Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf der Straße

Kein Wort wurde zwischen Lambaire und Whitey gewechselt, als ein Auto sie durch die City nach dem Büro des Dicken brachte. Sie hatten sich schnell und unvermittelt von Sutton verabschiedet und waren unmittelbar nach Amber weggegangen.

Es war nach Geschäftsschluß, und Grene war nicht mehr da, als Lambaire seine Privatzimmer hinter sich abschloß und sich in seinen weichen, hohen Sessel fallen ließ.

»Nun, was denkst du?«

Whitey sah durchdringend auf ihn herab, als er die Frage stellte.

»Puh!« Lambaire wischte sich die Stirne ab.

»Nun?« fragte Whitey scharf.

»Whitey, dieser Bursche hat uns erwischt.«

Ein verächtliches Lächeln kräuselte Whiteys dünne Lippen.

»Du bist mit Leichtigkeit zu schlagen, Lambaire,« sagte er in seiner schrillen Weise, »du bist ein Waschlappen! Du bist schleimig wie eine Qualle!«

Er redete sich in einen seiner Wutanfälle hinein, und Lambaire fürchtete Whitey in solchen Gemütszuständen mehr als alles andere auf der Welt.

»Sieh, Whitey, sei verständig; wir müssen uns auf Dinge gefaßt machen; wir müssen mit ihm ein Abkommen treffen; bestich ihn!«

»Bestich ihn!« In Whiteys pfeifendem Lachen war Verachtung und Hohn. »Amber bestechen – du Narr! Siehst du denn nicht, daß er ehrlich ist! Er ist ehrlich, dieser Bursche, und das vergiß nicht!«

»Ehrlich – wieso –«

»Ehrlich, ehrlich, ehrlich!« Whitey schlug bei jedem Wort mit seiner geballten Faust auf den Tisch. »Kannst du denn nicht sehen, Lambaire, bist du denn blind? Siehst du nicht, daß dieser Bursche ein Zuchthäusler und doch ehrlich sein kann – daß er ein Dieb sein und doch rechtschaffen handeln kann – er ist von der Art.«

Ein langes Stillschweigen erfolgte, als er geendigt hatte. Whitey ging zu dem Fenster hinüber und sah hinaus; Lambaire saß und schnitt an seinen Nägeln.

Nach einer Weile drehte sich Whitey um.

»Wie stehen die Dinge?« fragte er.

Der andere zuckte die Schultern.

»Die Dinge stehen sehr schlecht; wir müssen dieses Diamantgeschäft durchsetzen: du bist ein Genie, Whitey, den Knaben beredet zu haben; wenn wir ihn hinschicken, das Werk zu vollbringen, wird uns das retten.«

»Nichts kann uns retten,« fuhr ihn Whitey an. »Wir stecken in der Klemme, Lambaire; das Beschwätzen der Aktionäre und das Vergehen mit der Gründungsurkunde ist nichts, das kommt gar nicht in Frage – es handelt sich um ein Kriminalverbrechen, Lambaire.«

Er sah, wie der starke Mann zitterte, und er nickte.

»Wir wollen uns nichts vormachen« – Whitey nickte immer weiter mit dem Kopfe und erinnerte dadurch an ein groteskes chinesisches Spielzeug – »es handelt sich um zwanzig Jahre für dich und um zwanzig Jahre für mich; die Polizei hat die Welt abgesucht nach dem Mann, der solche Banknoten machen kann – und Amber kann sie auf die Fährte bringen.«

Wieder ein langes Stillschweigen. Ein Schweigen, über dem eine geraume Weile verstrich; die beiden Männer saßen in der zunehmenden Dunkelheit, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Eine halbe Stunde mochten die beiden Schuldbewußten so zugebracht haben, wobei der eine den andern beargwöhnte. In ihrem Brüten folterte sie weder die Gewissensangst, noch störte sie die Reue. Pläne, wie sie sich retten könnten um jeden Preis – auf wessen Kosten, das kümmerte sie nicht –, gingen ihnen unfertig und willkürlich einer nach dem anderen durch den Kopf.

Dann – »Du hast hier nichts davon da, nehme ich an?« brach Whitey das lange Schweigen.

