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Der leere Korb

Nachdem Schapian seine Schwester aus den Augen verloren hatte, verzögerte er seine Flucht um eine einzige Minute, die er brauchte, um seine eigenen Kleider naß zu machen und die Paddel in den Lederschlingen zu befestigen. Er wünschte die führende Hand des Vaters herbei. Gewiß, er tat, was er konnte, aber seine Erfahrungen waren gering und er trug die Verantwortung für drei Leben. Für drei, denn er sah den kleinen Biber als seinesgleichen an, der war sein kleiner Bruder! Schapian hoffte, richtig gehandelt zu haben; Sajo war jetzt dort vorn, er mußte sich beeilen!

Blitzschnell riß er das Boot hoch und stülpte es sich über, so daß sein Kopf zwischen den Paddeln wie in einem Joch steckte und rannte los. Aber in der versäumten, winzigen Minute war das Feuer ganz nahe gerückt. Schapian rannte so schnell ein Vierzehnjähriger mit einem dreieinhalb Meter langen Kanu auf den Schultern rennen kann. Zu seiner Linken lohte ein fester, prasselnder Feuerwall. Bäume krachten splitternd nieder, andere zersprangen mit einem scharfen, peitschenden Knall. Die Hitze war verzehrend. Schapian keuchte durch einen ungeheuren, geröteten Rauchschlund dahin. Seine Brust schmerzte, die Augen brannten, in seinem Kopf hämmerte und dröhnte das Blut. Er biß die Zähne zusammen und hielt durch. Rechts und links und hinter ihm stand der Wald in Flammen und krachte und knirschte unter der brausenden Wut des Roten Todes. Ganze Wipfel standen in Lohe, ein fürchterlicher reißender Schrei brach aus dem gequälten Wald. Flammenzungen sprangen von Baum zu Baum, immer näher rückten sie dem schmalen Pfad!

Die Luft unter dem Boot war noch etwas besser, das half ein wenig, aber nicht viel, wenn nur die Hitze nicht so unerträglich gewesen wäre! Kaum fünf Meter vor Schapian krachte ein brennender Baum quer über den Pfad. Ein Funken- und Flammenregen stob empor, so daß Schapian kostbare Augenblicke verlor. Endlich duckte sich das Feuer und kroch zusammen, und der Knabe sprang mit dem Boot auf den Schultern über den glimmenden Stamm. Die Hitze zuckte wie ein Schwert empor und benahm ihm den Atem. Er fiel auf die Knie. Taumelnd erhob er sich und streifte mit bloßen Händen brennendes Astwerk vom Kanu, die lustige Fuchslunte achtern war aber dahin. Und vorne lag der Weg.

Brennende Rinde fiel in großen Fetzen herab, glühheiße Asche stob umher und legte sich sengend auf das Boot. Angst griff würgend nach Schapian, Angst um Sajo. Längst hätte er sie einholen müssen, denn sie trug ja den Korb, jene ungeschickte Last, während das Kanu wohl schwerer, dafür aber handlicher war. Schapian erschrak – wenn Tschilawii die Schachtel doch noch durchnagt hatte und herausgefallen war und Sajo ihn irgendwo da hinten suchte und Schapian an ihr vorbeigerannt war?? O Glück, dort vorne wurde der Rauch dünner, ein frischer Hauch vom großen See strich herüber. Schwindelig, die Sicht verzerrt von strömenden Tränen, taumelte der Junge vorwärts, stolperte über etwas weiches, mitten im Weg Liegendes und stürzte schwer auf die Erde. Sajo war es, mit dem Gesicht auf dem Boden; ihre Hände umklammerten wie im Krampf ein Rindenkörbchen – und es war leer!

Halb bewußtlos kroch Schapian unter dem Kanu vor und zog keuchend die Schwester auf seinen Schoß. Dann riß er sich zusammen, stand taumelnd auf. Sein Atem flog in schluchzenden Stößen; fast irrsinnig vor Sorge beugte er sich nieder und hob das bewußtlose Bündel in seine Arme. In seinen Ohren sauste und brauste es, aber er ermannte sich und schleppte Sajo zum Seeufer. Sanft ließ er sie niedergleiten und spritzte Wasser über das fahle, leblose Gesicht.

