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Amber

Amber saß in seiner Zelle im Wellboro-Gefängnis und pfiff sich leise ein Liedchen; mit seinen Füßen, die nur in Strümpfen staken, trommelte er auf dem Boden den Takt dazu. Er hatte seinen Stuhl so nahe an die rauhe Wand gerückt, daß er ihn nach hinten kippen und auf zweien seiner drei Beine im Gleichgewicht halten konnte.

Seine Augen wanderten kritisch in dem kleinen Raum umher.

Löffel und Schüssel auf dem Brett, vorschriftsmäßig dunkelgelber Gefängnisanstrich; das Bett sauber und ordentlich gemacht ... er nickte mehrmals langsam mit dem Kopfe und pfiff immer noch.

Über dem Bett, etwas nach links, befand sich ein kleines Fenster von derbem Glas, dessen unregelmäßige Struktur wohl das Tageslicht hereinließ, aber keinen Ausblick in die Außenwelt gestattete. Auf einem Brett über dem Bett lagen eine Bibel, ein Gebetbuch und ein schmutziges Bibliotheksbuch.

Er schnitt dem Buch eine Grimasse; es war eine überaus langweilige Erzählung einer ganz besonders langweiligen Missionarin, die zwanzig Jahre im Norden Borneos zugebracht hatte, ohne dort etwas anderes beobachtet zu haben, als daß es dort »sehr heiß war« und daß die eingeborene Dienerschaft bei Gelegenheit »sehr schwierig« sein konnte.

Amber hatte nie Glück mit seinen Bibliotheksbüchern. Vor fünf Jahren, als er zum erstenmal Seiner Majestät Gefängnisse von innen sah, hatte er vorgehabt, Staatswirtschaftslehre und das Drama der Hellenen zu studieren, und er hatte um die einschlägige Literatur gebeten, seinen Studien obliegen zu können. Man hatte ihm ein Elementarbuch der griechischen Grammatik und einen schweizerischen Robinson, Familienlektüre, gegeben, die ihm beide nicht viel nützen konnten. Glücklicherweise endete seine Gefangenschaft früher, als er erwartet; aber er hatte sich damit vergnügt, die Abenteuer des tugendhaften Schweizers in lateinische Verse zu bringen, obgleich ihn die Aufgabe wenig befriedigte und er sie deshalb beiseite legte.

Während seiner vierten Gefangenschaftsperiode hatte er ein langes Gesuch gemacht, Chemie studieren zu dürfen; aber auch hierin hatte er kein Glück; er kam nicht zu seinem Studium; ebensogut hätte er sich das Darlehen eines Landedelmannes sichern können.

Amber war jetzt achtundzwanzig oder dreißig Jahre alt, etwas übermittelgroß und kräftig gebaut, obgleich er sehr schlank wirkte. Sein Haar war rötlich-blond, seine Augen grau, seine Nase gerade, Mund und Kinn fest; beim Lachen zeigte er zwei Reihen weißer Zähne, und er lachte gern. Der untere Teil seines Gesichtes war jetzt unrasiert, was seiner Erscheinung Abbruch tat, aber nichtsdestoweniger sah er sogar in der häßlichen Gefängniskleidung wie ein gebildeter, feiner junger Mann aus, den er nicht ableugnen konnte.

Er hörte das Geräusch eines Schlüssels an der Tür, und er erhob sich; der Schlüssel wurde zweimal umgedreht, und die Tür öffnete sich nach außen.

»75,« sagte eine befehlende Stimme, und er trat aus der Zelle auf den langen Flur, wo er stehen blieb.

Der Wärter, der die Schlüssel an einer blinkenden Kette trug, deutete auf die Schuhe des Gefangenen, die sauber nebeneinander vor der Zelle standen.

»Zieh sie an!«

Amber gehorchte, der Wärter beobachtete ihn.

