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Amber gesteht seine Schuld

Francis Sutton hatte seinen Bericht beendet und versuchte jetzt seine Schwester mit ungeheurer Ruhe eines Besseren zu belehren.

Sie stand am Fenster und zeichnete mit den Fingerspitzen Figuren auf die polierte Oberfläche eines kleinen Tisches; sie sah unverwandt auf die Straße hinaus.

Francis war bei seinen Überzeugungsversuchen unlogisch und unnötig laut gewesen, und sie war durch die hochgehenden und übersprudelnden Wogen seiner Beredsamkeit überwältigt worden. Sie hatte sich bis jetzt völlig ruhig verhalten, und als er zum fünften Male mit Reden fertig war, machte er ihr grollend Vorhaltungen über ihr trotziges Schweigen.

»Du hast mir nicht Gelegenheit zum Sprechen gegeben, Francis, und ich bin vollständig verwirrt, weil du deine Ansichten geändert hast –«

»Sieh, Cynthia,« unterbrach er sie ungeduldig, »es hat gar keinen Zweck, daß du dieses Thema wieder aufrollst – Lambaire ist ein Mann von Welt, wir können ihn nicht mit dem Maßstab, den Nonnenklöster oder Schulmädchen anlegen, messen; und wenn du stundenlang mit mir über die Sache strittest, würdest du mich nicht herumkriegen. Ich setze es durch. Es ist eine Gelegenheit, die niemals wiederkehrt. Vater hätte sicher seine Einwilligung gegeben.«

Er machte vorwurfsvoll eine Pause, aber sie nahm sie nicht als Gelegenheit wahr, etwas zu erwidern.

»Nun, um Gottes Willen, Cynthia, tu mir das nicht an, daß du schmollst.«

Sie wandte ihren Blick von der Straße ab und richtete ihn ins Zimmer.

»Erinnerst du dich, wie du neulich nachts nach Hause kamst?« fragte sie plötzlich, und der Jüngling errötete.

»Das ist häßlich,« sagte er hastig; »ein Mann kann einmal eine Torheit begehen –«

»Davon wollte ich nicht sprechen,« sagte sie, »ich wollte dich nur daran erinnern, daß dich ein Herr nach Hause brachte – er kannte Lambaire besser, als du und ich ihn kennen – ja? – Du wolltest etwas sagen?«

»Fahr fort,« sagte der Jüngling; es war etwas Triumphierendes in seiner Stimme. »Ich habe zu dieser Sache etwas zu sagen.«

»Er sagte, daß Lambaire noch etwas Schlimmeres wäre als ein Lebemann – daß er ein Verbrecher wäre, ein Mann ohne Skrupel und ohne Mitleid.«

Über Suttons Gesicht glitt ein Lächeln, als sie zu Ende gekommen war.

»Und weißt du, wer dieser Herr war?« fragte er und freute sich. »Es ist Amber – hast du niemals von Amber gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Er ist ein Dieb, ein ganz gemeiner Dieb – du magst noch so sehr den Kopf schütteln, Cynthia, aber er ist ein Bursche, der von seiner Schlauheit lebt; er ist gerade eine Woche aus dem Gefängnis heraus – das ist dein Herr Amber.«

»Herr Amber,« wiederholte eine Stimme an der Tür, als ein Mädchen auch bereits diesen Herrn, der soeben den unerschütterlichen Gegenstand der Unterhaltung bildete, hereinließ.

Amber war wie ein zivilisierter Mensch nach den herkömmlichen Vorschriften gekleidet. Sein fest zugeknöpfter Überrock war nach dem neuesten Schnitt gearbeitet, seine Wäsche blendend weiß. Der Hut, den er in der Hand hielt, glänzte, wie nur ein neuer seidener Zylinderhut glänzen kann, und so fleckenlos weiß, wie die Gamaschen über seinen blanken Schuhen leuchteten, war die Farbe seiner tadellos sitzenden Glacéhandschuhe.