»Sajo, Sajo! Sprich zu mir! Sajo, sprich – mach die Augen auf!!« Und sie öffnete die Augen und flüsterte: »Tschilawii.«

Schapian zitterte und wagte nicht zu sagen, daß es einen Tschilawii nicht mehr gab, sondern nur einen leeren Korb.

Nun wälzte der Rauch sich sogar zu ihnen herüber. Die ganze Portage stand in Flammen. Wieder tauchte Schapian Sajos Kopftuch ins Wasser; diesmal schlang er sich's selber um Kopf und Gesicht und ging, das Kanu holen. Zum Glück lag es nicht weit, aber er konnte es nicht mehr hochreißen, sondern schleifte es mit versagender Kraft zum Wasser, Heck voran. Schnell warf er die Bündel hinein und hob Sajo, die immer noch das leere Körbchen hielt und anstarrte, in den Bugsitz, plötzlich stöhnte sie auf. »Tschilawii. Wo ist er?« Schapian tat, als habe er nichts gehört. Mit verzerrtem Gesicht schob er das Boot ins Wasser. Das Weinen schmerzte in seiner Kehle wie eine Wunde, als er an seinen kleinen Freund dachte, dem sie nicht mehr helfen konnten, den sie zurücklassen mußten. Vielleicht hatte der kleine Bursche, vom sicheren Trieb geleitet, zum rettenden Wasser gefunden. Was war das? Hinter seinem dem See zugekehrten Rücken klatschte ein scharfer Schlag, dem ein Geplätscher folgte – – dort tauchte der vermißte Tschilawii auf, quicklebendig und ganz gesund, und teilte seinen Freunden in der Schwanzsprache mit, was er vom Roten Tod dachte, dem er mit knapper Not entronnen war. Schapian schrie aus vollem Hals: »Sajo, Sajo! Tschilawii lebt! Dort draußen im See!!«

Sajo, die im Bug des Kanus lag, konnte sich nicht mehr beherrschen und weinte, als ob ihr das Herz brechen müßte. Als sie ihren kleinen Freund tot wähnte, hatte sie keine Träne vergossen, aber nun, da sie ihn am Leben wußte, hielt sie sich nicht mehr zurück und ließ ihrer Freude freien Lauf.

Tschilawii befand sich ziemlich weit draußen und außer Gefahr. Schapian wollte ihn wieder holen, aber ein Kanu kommt nicht recht in Schwung, wenn man es rückwärts rudert, zudem noch in seichtem Wasser. Und doch mußte er es wegbringen, um jeden Preis, denn ein riesenhoher Baum ragte schräg über das Wasser. Er war hohl und brannte! Schapian mühte sich, das Kanu so weit hinauszubringen, daß er es wenden konnte, als die von der Hitze ausgetrocknete Rinde von oben bis unten riß und gierige Flammenzungen wie durch ein Ofenrohr hinauf zum Wipfel sprangen. Das große, fächerförmige Haupt des Riesen, das viele hundert Jahre stolz über die Wildnis gerauscht hatte, wurde zur Flammengarbe, die noch einmal so hoch wie der Stamm in den Himmel züngelte. Der ausgebrannte untere Teil des Stammes konnte der Flammengewalt nicht mehr widerstehen. Ein Zittern flog durch den Riesen, zu Tode getroffen neigte er sich übers Wasser, schwankte noch ein wenig auf die Seite, wo Schapian verzweifelt arbeitete – noch ein wenig, langsam, etwas schneller, und dann brauste der dreißig Meter hohe flammende Riese herab! Todesangst erfaßte Schapian, zum erstenmal spürte er sie wirklich. Mit verzweifelter Kraft bremste er das kaum in Fahrt gekommene Fahrzeug wieder ab und trieb es ans Ufer. Knapp hinter ihnen dröhnte der Mächtige mit einem betäubenden Getöse ins Wasser. Ein ohrenzerreißendes Zischen schnitt böse durch die Luft, als Feuer und Wasser zusammenstießen. Rauch- und Dampfwolken stiegen auf, so daß Schapian nichts mehr sehen konnte, wild schlugen die aufgerührten Wellen gegen das leichte Boot, und Sajo, außer sich vor Angst, stand mit einem gellenden Schrei im gefährlich schwankenden Kanu auf und verhüllte das Gesicht. Entsetzt sprang Schapian ins Wasser und watete zu ihr, legte die Arme um den kleinen Körper und suchte sie zu beruhigen.