»Warum diese Zudringlichkeit bei einer Sache so privater Natur, mein lieber Augustus,« fragte der knieende Amber.

Der Wärter, der gar nicht Augustus hieß, erwiderte nichts. Früher würde er ihn wegen Unverschämtheit angezeigt haben, aber man kannte jetzt die Überspanntheiten dieses musterhaften Gefangenen, der außerdem ein wenig Anspruch auf rücksichtsvollere Behandlung machen konnte, denn er war es gewesen, der den Hilfswärter Beit vor der Wut des Londoner Mob gerettet hatte. Dies hatte sich seinerzeit vor dem Gefängnis der Grafschaft Devizes ereignet; aber die Welt der Gefängnisse ist klein, und der Ruhm Ambers lief von Exeter nach Chelmsford, von Lewes nach Strangeways.

Er schritt mit seinem Wärter durch den Flur, eine polierte Stahltreppe hinab bis zur großen Halle und einen engen, gepflasterten Gang entlang bis zum Büro des Gefängnisdirektors. Hier wartete er einige Minuten und wurde dann in das Heiligtum eingelassen.

Major Bliß saß an seinem Schreibtisch; er war ein gebräunter Mann mit einem kleinen schwarzen Schnurrbart und schwarzem Haar, das an den Schläfen ergraut war.

Er entließ den Wärter mit einem Kopfnicken.

»75«, sagte er kurz, »Sie werden auf einen Befehl des Ministeriums des Innern morgen entlassen.«

»Wie Sie wünschen, Herr Direktor,« sagte Amber.

Der Direktor saß einen Augenblick schweigend wie in Gedanken und trommelte mit seinen Fingern geräuschlos auf seiner Schreibunterlage.

»Was werden Sie anfangen?« fragte er plötzlich.

Amber lächelte.

»Ich werde meine Verbrecherkarriere weiter verfolgen,« sagte er heiter, und der Direktor runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Ich kann Sie nicht verstehen – haben Sie keine Freunde?«

Wieder das vergnügte Lächeln.

»Nein, mein Herr.« Amber wurde noch heiterer als zuvor. »Niemand ist an meiner Entdeckung schuld als ich selbst.«

Der Major blätterte in den Aktenbogen, die vor ihm lagen, las darin und runzelte wieder die Stirn.

»Zehn Vergehen!« sagte er. »Ein Mann mit Ihrer Veranlagung – ich meine, mit Ihren Fähigkeiten hätten Sie können –«

»O nein, ich hätte nicht können,« unterbrach ihn der Verbrecher, »die Richter extemporieren gern so, aber es ist nicht wahr. Daraus, daß einer ein geistvoller Verbrecher ist, folgt nicht, daß er als Architekt Bombenerfolge haben würde oder daß er, weil er einen Scheck fälschen kann, sein Glück bei einer »Gründer«-Gesellschaft gemacht haben würde. Ein ganz gewöhnlicher intelligenter junger Mann kann immer als Verbrecher vorwärtskommen, weil er mit den wirklich schwachköpfigen und unwissenden Kollegen vom Handwerk im Wettbewerb steht.«

Er machte einen Schritt vorwärts und lehnte sich auf den Rand des Schreibtisches.

»Sehen Sie, mein Herr, Sie erinnern sich meiner von Sandhurst her; Sie waren in meinem Alter. Sie wissen, daß ich pekuniär von einem Onkel abhängig war, der unerwartet starb. Was sollte ich machen, als ich nach London kam? Die erste Woche schien es recht hübsch zu gehen, denn ich hatte eine Zehnpfundnote, mit der ich weiterleben konnte; aber in einem Monat litt ich Hunger. So verfiel ich auf den Betrug spanischer Gefangener, ich spekulierte auf die Begierde der Leute, die meinen, sie könnten ein ungeheures Vermögen erwerben, wenn sie nur eine kleine Auslage machten – so kam ich leicht zu Geld.«

Der Direktor schüttelte wieder den Kopf.

