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Die Großen Messer

Gleich nach seiner Rückkehr zur Niederlassung hatte der Missionar eine lange Unterredung mit dem Händler. Als er wieder aus dem Laden trat, trug er ein großes, weißes Papier, das er an die Ladentür nagelte. Die mit dem Dampfer angekommenen Besucher waren um diese Tageszeit noch unterwegs und sahen, wie der Mann das Plakat befestigte, das jedermann zu einer wichtigen Versammlung rief, die um 4 Uhr im Indianerschulhaus aus dem Hügel hinter dem Laden stattfinden sollte. In einem so kleinen Nest reisen Neuigkeiten schnell, und jeder, der nichts anderes zu tun hatte, war neugierig, was dieser geschäftige blonde Mann zu sagen haben mochte.

Der Versammlungsraum war klein und konnte nicht alle fassen, die gekommen waren, viele mußten draußen stehenbleiben. Der junge Mann schwang sich auf das Rednerpult und begann zu sprechen. Das in Versammlungen übliche Räuspern, Flüstern, Stühlerutschen verstummte, und bald lauschte jedermann den Worten des jungen Missionars, denn er erzählte eine Geschichte, was die wenigsten erwartet hatten. Er war ein guter Geschichtenerzähler, dieser weiße Bruder des Indianers. Er sprach von Sajo und Schapian, von Tschilawii und Tschikanii, ohne geschwollene Redensarten, ohne Salbung, ganz einfach von Mensch zu Mensch und schloß mit den Worten: »... denn wir sind immer noch unseres Bruders Hüter. Und dann laßt uns nicht vergessen, diese Kinder haben den Gefahren der Wildnis getrotzt, wie Sie und ich es vielleicht nicht fertiggebracht hätten. Ihre Hautfarbe ist anders als unsere, ihre Sprache ist nicht unsere Sprache, ihre Wege sind nicht unsere Wege, aber wir tragen die Verantwortung, Sie und ich. Es sind nicht irgendwelche Indianerbälger, sondern zwei sehr unglückliche, sehr traurige Kinder. Wer weiß, ob sie nicht recht haben mit dem, was sie denken und glauben! Vielleicht ist es wahr, daß die zwei kleinen Tiere, die ihre Freunde sind, Gefühle hegen, die den unseren sehr, sehr ähnlich oder gar dieselben sind!

Das wollte ich Ihnen erzählen. Ja, und ehe wir auseinandergehen – draußen an der Tür steht eine große, leere Teebüchse ...«

Der Missionar hatte geendet, unter den Versammelten brach ein kleiner Aufruhr aus; jeder schien gleichzeitig sprechen zu wollen. Die Damen sagten: »Hat man schon sowas gehört ...« – »Arme Würmer, ganz allein sind sie – – – mitten durch das fürchterliche Feuer!« Die Herren standen auf und fuhren in die Taschen und machten Bemerkungen: »Bin bloß froh, daß ich hergekommen bin – – – Wo sind die Bengels? – – – wir müssen was für sie tun! – – Wo ist die Teebüchse?«

Die Leute quetschten sich allmählich ins Freie, und aus der Richtung, wo die Teebüchse stand, drang das fröhliche Klingeln silberner Münzen und das verhaltene Rascheln brandneuer und abgegriffener Geldscheine zum Rednerpult herüber, allwo immer noch der Missionar stand.

Als Letzter verließ der Händler den Saal. Neben der Teebüchse verweilte er ein wenig, schaute sich verstohlen um, ob auch ja keiner zusehe, klemmte dann das linke Auge zu, zuckte mit der Rechten vor und ließ ein dicht zusammengefaltetes kleines Notenbündel in die Büchse rutschen.

»Da, Tschikawii oder wie sonst dein Teufelsname ist, da – und viel Glück.«

Dann ging er fort, als hätte er gestohlen.

Gelbes Haar hinter seinem Pult hatte alles gesehen und lächelte.

Später am Tage wanderte der Missionar ins Lager. Als Schapian das viele Geld sah, konnte er sich kaum fassen. Er hatte Angst und wollte gleich wissen:

»Ja, und was muß ich tun, was soll ich arbeiten?«

»Nichts natürlich«, erwiderte sein Freund. »Dazu habt ihr gar keine Zeit mehr, sonst ist euer kleiner Freund vielleicht tot. Tiere können so einsam sein, daß sie vor Verlassenheit sterben. Die Großen Messer lassen dir sagen, dies sei ein Geschenk. Du kannst es ruhig annehmen. Vor langer Zeit hat das Volk, dem sie angehören, grausam an dem Indianer gehandelt, und jetzt wissen sie, daß damals Unrecht geschehen ist, und es tut ihnen leid. Sie möchten euch helfen. Alles, was sie von dir verlangen ist, du mögest, wenn einer der Ihren in Not ist, ihm auch helfen.«

»Ich will, ich will!« versicherte Schapian ernst. »Ich danke ihnen, sag ihnen das.« Seine tapferen Augen standen voll Tränen. Sajo sah mit großen, kugelrunden Blicken zu, wie das Geld sorgfältig in einen Umschlag gesteckt wurde. Sie wußte nichts von Geld und Geldeswert und war nur froh und kein bißchen überrascht, denn sie hatte immer gewußt, daß alles gut werden würde und die Weißen nicht so schlimm seien. Ja, der Traum, der Traum – es war halt doch ein guter, ein wahrer Traum.