Er sah so elegant aus, als wäre er aus dem Modejournal herausgeschnitten worden.

Er lächelte den durchaus nicht erfreuten Jüngling an und streckte dem Mädchen seine Hand hin.

»Eingeladen,« sagte er lässig, »kam des Wegs: Autobusse fahren an der Tür vorüber – sehr gelegen; was mir an London so gefällt, ist die Leichtigkeit, mit der man von einem Ende zum anderen kommt – darf ich meinen Hut ablegen? – Danke sehr. Wenn ich einmal Geld in Hülle und Fülle habe, werde ich in Park Lane wohnen; es ist so schön dicht am Kanal. Und wie geht es Ihnen?«

Sutton murmelte irgend etwas Ungnädiges und begab sich nach der Tür.

»Einen Augenblick, Francis.«

Das Mädchen war abwechselnd rot und blaß geworden, und ihre Hand, welche die Figuren auf den Tisch gezeichnet, hatte ein wenig gezittert, als Amber hereinkam; nun hatte sie sich wieder ganz in der Gewalt, obwohl sie bleicher als gewöhnlich war. Der Jüngling blieb stehen, die Hand auf der Türklinke, und sah seine Schwester warnend und drohend zugleich an.

»Herr Amber,« sagte sie und ignorierte Francis' Signal, »ich glaube, es ist nur aufrichtig an Ihnen gehandelt, wenn ich wiederhole, was ich soeben gehört habe.«

»Cynthia, ich bitte dich!« sagte Sutton zornig.

»Es ist gesagt worden,« fuhr sie fort, »daß Sie – daß Sie in einem schlechten Rufe stünden.«

»Meine Gnädige,« sagte Amber mit ernstem Antlitz, »ich stehe in einem schlechten Rufe.«

»Und – und Sie sind erst unlängst aus dem Gefängnis entlassen worden?« stammelte sie und vermied, seinen Augen zu begegnen.

»Wenn Sie,« sagte Amber mit Bedacht, »mit ›erst unlängst‹ vor beinahe einer Woche meinen – auch das ist wahr.«

»Was habe ich dir gesagt,« rief Sutton und lachte frohlockend, und Amber fuhr herum.

»Mein Demokritus, mein Abderite,« sagte er vorwurfsvoll, »wozu der Spaß? Es ist nicht so spaßig, dieses Gefängnis – was lachst du, mein Sutton?« Er zog die Augenbrauen fragend in die Höhe.

Irgend etwas veranlaßte das Mädchen, nach ihm hinzusehen. Sie mochte erwartet haben, daß er sich schäme; statt dessen bemerkte sie nur, daß es ihm mit seinem Vorwurf wirklich ernst war.

»Mein vergangenes Mißgeschick kann Sie wenig interessieren, meine Gnädigste,« sagte er ein bißchen traurig; »als ich in einer denkwürdigen Nacht auf Ihren Wunsch Janus ins Gesicht sah, nämlich durch die Tür eines gewissen Lokals ging, in das ich nicht einmal Leute von untergeordneter Stellung, falls sie etwas Selbstachtung haben, einladen würde – zum Beispiel das uniformierte Werkzeug des Strafvollzugs, den Gefangenenwärter – da erinnere ich mich nicht, daß Sie von mir verlangten, mich auszuweisen, oder daß Sie mich aufforderten, Ihnen einen Beweis meines guten Rufes zu erbringen.«

Dann wandte er sich wieder an den Jüngling.