»Ich habe seitdem allerhand Betrug verübt,« fuhr 75 zu lügen fort. »Ich habe die verschiedensten Kunststückchen fertig gebracht,« er lächelte wie jemand, der sich einer heiteren Erinnerung überläßt. »Es gibt beim Spiel keinen Kniff, den ich nicht kenne; es gibt in London keinen Bösewicht, dessen Biographie ich nicht schreiben könnte, wenn ich wollte. Ich habe keine Freunde, keine Verwandten, niemanden auf der Welt, um den ich mich auch nur einen Deut zu scheren brauchte, und ich bin ganz glücklich: und wenn Sie sagen, ich sei zehnmal im Gefängnis gewesen, so sollten Sie richtiger sagen: vierzehnmal.«

»Du bist ein Narr,« sagte der Direktor und drückte auf eine Klingel.

»Ich bin ein abenteuernder Philosoph,« sagte 75 behaglich scherzend, als der Wärter hereinkam, um ihn nach seiner Zelle zurückzuführen ...

Gerade ehe die Gefängnisglocke den Gefangenen das Zeichen gab, zu Bett zu gehen, brachte ihm ein Wärter ein sauberes Bündel Kleider.

»Sieh nach, 75, und kontrolliere alles,« sagte der Beamte freundlich. Er händigte dem Gefangenen eine gedruckte Liste ein.

»Werd' mich plagen,« sagte Amber, als er die Liste nahm. »Ich traue eurer Ehrlichkeit.«

»Kontrolliere!«

Amber knotete das Bündel auf, entfaltete seine Kleider, schüttelte sie aus und legte sie auf das Bett.

»Ihr hebt den ganzen Plunder besser auf als die in Walton,« sagte er beifällig, »keine Brüche im Rock, die Beinkleider hübsch in die Falten gelegt – hallo, wo ist mein Monokel?«

Er fand es in der Westentasche, sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt, und war voll des Lobes für die Gefängnisverwaltung.

»Ich werde morgen früh einen Mann hereinschicken, der Sie rasiert,« sagte der Wärter zögernd.

»75,« sagte er nach einer Pause, »kommen Sie nicht mehr hierher zurück!«

»Warum nicht?«

Amber blickte auf und zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Weil es wie ein Possenspiel ist,« sagte der Wärter. »Ein Herr wie Sie! Sie könnten sich sicher von diesem Ort fernhalten!«

Amber betrachtete den anderen, und in seinen Augen blitzte es schelmisch.

»Sie sind undankbar, mein lieber Aufseher,« sagte er beruhigend. »Männer wie ich können dem Ort nur zur Zierde gereichen; außerdem können sich die verdorbeneren und zügelloseren unter den Kostgängern an Männern wie mir ein Beispiel nehmen.«

Es war eine der Überspanntheiten Ambers, daß er beständig das Possessivpronomen bei seiner Anrede gebrauchte.

Der Wärter zögerte noch.

»Es gibt eine Menge Beschäftigungen, die ein Mann wie Sie ergreifen könnte,« sagte er fast vorwurfsvoll, »wenn Sie nur Ihre Fähigkeiten in der richtigen Weise anwenden wollten –«

75 erhob seine Hand in würdevoller Abwehr.

»Mein lieber Aufseher,« sagte er ernst, »Sie zitieren das Sonntagsblatt, und das will ich gerade bei Ihnen nicht dulden.«

Später sagte Herr Scrutton am Speisetisch der Wärter, daß er für sein Teil 75 aufgäbe, er wäre unverbesserlich. Und er gestand: »So nette Kerle wie ihn trifft man nicht allzuoft an.«

»Wie kam er hierher?« fragte ein Hilfswärter.

»Er war Pfarrer im Londoner West-End, geriet in Schulden und verpfändete die silbernen Kirchengefäße – er hat es mir selbst erzählt.«

In dem Speisezimmer befanden sich mehrere Beamte. Einer, ein älterer Mann, nahm seine Pfeife aus dem Munde, ehe er sprach.

