muß den Schmerz eben tragen,« spottete das Mädchen, und Amber wunderte sich, daß sie unter so traurigen Umständen so heiter sein konnte – denn Amber schien Egoist zu sein.

Am Kai verließen sie den Zug unter der großen, schuppenähnlichen Halle und gingen über die Schiffslände nach dem Fallreep.

»Wir wollen einen trockenen Platz suchen,« sagte Amber, »ich möchte Ihnen ein behagliches Eckchen verschaffen und zuvor dem Steward ein gutes Wort geben.« Er verließ sie in dem großen Salon und begab sich auf die Suche nach seiner Kabine.

Er mußte sich um andere Dinge kümmern – er mußte überlegen, unendlich Wichtiges überlegen; sein Leben, seine Zukunft, sein Glück hing davon ab. Wenn er jetzt nur einen Anfang finden könnte! Sie könnte ihm auch so etwas wie einen Anlaß geben, damit er all das, was er auf dem Herzen hatte, sagen könnte. Amber, ein junger Mann, den sonst noch so schwierige Situationen nicht aus dem Gleichgewicht bringen konnten, trieb auf einem höchst stürmischen Meer von Empfindungen wild umher, das Land vor Augen, die Rettungsleine zur Hand, mit deren Hilfe er wirklich sicher in den Hafen gelangen konnte, jedoch ohne den Mut zu haben, die Leine zu erfassen oder sein Boot ans Ufer zu steuern.

»Denn,« so redete er sich ein, »auf dem Wege dahin könnten Felsen sein, und besser unbehaglich zur See, als am Gestade stranden.«

Während er das alles in seinem Kopfe höchst ernsthaft erwog, war er zweimal an seiner Kabine vorübergegangen, hatte seinen Steward verfehlt und war in die Kabinen zweiter Klasse geraten, wo sich die Zwischendeckspassagiere fröstelnd drängten, bis es ihm zum Bewußtsein kam, daß seine Angelegenheit noch nicht erledigt war.

Er kehrte in den Salon zurück und fand ihn leer; eine wilde Angst bemächtigte sich seiner. Sie war des Wartens müde geworden – und hatte einen früheren Zug zur Rückfahrt benutzt.

Er raste auf das Deck, rannte unzählige Kajütentreppen auf und ab, lief auf dem breiten Promenadendeck zum Erstaunen der ahnungslos dreinschauenden Quartiermeister hin und her, war mit zwei Schritten das Fallreep hinuntergeeilt und stand suchend auf dem nassen Kai, war dann ebenso schnell wieder auf Deck, um seine Nachforschungen auf dem Schiff von neuem aufzunehmen.

Was für ein hoffnungsloser Esel war er! Ein vollkommenes Mondkalb! Er kam zurück in den Salon, ein Bild tragischer Verzweiflung, und fand sie, sehr kühl, sehr wortkarg – was man von ihm nicht behaupten konnte.

»Ei, Sie sind ja ganz naß,« begrüßte sie ihn. Amber lächelte dumm.

»Ja, einen Koffer verloren, wissen Sie, auf dem Kai zurückgelassen – es fiel gerade ein wenig Regen – jetzt will ich Ihnen etwas sagen –.« Er war außer Atem, aber fest entschlossen, als er sich neben sie setzte.

»Sie gehen sofort in Ihre Kabine und ziehen sich um,« befahl sie.

»Das schadet nichts, ich –«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sie müssen,« sagte sie fest, »Sie können sich sonst etwas holen, außerdem sehen Sie komisch aus.«

Das war die Höhe; denn ein richtiger Mann trotzt den Gefahren und unterdrückt die heißesten Wünsche heroisch, aber Lächerlichkeit ist der Feind, den er flieht.

Er verbrachte eine unruhige und leidenschaftlich erregte halbe Stunde damit, Koffer aufzuschließen und die zum Umkleiden nötigen Stücke ans Tageslicht zu befördern. In der Regel sind die gesuchtesten Gegenstände am tiefsten verstaut und halten sich dem Auge verborgen. Er sah erhitzt und zerzaust aus, als er mit den Fingern, die vor Erregung zitterten, den letzten Knopf zuknöpfte und die Tür hinter dem Chaos in seiner Kabine schloß.

Eine kostbare halbe Stunde war vorüber – eine weitere mußte für den Lunch zur Verfügung gehalten werden – denn das Schiff sieht eine ausgezeichnete Mahlzeit für die Freunde der Passagiere vor, und seine Schutzbefohlene war ein Mensch und hatte Hunger.