Im See draußen schlug Tschilawii mit seinem Schwanz aufs Wasser. Das Ärgste war vorüber, in wenigen Augenblicken befand sich das Kanu in freiem Wasser, und Tschilawii, anscheinend mächtig froh, daß man ihn gefunden hatte, gab sich willig wieder gefangen. Er wurde an seinem frechen Schwänzchen gepackt und ins Boot gezogen, wo er auf den Bündeln herumstieg und erregt seine Freunde beroch. Er war gut weggekommen, kein Härchen war ihm gekrümmt worden – wahrscheinlich seiner kurzen Beinchen wegen, auf denen er dicht über dem Boden watschelte, so daß sich die Schrecken des Feuers über ihm abgespielt hatten. Und nun feierten er und seine Freunde Wiedersehen.

Sie waren noch nicht weit draußen, da fühlte Sajo sich schon besser und setzte sich auf. Schapian ließ sie nicht rudern, sondern gebot ihr, sich so zu setzen, daß er ihr Gesicht beobachten konnte. Sie berichtete, wie sie halb erstickt und blind vom Rauch und von den strömenden Tränen sich abgemüht hatte, den herausgefallenen Tschilawii aufzuheben. Betäubt von dem Durcheinander war sie zusammengebrochen und hatte nicht mehr aufstehen können. Mehr wußte sie nicht. Sie erinnerte sich auch nicht mehr, nach Tschilawii gerufen zu haben, sie wußte nur, daß sie ihn wie im Traum in einer Rauchwolke hatte verschwinden sehen. Als sie ihren Bericht beendet hatte, blickte sie ihren Bruder scharf an und mußte plötzlich lachen! Je länger sie ihn anstarrte, um so mehr mußte sie lachen, und Schapian bekam es mit der Angst zu tun. Hatte ihr Verstand gelitten?

Er war wie erlöst, als sie, immer noch lachend, herausplatzte: »Schapian! wie du aussiehst! Ha-ha, wenn du dich nur sehen könntest. Du hast – du hast ja keine – Augenbrauen!« plötzlich hielt sie ein und fühlte ängstlich nach ihren eigenen.

»Du, Schapian, wie sind meine? Sind sie noch da?« und beugte sich über den Bootsrand, um sich im Wasser zu betrachten. Aber das gleitende Kanu riffelte es auf, und sie konnte nichts sehen. Sajo wurde ganz aufgeregt.

»Halt doch mal an, ich seh ja nichts! Sag, sind sie noch da?« Schapian lachte zur Abwechslung die Schwester aus und sagte zunächst gar nichts. Schließlich konnte er es nicht mehr länger mitansehen und erbarmte sich.

»Jaa, Sajo, sie sind noch da, beide.« Es war nicht gelogen, die Brauen waren tatsächlich noch vorhanden.

So sind die Frauen – dachte Schapian – jetzt regen sie sich wegen versengter Augenbrauen auf und vorhin hing alles an einem Haar!