»Ich sah ihn vor zwei Jahren in Lewes; wenn ich mich recht erinnere, wurde er aus der Marine hinausgeworfen, weil er an der Küste einen Zerstörer zum Stranden brachte.«

Amber war auch der Gegenstand der Erörterung in dem kleinen Speisezimmer der Wohnung des Direktors, wo dieser mit seinem Stellvertreter zu Mittag aß.

»Ich mag mich noch so sehr besinnen,« sagte der Direktor verwirrt, »ich kann mich dieses Amber in Sandhurst nicht erinnern – er sagte, er erinnert sich meiner, aber ich kann mich mit dem besten Willen auf ihn nicht besinnen ...«

Amber, der nicht ahnte, welches Interesse er erregte, schlummerte friedlich auf seiner dünnen Matratze und lächelte im Schlaf.

*

Am folgenden Morgen wartete draußen vor dem Gefängnis eine kleine Gruppe von Leuten auf die Entlassung ihrer Angehörigen; es waren in der Hauptsache ärmlich gekleidete Männer und Frauen.

Einer nach dem andern kamen sie durch das kleine Pförtchen, grinsten ihre Freunde stumpfsinnig an, duldeten gleichgültig die Umarmungen der weinenden Frauen und empfingen mit mehr Behagen die rohen Späße ihrer männlichen Bewunderer.

Amber kam lebhaft angeschritten. Mit seinem sauberen schottischen Anzug, seinem weichen Filzhut und seinem Augenglas hielten ihn die Wartenden für einen Gefängnisbeamten und machten ihm respektvoll Platz. Selbst die entlassenen Gefangenen, die ihn sahen, erkannten ihn nicht, denn er war frisch rasiert und sah gegen sie vornehm aus; aber ein schwarzgekleideter junger Mann, bleich und sehr ernst aussehend, hatte auf ihn gewartet und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

»Amber?« fragte er zögernd.

»Herr Amber,« verbesserte ihn der andere und blickte ihn wie ein neugieriges Huhn schief an.

»Herr Amber.« Der Missionar nahm die Zurechtweisung mit ernsthafter Miene auf. »Mein Name ist Dowles. Ich bin Helfer bei der Regenerationsliga, die sich der entlassenen Gefangenen annimmt.«

»Sehr interessant – in der Tat, sehr interessant,« murmelte Amber und schüttelte lebhaft die Hand des jungen Mannes. »Da tun Sie ein gutes Werk oder gar ein Liebeswerk, aber saure Arbeit, junger Mann.«

Er schüttelte verzweifelt den Kopf, nickte dem jungen Mann zu und wollte weitergehen.

»Einen Augenblick, Herr Amber.« Der junge Mann hielt ihn am Arm zurück. »Ich kenne Sie und Ihr Mißgeschick – wir wollen Ihnen doch helfen.«

Amber sah freundlich auf ihn herab, und seine Hand ruhte auf des anderen Schulter.

»Mein Junge,« sagte er sanft, »ich bin die verkehrte Welt: Sie könnten mich nicht zwingen, meinen Lebensunterhalt mit Holzhacken zu verdienen. Ehrliche Arbeit hat für mich dieselbe Anziehungskraft, wie sie die Erde für den Mond hat, ich laufe innerhalb vierundzwanzig Stunden einmal rund um sie herum, ohne ihr im geringsten näher zu kommen – hier!«

Er langte mit der Hand in seine Hosentasche und zog etwas Geld heraus. Ein paar Banknoten – sie waren in seinem Besitz gewesen, als er verhaftet worden war – und etwas Silbergeld. Er wählte eine halbe Krone.

»Für die gute Sache,« sagte er freigebig, ließ das Geldstück in die Hand des Missionars gleiten und ging mit langen Schritten fort.


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