Als er auf das Promenadendeck kam, wurde die Briefpost an Bord gebracht, was soviel bedeutete, daß in einer halben Stunde die Glocke läuten würde, um allen, die nicht mitreisten, das Zeichen zu geben, daß sie von Bord gehen müßten. Dann würde die prächtige Gelegenheit, die ihm das Schicksal hier geboten, vorüber sein.

Auch schien sie sehr begierig zu sein, über die Möglichkeiten, ihren Bruder zu erreichen, lange Erörterungen anzubahnen – eine verzeihliche Besorgnis ihrerseits, wegen der er ihr aber unvernünftigerweise grollte. Doch bezwang er sich, hörte zu oder gab mehr oder weniger geistreiche Antworten.

Er verzweifelte innerlich, als die Minuten verstrichen, und als die Schiffsglocke das bekannte Zeichen gab, stöhnte er wie ein Unglücksrabe leise vor sich hin.

Er erhob sich, ein wenig bleich.

»Ich fürchte, wir müssen uns trennen,« bemerkte er unsicher, »und ich hätte Ihnen noch das eine und das andere zu sagen.«

Sie sprang auf, etwas bestürzt, wie er meinte – oder sicherlich verwirrt, wie er aus ihrem Gesichtsausdruck schloß, denn Röte und Blässe überzogen ihre Wangen abwechselnd.

»Ich wollte sagen – Sie fragen – ich bin nicht so ganz wie die anderen Mitmenschen, und ich glaube, Sie denken, ich sei –.« Er hatte sich zu viele Einleitungen ausgedacht und versuchte sie nun alle anzubringen.

»Vielleicht warten Sie lieber,« sagte sie sanft.

»Ich beabsichtigte, Ihnen zu schreiben,« fuhr er fort, »sobald wir anliefen – in der Tat, ich wollte Ihnen von hier schreiben.« Ein Quartiermeister kam längs des Decks daher. »Will noch jemand an das Ufer zurück?« Er blickte fragend nach dem Paare hin. »Das letzte Fallreep wird weggenommen, meine Dame.«

Amber blickte hoffnungslos auf sie herab. Dann seufzte er.

»Ich fürchte, ich werde doch schreiben müssen,« sagte er kläglich und grinste.

Sie lächelte statt einer Antwort, schickte sich aber nicht an, wegzugehen.

Die Glocke läutete wieder.

»Wenn Sie nicht mitgenommen werden wollen an die Alebi-Küste,« sagte er halb scherzend, »so müssen Sie jetzt von Bord gehen.«

Sie lächelte wieder.

»Ich will an die Alebi-Küste mitgenommen werden,« bemerkte sie tapfer, »ich wüßte sonst nicht, wofür ich mein Reisegeld bezahlt hätte.«

Amber war beinahe sprachlos.

»Aber – wie können Sie denn – Ihr Gepäck?«

»Mein Gepäck ist in meiner Kabine,« meinte sie unschuldig, »wußten Sie nicht, daß ich mit Ihnen reisen würde?«

Amber sagte nichts, sein übervolles Herz fand keine Worte.

*

Als sie fünf Tage unterwegs waren und der Bergkegel von Teneriffa hinter ihnen versank, machte sich Amber den Ernst der Situation klar.

»Ich bin unverantwortlich selbstsüchtig gewesen,« sagte er; »ich hätte Sie in Santa Cruz überreden sollen, das Schiff zu verlassen, aber ich hatte nicht den Mut dazu – Sie hätten nicht kommen dürfen.«

» J'y suis – J'y reste!« sagte sie lässig. »Hier bin ich, hier bleibe ich.« Sie lag in einem bequemen Rohrsessel ausgestreckt, von der Spitze ihrer weißen Schuhe bis zum Scheitel ihres hübschen Kopfes ein reizendes Bild.

»Ich bin die Tochter eines Forschers,« fuhr sie fast ernsthaft fort, »Sie haben sich dessen zu erinnern, Kapitän Grey.«

»Wollen Sie mich nicht lieber Amber nennen,« sagte er.

»Nun, Herr Amber,« verbesserte sie sich, »obgleich es ein bißchen familiär klingt; wovon sprach ich?«

»Sie rühmten sich Ihrer Herkunft,« erwiderte er. Er zog einen Stuhl an ihre Seite – »und wir hörten respektvoll zu.«

Eine Weile sprach sie nichts, ihre Augen folgten den tanzenden Wogen, die über das Hinterteil des emsig dahineilenden Schiffes glitten.