Gelbes Haar gab Schapian noch einen kleinen Brief mit für den Bahnhofsvorsteher, worin er eine Reise in die Stadt mit Rückfahrkarte bestellte. Obgleich Schapian in seinem einfachen Herzen geglaubt hatte, er habe nun das ganze Geld der Welt in seiner Hand, blieb nicht allzuviel übrig, und der Missionar hegte ernste Zweifel, ob Schapian nicht doch noch in der Stadt bleiben und für Tschikaniis Freiheit werde arbeiten müssen. Wenn der Tierparkbesitzer es verlangte, würde wohl nichts anderes übrigbleiben. Trotzdem, es mußte versucht werden. Gelbes Haar gab dem Jungen noch einen zweiten Brief an den Vorstand der Missionsgesellschaft mit, in dem er bat, sich der Überbringer anzunehmen und ihnen eine Unterkunft zu verschaffen. Zum Schluß schärfte er Schapian ein, sofort nach einem Schutzmann zu fragen und ihm die Anschrift auf dem Brief zu zeigen. Langsam und deutlich beschrieb er, wie ein Schutzmann aussah, wie er gekleidet war und ließ ihn das Wort »Polizist« üben, »Poli-sißt« sprach Schapian nach, und besser brachte er's nicht fertig. Aber es genügte. Tschikanii sei – so erzählte Gelbes Haar weiter – an einen Rummelplatz- und Tierparkbesitzer verkauft worden. Im übrigen solle er dem Schutzmann vertrauen.

»Oho!« sagte der Schutzmann. »So, ihr wollt Skalpe holen?«

»Wenn alles gelingt, können wir zurück sein, bis unser Vater kommt«, meinte Schapian. Hoffentlich, dachte er für sich weiter, denn es ist viel leichter, eine unangenehme Sache zu bekennen, wenn sie ein gutes Ende genommen hat.

Gelbes Haar half Pappelfutter für Tschilawii sammeln, und Sajo buk noch rasch ein Brot für den kleinen Reisegefährten. Der Weiße versprach auch, auf Kanu und Lager aufzupassen.

Als am folgenden Mittag der Flußdampfer abfahrtsbereit tutete, stand alles, was Beine hatte, am »Hafen«, um die Geschwister abfahren zu sehen. Die Frauen hatten Sajo ins Herz geschlossen und nannten sie »Braunauge« und »Kleiner Mokassin«; die Männer schüttelten Schapian die Hand, hießen ihn einen »braven Kerl« und sagten, sie seien stolz, ihn zu kennen. Selbst Tschilawii wurde nicht vergessen. Er war das Opfer vieler Aufmerksamkeiten, die er aber ganz und gar nicht würdigte, denn er kehrte den Leuten auf höchst unhöfliche Weise den Rücken zu und beschäftigte sich mit seinen eigenen kleinen Angelegenheiten. Auch der Händler war da und blickte gar grimmig drein, als sei ihm die ganze Geschichte äußerst unangenehm. Er war fest entschlossen, keinen Menschen wissen zu lassen, daß sogar er Geld in diese lächerliche Sache gesteckt hatte.

Zuletzt kam der Missionar, der sich ferngehalten und heimlich belustigt den wütenden Händler beobachtet hatte, an den Laufsteg, gab den Geschwistern die Hand, tätschelte dem kleinen Biber die stumpfe Nase und sagte:

»So, und nun viel Glück, ihr Kinder Gitschie Megwons. Sorgt euch nicht, ich werde eurem Vater alles erzählen. Kommt gesund und glücklich heim, ihr vier. Wir erwarten euch!«

*

Gerade am Tag der Abreise näherten sich der verbrannten Vortage, an der Sajo, Schapian und Tschilawii ihr gefährliches Abenteuer bestanden hatten, drei vollbesetzte Kanus. In rasender Fahrt brausten sie einher. Halbnackte Indianer knieten darin und handhabten die Paddel. Ihre langen, flatternden Haare waren zurückgebunden. Schweigend, verbissen arbeiteten sie, die nackten Schultern glänzten vom Schweiß der harten Paddelarbeit. Ihre tiefbraunen Körper beugten und streckten sich in strengem Gleichmaß. Kaum hatte das erste Boot Land berührt, da sprang ein Mann ans Ufer. Gitschie Megwon! Die Brigade war an die Sprechenden Wasser zurückgekehrt, und die Männer hatten die Hütte leer gefunden!