Lambaire antwortete nicht sogleich, und sein Gefährte wiederholte die Frage gereizter.

»Nein – ja,« zögerte Lambaire, »ich habe ein paar Platten –«

»Du Narr!« zischte der andere, »du einfältige Kreatur! Hier! Hier, wo sie zuallererst suchen –«

»In meinem Safe, Whitey,« sagte der andere, wie sich verteidigend, »in meinem persönlichen Safe; niemand außer mir hat einen Schlüssel.«

Wieder ein langes Stillschweigen, nur von zusammenhanglosen Zischlauten Whiteys unterbrochen.

»Morgen – schaffen wir sie fort, hörst du, Lambaire; ich will lieber in der Gewalt eines Amber sein, als mein Leben in den Händen eines Narren wissen, wie du. Und wie hast du die Platten aufbewahrt? Eingewickelt in eine mit vollem Namenszug unterzeichnete Beichte – ich will einen Eid darauf schwören! Kleine Leckerbissen von dem Silbergeschäft, wie? Und die Druckerei in Hookley, was? Genaue Anweisungen und ein Plan, um den Detektiven zu helfen – oh, du possierlicher Narr!«

Lambaire war bei dem Wortschwall still. Es war beinahe dunkel, als Whitey sich herbeiließ, wieder zu sprechen.

»Hier zu sitzen, hat keinen Zweck,« sagte er barsch. »Komm, wir wollen essen gehen, Lambaire – am Ende ist es gar nicht so schlimm.«

Er glitt wieder in seine alte, untergeordnete Stellung zurück, seine Stimme verriet es. Nur in den Augenblicken seiner Wut erhob er sich zur Herrschaft über seinen Herrn. In all den Jahren ihrer Geschäftsgemeinschaft war dieser seltsame Wechsel im Vorrang für ihr Verhältnis charakteristisch gewesen.

Lambaire gewann jetzt wieder seine alte Stellung als Führer zurück.

»Du schimpfst zuviel, Whitey,« sagte er, als er die Tür abschloß und die dunkle Treppe hinabstieg. »Du glaubst alles zu sehr ohne weiteres, und, überdies, bist du, wenn du schimpfst, ein bißchen unangenehm.«

»Vielleicht bin ich es,« sagte Whitey kraftlos. »Ich bin eine brennende Jutefabrik, wenn ich aufgebracht bin.«

»So will ich in Zukunft mehr zur Rettungsmannschaft gehören,« sagte Lambaire humoristisch.

Sie speisten in einem kleinen Gasthaus in der Fleet Street, das ihnen auf ihrem Weg in westlicher Richtung zuerst in den Weg kam.

»Einerlei,« sagte Whitey, als sie sich zum Essen niedersetzten, »wir müssen diese Platten loswerden – wegen der Banknote können wir uns herausreden; die Tatsache, daß Amber sie in seinem Besitz hat, gereicht ihm viel mehr zum Nachteil als uns – er ist eine ›verdächtige Person‹, und er steht in den Akten.«

»Es ist wahr,« gab Lambaire zu, »wir wollen sie morgen fortschaffen; ich kenne einen Ort –«

»Heute abend!« sagte Whitey bestimmt. »Es hat keinen Zweck, bis morgen zu warten; wir können morgen verhaftet werden – wir können morgen im Zuchthaus sein. Ich liebe Amber nicht. Er ist kein Polizist, Lambaire – er ist ein Kopf – er hat Erziehung – wenn er sich den Hauptspaß leistet, wollen wir einander aus den Zellen S. O. S.-Botschaften schicken.«

»Heute abend also,« stimmte Lambaire hastig zu; er merkte, daß Whiteys Zorn, der so leicht zu erregen war, wieder erwachte, »wenn wir gegessen haben. Und was weißt du von Amber – wer ist er? Ein aufgeblasener Kerl in der Geldklemme, oder was sonst?«

Im Laufe dieser Erzählung mögen viele Ansichten über das Auf und Ab in Ambers Leben hervorgetreten sein, die meisten aber, tatsächlich alle außer einer einzigen, stammen aus Ambers Mund. Ob Whiteys Geschichte der Wahrheit näher kommt als irgendeine andere, wird sich mit der Zeit herausstellen.