»Es ist wirklich eine höchst ernsthafte Angelegenheit für mich, nicht wahr?« sagte sie plötzlich. »Dieses Land tötete meinen Vater – es hat mir meinen Bruder genommen.«

»Und es soll Sie nicht nehmen,« preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Eine derartige Torheit gebe ich nicht zu; Sie müssen zurückgehen. Wir treffen in Grand Bassam das Kongoboot, das auf der Heimreise begriffen ist, und ich werde veranlassen, daß Sie –«

Sie lachte laut auf.

»Wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen,« sagte er. »Lambaire mag glauben oder nicht glauben, daß sich der Diamantenfluß auf portugiesischem Gebiet befindet. Als er den Kompaß fälschte, mag er den Zweck verfolgt haben, der britischen Regierung den Glauben beizubringen, er habe bona fide gehandelt – Sie sehen, wir hätten Ihrem Vater glauben und seine Behauptung ohne weiteres annehmen sollen.«

»Glauben Sie, daß das die Absicht war?« fragte sie.

Amber schüttelte den Kopf.

»Offen gestanden, nein. Ich denke mir, daß der Kompaß deshalb gefälscht wurde, damit Ihr Vater nicht imstande sein sollte, die Mine ein zweites Mal zu finden: ich bin überzeugt, daß Lambaire beabsichtigte, zu verhindern, daß die Pläne irgend jemand anderem als ihm von Nutzen sein könnten – wenn sie zufällig in andere Hände fallen sollten.«

»Aber warum kaperte er Francis?« fragte sie verblüfft.

»Der einzige Weg, in den Besitz des Planes zu gelangen – und irgendwie verstärkte es ihre Position, den Sohn des toten Forschers mitgenommen zu haben.«

Das war die einzige Unterhaltung, die sie über den Gegenstand führten. Bei Sierra Leone übergaben sie ihr Gepäck dem »Pinto Colo«, einem kleinen portugiesischen Küstendampfer, und dann folgte für sie ein gemächliches Dahingleiten an der Küste entlang, wobei, wie es schien, das Schiff alle paar Meilen vor Anker ging, um Fässer deutschen Rums auszuschiffen.

Und dann gingen sie eines Morgens, als ein dicker weißer Nebel über dem öligen Wasser lag, unweit einer niedrig gelegenen Küste, die vom Schiff aus nicht sichtbar war, vor Anker. – Hier war der Anfang des verbotenen Gebietes.

»Da wären wir nun,« sagte Amber eine Stunde später, als das Brandungsboot das Gestade anlief. Er wandte sich an einen großen, hageren Eingeborenen, der abseits von der Menge der Ruderer, die bei der Landung zugegen waren, stand.

» Dem Consul, he lib ...?«

» Massa,« sagte der Schwarze nachdrücklich, » him lib for bush one time – dem white man him lib for bush, bat dem bush feller he chop um one time, so Consul him lib for bush to hang um bush feller.«

Dem jungen Mädchen war das Kauderwelsch vollkommen unverständlich, und sie blickte von dem Eingeborenen zu Amber hin, der wachsam, mit halbgeschlossenen Augenlidern und gespanntem Gesichtsausdruck dastand.

»Wie nennst du um them weißen Mann, der totging?« fragte er.

Ehe der Schwarze antworten konnte, wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas in Anspruch genommen, und er blickte empor. Über ihm kreiste langsam ein Vogel.

Er streckte seine Arme aus und pfiff sanft, und der Vogel fiel wie ein Stein auf das sandige Gestade herab, stand mit Anstrengung auf, watschelte einige Schritte und fiel um, seinen großen Kopf neigend.

Der Eingeborene hob ihn zärtlich auf – es war eine Taube. Um ihr eines rotes Bein war mit einem Gummiband ein dünner Papierstreifen befestigt. Amber zog das Papier sorgfältig heraus und glättete es.

»An O. C. Houssas.

Die Herren Lambaire und White haben die Alebi-Missions-Station erreicht. Sie berichten, daß sie ein Diamantlager entdeckt haben und sagen aus, daß Sutton vor einem Monat am Fieber starb.

(Gezeichnet) H. Sanders.«

Er las es wieder langsam; das Mädchen beobachtete ihn mit beunruhigtem Gesichtsausdruck.

»Was steht darin?« fragte sie.

Amber faltete das Papier sorgfältig.

»Ich glaube nicht, daß es für uns bestimmt war,« sagte er ausweichend.


 << zurück weiter >>