»Herr Sutton,« sagte er sanft, »mich dünkt, Sie wären ein wenig ungnädig, ein wenig vorschnell: ich kam hierher, um mit der Schonung, die die Angelegenheit erfordert, die notwendige Beichte früherer Verbrechen, Kniffe, Listen, Bestechungsakte, Schuldigerklärungen, Verhaftungen zusammen mit einem Appendix abzulegen, der ein Licht darauf wirft, mit welcher Leichtigkeit ein junger, eigensinniger Subalternoffizier der Kavallerie in den Abgrund geraten kann – den Abgrund, welcher den Tollkühnen erwartet, wenn er auf wenig leistungsfähigen Pferden ungleiche Wetten einging.«

Das alles sagte er, ohne Atem zu holen, und er war sichtlich sehr zufrieden mit sich und der Skizze, die er von seinem früheren Leben entworfen hatte. Er reckte seinen Körper in die Höhe, straffte seine Schultern und klemmte sein Monokel fester ins Auge. Darauf wandte er sich mit einer Verbeugung gegen das junge Mädchen und warf einen belustigten Blick auf den jungen Mann an der Tür.

»Einen Augenblick, Herr Amber,« sie hatte die Sprache wiedergefunden; »ich kann nicht zugeben, daß Sie so weggehen, wir sind doch in Ihrer Schuld, Francis und ich ...«

»Gedenken Sie meiner,« sagte Amber mit leiser Stimme, »das würde ein schöner Lohn sein, Fräulein Sutton.«

Impulsiv ging sie auf ihn zu und hielt ihm ihre Hand hin, und er nahm sie.

»Es tut mir so leid,« war alles, was sie sagte, aber sie merkte am Druck seiner Hand, daß er sie verstand.

In dem kurzen Augenblick, während sie Hand in Hand voreinander standen, war Sutton aus dem Zimmer geschlüpft, denn er erwartete Besuch und hatte das ferne Schrillen einer Klingel gehört.

Sie merkten nicht, daß sie allein waren.

Das Mädchen sah zu Amber auf, und ihre Augen blickten unendlich mitleidvoll.

»Sie sind zu gut – zu gut für dieses Leben,« sagte sie, und Amber schüttelte den Kopf, und sie sah in seinen Augen ein Lächeln.

»Sie wissen nicht,« sagte er höflich, »ob Sie nicht vielleicht ihr Mitleid verschwenden – ich komme mir wie ein Schurke vor, wenn Sie mich bemitleiden.«

Ehe sie antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Sutton platzte ins Zimmer; hinter ihm kam Lambaire, ehrbar gekleidet, geschniegelt und gestriegelt, und nicht weniger geziemend in der Erscheinung war der unvermeidliche Whitey, der den Nachtrab bildete.

Cynthia Sutton sah bestürzt auf die neuen Ankömmlinge. Diese Männer in ihr Haus zu bringen, war von ihrem Bruder wirklich verwegen. Sie hätte sie ohnedies nur gezwungen empfangen; nun sie aber erriet, daß sie nur deshalb hierherbugsiert worden waren, um Ambers Verwirrung vollständig zu machen, bemächtigte sich ihrer eine verhaltene Wut.

Die ersten Worte des jungen Sutton lieferten den Beweis.

»Cynthia,« sagte er mit einer Genugtuung, die er nicht zu verbergen suchte, »dies sind die Herren, die Herr Amber verdächtigt hat – vielleicht hat er Lust, seine Aussagen zu wiederholen –«

»Jung, sehr jung,« sagte Amber duldsam. Er nahm dem Mädchen die Regie in der nun folgenden Auseinandersetzung ab, und für die ganze übrige Zeit blieb sie Zuschauerin; » ne puero gladium» (daß nicht dem Knaben das Schwert) – wie?«

Er war der vortreffliche Schulmeister, der der Jugend zum Vorwurf macht, daß sie jung ist.

»Und hier haben wir den Beweis,« er deutete mit einer kühnen Handbewegung auf Lambaire und seinen Genossen, diesen Männern gegenüberstehend, die er so tief gekränkt hat; »und nun, mein Lambaire, was haben Sie über uns zu sagen, das wir nicht schon enthüllt hätten?«

»Ich weiß, daß Sie ein Dieb sind,« sagte Lambaire.

»Wahr, o König!« gab Amber heiter zu.