»Amber? Er ist ein närrischer Kauz. Er ist alles gewesen vom Cowboy bis zum Schauspieler. Ich habe früher von ihm gehört. Er ist ein Gauner, weil er gern lange Finger macht. Das ist das Wesentliche an ihm. Er hat die Schule besucht.«

»Schule«, das war für Whitey ein unbestimmter Begriff, der eine finstere Tätigkeit bezeichnet, durch die dem menschlichen Geist Wissen aufgezwungen wird. »Schule«, das war ein Ort, wo Kenntnisse erworben wurden, die nirgendwo verwertet werden konnten. Er hatte vor der Erziehung den Respekt des halberzogenen Menschen.

»Er wurde wegen einer Spekulation, die er zum Spaß anfing, gerichtlich belangt; etwa von der Sorte: ›Du schickst mir fünf Schilling und ich werde das übrige erledigen.‹ Es wurde Brauch bei ihm, daß er, als er das Gefängnis verließ, dieselbe Sache auf etwas andere Art von neuem betrieb. Er verlegte sich auf die Gaunerei gerade so wie sich ein anderer aufs Briefmarkensammeln stürzt.«

Sie verweilten bei Tisch, und die Zeiger der vielen Uhren der Fleet Street zeigten auf halb zehn, noch bevor sie fertig waren.

»Wir wollen zurückgehen,« sagte Lambaire; »glücklicherweise ist in Flair Court kein Pförtner anzutreffen.«

»Du hast den Schlüssel zum Haustor?« fragte Whitey, und Lambaire nickte.

Sie gingen langsam den Ludgate Hill hinauf, Arm in Arm, zwei eminent achtbare Bürger der Stadt im Zylinderhut und kurzen Überrock, und anscheinend mit der ganzen Welt und sich selbst zufrieden.

Die Flair-Court-Straße läuft mit der Lothbury-Straße parallel und ist zu dieser nächtlichen Stunde verödet. Sie kamen an einem einsamen Schutzmann vorüber, der die Türen der Gebäude untersuchte, und er wünschte ihnen höflich Guten Abend.

Als sie vor der geschlossenen Tür des Hauses standen, in dem sich das Bureau befand, ließ Whitey seinen Genossen aus seinen Ansichten über die geplante Sutton-Expedition Vorteil ziehen.

»Es ist unser Glück, Lambaire,« sagte er, »und je mehr ich darüber nachdenke, um so größer erscheint das Glück: Ei, wenn es dahin käme, daß wir geradeswegs hingehen könnten, nur um das Geld zu holen – wir könnten die ganzen Betrügereien zudecken – sie vergessen, Lambaire.«

»Das dachte ich auch,« sagte der andere, »das war mein Gedanke seinerzeit – ich wollte zu gescheit sein, sonst hätte ich es durchgesetzt.«

Er blies in den Schlüssel.

»Was ist los?« fragte Whitey, der plötzlich eine Schwierigkeit bemerkte.

»Dieses Schloß da – ich bin nicht an die Haustür gewöhnt – oh, jetzt geht es.«

Der Hausschlüssel drehte sich in dem Schloß, und die Tür ging auf. Sie schlossen sie hinter sich ab, und Lambaire steckte ein Streichholz an, um den Weg über die dunkle Treppe zu beleuchten. Auf dem ersten Treppenabsatz zündete er noch eins an, und so fanden sie ihren Weg bis in das oberste Stockwerk.

Hier blieben sie stehen.

»Steck ein Streichholz an, Whitey,« sagte Lambaire und nahm einen Schlüssel aus seiner Tasche.

Aus irgendeinem Grund wollte sich der Schlüssel nicht umdrehen.

»Das ist seltsam,« murmelte Lambaire und wollte es mit Drücken zustande bringen. Aber noch drehte sich der Schlüssel nicht.

Whitey tastete an der Streichholzschachtel herum und strich ein neues Hölzchen an.

»Komm, laß mich versuchen,« sagte er.