Am meisten hatte das Kanu gelitten, es leckte ganz bedenklich. Hinter ihnen tobte immer noch das Feuer, raste wie eine stürmende Armee über alles hinweg und ließ nur schwarze, rauchende Ruinen zurück, aber sie waren nun in Sicherheit. Schapian fühlte den ganzen Stolz nach einer männlich vollbrachten Tat. Und Sajo war zuversichtlicher als je zuvor, denn wer den schlimmsten Feind, den Roten Tod besiegt, wer unversehrt mitten durch seine Hölle geschritten, den kann nichts in der Welt abhalten, Tschikanii wiederzuholen. Tschilawii schien das Abenteuer am besten verwunden zu haben, er dachte einfach nicht mehr daran, sondern streckte sich auf dem Kanuboden aus, bettete den dicken Kopf in Sajos Schoß und schlief ein.

An diesem erlebnisreichen Tag lagerten sie früh auf einer schönen, sicheren Insel weit draußen im See. Nun besahen sie sich gründlich den Schaden. Schapians verschwundene Augenbrauen ließen sich nicht gut ersetzen, wenigstens nicht so schnell, aber das machte ihm wenig Kummer, er hatte mit dem Kanu genug zu tun. Die lustige Fuchslunte war nur noch ein geschwärztes, zusammengeschnurrtes Stückchen Haut. Und das einst so kühne, wachsame Auge am Bug war fast ganz dahin. Der harte Stoß, den der Bug empfangen hatte, als Schapian dem stürzenden Baum auswich, hatte ein großes Stück des Rindenüberzugs gekostet. Das Harz, mit dem die Nähte abgedichtet gewesen waren, war geschmolzen, und das brennende Astwerk, das während Schapians Feuerwanderung aufs Boot gefallen war, hatte da und dort Löcher hineingebrannt. Auch das Zelt und die Schlafdecken wiesen Brandspuren auf. Im ganzen jedoch war der Schaden gering; es hätte ihnen noch viel schlimmer gehen können. Tschilawiis Körbchen hatte keinen Deckel mehr, dafür aber ein großes Loch in der einen Seite – Tschilawiis Anteil am Werk. Auf der Insel wuchsen genug Birken, und bald schnitt Schapian große Rindenstücke los, nähte einen Fleck auf das Loch, machte einen neuen, beinahe ebenso gut schließenden Deckel und flickte auch das Kanu. Das Auge und die Fuchslunte mußten bis später warten. Sajo arbeitete mit Nadel und Faden, ohne die eine Indianerfrau nicht auf die Wanderung geht. Bald waren Zelt und Decken wieder heil, und als die Dunkelheit hereinbrach, lag alles für den nächsten Morgen bereit.

Es kam die Nacht. Bruder und Schwester saßen schweigsam nebeneinander und starrten zum Hauptland hinüber. Wie nahe waren sie dem Tod gewesen, beinahe hätten sie ihren Vater nicht mehr gesehen, und zum erstenmal fühlten sie sich toteinsam. Selbst bis zu ihrer sicheren Insel drang das Geräusch des fressenden, girrenden Feuers. Der Himmel erstrahlte kilometerweit in glühendem Rot, aufgehellt von der herrlich schönen, aber furchtbaren Lohe, vor der alle Geschöpfe gleich hilflos sind, und die so schnell und oft so leichtsinnig entfesselt wird, die große Wälder, Tausende von Tieren und ganze Städte zerstört. Ein einziges Streichholz in der Hand eines verantwortungslosen Menschen, und der Rote Tod braust durch das Land. –

Sajo schlief, aber Schapian konnte keine Ruhe finden. Wach und nachdenklich starrte er auf die Zeltwand und beobachtete, wie die rote Glut draußen allmählich verblaßte. Das Feuer hatte endlich das Sumpfland und die kahlen Felsen erreicht und verzehrte sich selbst. Schapian lächelte stolz: nein, ein Mann war er noch nicht, aber wenn alles so weiterging, dann, ja dann konnte es nicht mehr lange währen.

Vorsichtig beugte er sich über Sajo, sie schlief und hielt Tschilawii in den Armen. Schapian stieß einen tiefen Seufzer aus, schloß die Augen und wanderte bald durchs Traumland.


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