Gitschie Megwon warf sich sofort nieder und scharrte in den verkohlten Resten nach Spuren. Fieberhaft suchend stieß er auf eine kleine, halb verwischte Mokassinfährte. Ein Schrei rang sich von seinen Lippen.

»Hier! Hier sind sie vorübergekommen. Äxte her! Haut das Zeug weg! Ich muß – – – suchen! Ich – – –«

Er hielt inne, denn es sprach ein alter Mann mit einem weisen Runzelgesicht:

»Warte, mein Sohn! Meine alten Augen haben schon viel gesehen. Warte und ruhe. Ich werde suchen; vielleicht kann ich lesen – – –«

Und Gitschie Megwon, der Starke, beugte gehorsam das Haupt – der Häuptling hatte gesprochen – und wartete geduldig. Geschwärztes, vom Feuer verkrümmtes Holzwerk bedeckte den schmalen Pfad. Die Männer schwangen die Äxte und hieben den Weg frei für die Kanus. Gitschie Megwon hielt es vor Sorge und Unruhe nicht mehr aus, aber der Häuptling hatte befohlen, er mußte gehorchen.

Inzwischen suchte der Alte nach Spuren, nichts entging seinen Augen; er hob jeden Baumstamm, den er lüpfen konnte und forschte und suchte. Unter einem fand er den zerdrückten, halbverbrannten Korbdeckel. An einer andern Stelle stieß er auf einen tiefen Einschnitt im weichen Ufergrund. Hier mußte das Kanu mit großer Gewalt aufs Ufer gesaust sein. Warum? Es hätte doch in entgegengesetzter Richtung fahren müssen? Dann fiel sein ruhiger, überlegender Blick auf einen, kaum zwei Kanulängen vom Einschnitt entfernten Baumriesen, der seine verkohlten Äste aus dem Wasser streckte. Und der Alte verstand. Er war ein weiser Mann, früher kämpfte er als Krieger gegen die Weißen; jetzt lag der Schnee des Alters auf seinen flatternden Haaren; er las in der Wildnis wie in einem Buch. Sein Name war Neganikabo – Der Mann, der an der Spitze steht.

Er kehrte zu Gitschie Megwon zurück.

»Mein Sohn, verscheuche deine Trauer.« Dann stand er hoch aufgerichtet inmitten seiner Stammesbrüder; die weißen Haare flatterten im Wind, sein dunkles, männliches Gesicht war ernst, als er über das Gefundene berichtete.

»Sie sind dem Roten Tod entkommen. Ich habe gesprochen.« Und Gitschie Megwon, dessen große Fäuste den zerdrückten Korbdeckel umklammert hielten, wünschte, Neganikabo möge recht haben.

Als die Nacht den verbrannten Wald umhüllte und das Land in Dunkelheit lag, erstieg Gitschie Megwon einen großen, hoch über die Wildnis ragenden, nackten Fels. Dort oben, den zersetzten, verbrannten Wald zu seinen Füßen, stand der hagere Mann. Sein sorgendurchfurchtes Antlitz starrte traurig in die Ferne. Dann hob er seine Arme zum stillen Himmel und betete laut zum Großen Geist der Wildnis:

»Höre! Höre! O Manitu, o großes Geheimnis, das die Geschöpfe des Waldes behütet, schütze meine Kinder. Halte deine Hand über sie!

Seit sie von mir gegangen, liegen die Tage tot zu meinen Füßen, wie die Asche dieses Waldes.

Die Sonne scheint mir nicht mehr, und meine Ohren können das Lied der Vögel nicht vernehmen. Ich höre nur das Lachen meiner Tochter Sajo. Ich sehe nur das Antlitz meines Sohnes, seine mutigen Augen und den brennenden Wald.

O großes Geheimnis! Ich habe gefehlt. Mein ist die Schuld. Sorge und Trauer brachte ich meiner Tochter Sajo. Ich warf einen Schatten über das Gesicht meines Kindes.

O großes Geheimnis, leite sie, führe sie wieder zurück zu den Sprechenden Wassern. Ich bitte dich!

Höre, o höre, du großes Geheimnis!« –

Seine Stimme schwang wie eine Glocke über dem schweigenden, verbrannten Land. Hinter Gitschie Megwon kauerte der alte Häuptling mit dem tausendfältigen Runzelgesicht, mit den weisen Augen; seine Fingerspitzen klopften leise auf eine bemalte Indianertrommel.


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