Er drückte mit Gewalt an dem Schlüssel, aber ohne Erfolg; dann probierte er die Klinke.

»Es ist nicht zugeschlossen,« bemerkte er, und Lambaire fluchte.

»Verwünscht,« sagte er, »dieser Dummkopf, der Grene! Ich habe ihm schon hundertmal gesagt, daß er sich vergewissern soll, wenn er abends fortgeht, daß die Tür zugeschnappt und verschlossen ist.«

Er trat in das äußere Büro. In dem Zimmer war kein elektrisches Licht, und er gebrauchte noch mehr Streichhölzer, als er auf sein Privatzimmer zuschritt.

Er nahm einen anderen Schlüssel und ließ das Patentschloß aufschnappen.

»Komm herein, Whitey,« sagte er, »wir wollen die Sachen aus dem Safe nehmen – wer ist da?«

Es war jemand in dem Zimmer. Er fühlte die Anwesenheit mehr, als daß er jemand sehen konnte. Es war pechfinster in dem Raum; von der Laterne draußen auf der Straße fiel nur ein ganz schwacher Schimmer Licht herein und durchdrang etwas das Dunkel.

»Halt die Tür, Whitey,« schrie Lambaire, und ein Streichholz spritzte in seiner Hand. Für die Dauer eines Augenblicks sah er nichts; dann, als er in das Dunkel stierte, und seine Augen sich an die Schatten gewöhnt hatten, stieß er einen Fluch hervor.

Der Safe – sein Privat-Safe stand weit offen.

Dann erblickte er am Schreibtisch die geduckte Gestalt eines Mannes; er stürzte sich auf ihn, und das Streichholz entfiel ihm.

In dem verlöschenden Flackern des Zündhölzchens sah er, wie die Gestalt sich aufrichtete, und in diesem Augenblick schlug ihm auch schon eine Faust, so hart wie Eichenholz und geführt von einem Arm aus Stahl, mitten ins Gesicht, daß er mit einem Krachen hintenüberfiel.

Whitey, der in der Tür stand, kam gesprungen, aber eine Hand packte ihn an der Kehle, hob ihn wie eine hilflose Katze auf und schleuderte ihn mit einem dumpfen Schlag gegen die Wand ...

»Steck ein Streichholz an, wird's bald!« Lambaire erholte sich zuerst, und er brüllte wie ein toller Stier – »Licht – mach doch Licht.«

Whiteys Hand war unsicher, als er die Schachtel suchte.

»Dicht beim Fenster ist ein Gasarm, – zum Teufel mit ihm! – er hätte mich beinahe abgetan.«

Der Schein eines weißglühenden Lichtes beleuchtete Lambaire; seine Kleider waren in Unordnung und über sein todbleiches Gesicht strömte Blut. Er war mit dem Kopf auf die scharfe Kante des Schreibtischs aufgeschlagen.

Er lief zu dem Safe. Es war keine auffallende Unordnung zu sehen, kein Zeichen, daß er gewaltsam geöffnet worden war; aber er stöberte in den Papieren, warf sie mit fiebernder Hast auf den Boden, um in seiner Angst etwas zu finden.

»Fort!« keuchte er, »die Platten – sie sind fort!«

Er wandte sich, krank vor Angst, an Whitey.

Whitey stand zitternd, aber ruhig an der Tür.

»Sie sind fort, nicht wahr?« – er sprach es kaum hörbar; »das macht Amber den Garaus.«

»Amber,« sagte Whitey heiser. »Ich sah ihn – du weißt, was das bedeutet, nicht wahr?«

»Amber,« wiederholte der andere wie betäubt.

»Amber – Amber!« Whitey schrie den Namen fast. »Hörst du nicht, was ich sage – es ist Amber, der Gauner.«

»Was sollen wir tun?«

Der schwerfällige Mensch war wie ein Kind in seinem jämmerlichen Schrecken.

»Tun!« Whitey lachte; es war ein seltsames kurzes Lachen, und es offenbarte den glühenden Haß, den er im Herzen hegte. »Wir müssen Amber finden, wir müssen Amber stellen, und wir müssen Amber töten, in die Hölle mit ihm!«


 << zurück weiter >>