»Ich weiß, daß Sie drei- oder viermal verschiedener Verbrechen überführt sind.«

»Klingt wie ein Kinderlied,« sagte Amber bewundernd; »fahre fort, mein Lambaire.«

»Ich denke, das genügt, Sie aus anständiger Gesellschaft fernzuhalten.«

»Das ist genug – mehr als genug,« bekannte der unbeschämte junge Mann mit einem melancholischen Lächeln, »und was sagt mein Whitey, was? Was sagt mein bleicher Whitey?«

»Sieh, Amber,« begann Whitey.

»Ich hatte schon einmal Gelegenheit,« unterbrach ihn Amber streng, »Sie zu belehren, daß Sie sich unter keinen Umständen mit meinem Namen Freiheiten herausnehmen sollen; ich bin für Sie Herr Amber, mein Whitey.«

»Herr oder nicht Herr, Sie sind ein Gauner –« sagte der andere.

»Ein was?«

Der entsetzte Ausdruck auf Ambers Gesicht führte sogar einen so erfahrenen Mann wie Whitey irre.

»Ich meine, Sie sind ein ganz bekannter Dieb,« sagte er.

»Das ist besser,« sagte Amber, »das andere ist ein gemeiner Ausdruck, dessen ein Gentleman mit gesellschaftlichen Formen sich niemals bedienen sollte, mein Boswell jemand, der einen Schriftsteller sklavisch als seinen Meister erkennt (mein Nachbeter, mein Echo).; und was sind wir sonst noch?«

»Das ist genug, denke ich,« sagte der Mann.

»Nun, da Sie die Tatsache erwähnen, glaube ich, daß ›genug‹ das Wort ist;« er sah sich im Kreise um und betrachtete jeden der Männer mit dem spöttischen Lächeln, das man selten an ihm vermißte. »Mehr als genug,« wiederholte er. »Wir sind entdeckt, zu Schanden gemacht, ver–nich–tet, wie ein lieber Freund von mir sagen würde.«

Er knöpfte langsam seinen elegant sitzenden Überrock auf und steckte seine Hände in eine der inneren Taschen. Mit einem Anschein von reiflicher Überlegung brachte er eine auffallend geschmacklose Brieftasche aus rotem Saffianleder zum Vorschein. Mit ihrer silbernen Ausstaffierung zog sie genugsam die Aufmerksamkeit auf sich, sogar derjenigen, die sie niemals zuvor gesehen hatten. Aber einer war da, der sie kannte, und Lambaire machte einen schnellen Schritt vorwärts und schnappte darnach.

»Das gehört mir!« schrie er, aber Amber war schneller.

»Nein, nein, mein Lambie,« sagte er, »es ist eine Dame anwesend; laß uns unsere derben Späße bis auf eine andere Gelegenheit verschieben.«

»Das gehört mir,« schrie Lambaire zornig; »es wurde mir in der Nacht gestohlen, als Sie bei den Whistlers gewaltsam eindrangen. Herr Sutton, ich werde mit diesem Burschen ein Beispiel statuieren. Er hat letzte Woche das Gefängnis verlassen, er kehrt heute dahin zurück; wollen Sie nach einem Schutzmann schicken?«

Der Jüngling zögerte.

»Sparen Sie sich die Mühe – sparen Sie sich den Skandal – eine Klub-Razzia und noch andere derartige Dinge,« sagte Amber lässig. »Hier ist Ihre Tasche – Sie werden das Geld intakt finden.« Er überreichte ihm die Brieftasche mit einem spaßhaften kurzen Kopfnicken.

»Ich habe mir,« fuhr er fort, »sei es als Belohnung für meine Ehrlichkeit, sei es als Andenken an einen Gelegenheitsscherz, einen kleinen Fünfer zurückbehalten – Kommission – wie?«

Er hielt zwischen seinen Fingern eine Banknote und ließ sie munter knistern, und Cynthia, die in ihrer Verwirrung von einem zum andern blickte, sah, wie Lambaires Gesicht aschfahl wurde vor Furcht.


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