Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Händler

Eines Tages fand es Gitschie Megwon an der Zeit, die Biber ins Freie zu lassen. Sie waren jetzt recht gut herangewachsen und kräftige Kerle, so daß die Kinder Angst hatten, die Tiere würden davonwandern und nie mehr wiederkehren. Gitschie Megwon aber wußte es besser. Nein, die Biber werden ihre Heimat, wo man sie gut behandelt hat, nicht verlassen und immer in die Blockhütte zurückkehren, ganz so, als sei diese ihr rechtmäßiges Biberhaus. Überdies würden die Tiere es nicht lange allein aushalten und höchstens ein bis zwei Stunden fortbleiben.

So kam der große Tag heran, an dem die Bretter, die den unteren Teil der Hüttentür verrammelten, weggenommen wurden – und draußen waren sie. Das ging zwar nicht so schnell, wie es hier erzählt wird, denn das Brüderpaar guckte sich erst vorsichtig nach allen Seiten um, blinzelte etwas ängstlich um die Ecken und prüfte sorgfältig all die vielen neuen Gerüche und Geräusche, die auf Nase und Ohr einstürmten. Ganz zaghaft machte man das erste, das zweite, das dritte Schrittchen über die Schwelle, und dann erst warf man sich der Freiheit endgültig in die Arme und watschelte, von Schapian und Sajo als Leibwache begleitet, zum See hinunter. Tschikawii und Tschikanii hatten es gar nicht eilig, sondern trotteten recht gemächlich und vorsichtig dahin, blieben immer wieder sitzen, um sich nach nicht vorhandenen Wölfen und Bären umzusehen. Es waren, wie gesagt, keine da, aber es machte Spaß, so zu tun. Je näher sie dem See kamen, um so eiliger hatten sie's. Der behäbige Schritt wurde zum Trab und zuletzt zu einem Galopp (wenn man so sagen will!) – und dann hinein ins Wasser! Und wieder heraus! Sie wußten gar nicht, was sie mit diesem großen Waschkübel anfangen sollten. Lange hielten sie's auf dem Land nicht aus und stürzten sich hell aufquiekend wieder ins Naß, schlugen mit den Schwänzen und fühlten sich ungeheuer wohl und durchaus am Platz, »Wie richtige Biber!« meinte Sajo.

Daraufhin dauerte es gar nicht lange, bis sie sich daranmachten, ganz selbständig frische, kleine Pappeltriebe zu schneiden und zu knabbern. Im hohen Riedgras am Ufer sitzend, säbelten sie die Dinger in kurze, handliche Stücke und schälten vergnügt die Rinde ab. Sie spielten und rangen und liefen auf und nieder, hinein ins Wasser und wieder heraus und waren ganz außer Rand und Band. Jedes leere Rattenloch am Uferrand zog sie unwiderstehlich an. Endlich hatten sie eines gefunden, das ihren Absichten großartig entgegenkam. Tschilawii und sein Bruder waren gerade so groß wie der letzte Besitzer der Höhle, wundervoll. Auf der Stelle fingen sie an zu graben und zu wühlen. Die Höhle der Bisamratte lag unter Wasser, und als die beiden Biber fieberhaft drauflos arbeiteten, quoll der Schlamm in dicken, gelben Wolken durch das Wasser, so daß es sich trübte und in einen undurchsichtigen Dreckbrei verwandelte.

Irgendwo in dieser graugelben Schmiere steckten die Tierchen; sie blieben ziemlich lange verschwunden, so daß Sajo es mit der Angst zu tun bekam und nach Schapian rief. Er watete ins Wasser und steckte zuerst die Hand, dann den ganzen Arm in die Einfahrt und fühlte die Wände ab. Tschilawii und Tschikanii waren nicht drin! »Sajo!« rief er aufgeregt, »sie sind weg!« In rasender Eile suchten die Beiden das Schilffeld am Ufer nach den Verschwundenen ab. Auf einmal hörten sie hinter sich ein höchst klägliches Jammern und Weinen. Und siehe! da kamen Tschilawii und Tschikanii auf ihren Stummelbeinchen in größter Eile herbeigewackelt, halbtot vor Angst, ihre Freunde könnten sie zurücklassen. Sie hatten ihre Arbeit im Rattenloch aufgegeben gehabt und waren, unter dem schmutzigen, gewölkten Wasser schwimmend, davongeschlüpft und ungesehen ans Ufer geklettert.

Und nun waren sie müde. Sie setzten sich nieder, zwei kleine, struppige, braune Zwerge, und drückten und kämmten das Wasser aus dem Pelz. Danach drehten sie sich um und wandelten langsam und würdig den schmalen Pfad zur Blockhütte zurück. Dort drückte Sajo jedem ein großes Stück Indianerbrot in die Hände, worauf sie sich damit leise in ihr Birkenrindenschlafzimmer begaben, um ihr Mittagsmahl zu verzehren. Müde, satt und schläfrig rückten sie zusammen und plumpsten, innig umschlungen, auf ihr schönes, trockenes Bett und schliefen ein. So endete ihr erster Ausflug in die Freiheit.

Nun waren sie, wie Sajo gesagt hatte, »richtige Biber« und gewöhnten sich bald an das neue Leben. Sobald die Tür geöffnet wurde, trotteten sie zum Schwimmen und Wasserpritscheln. Stundenlang beschäftigten sie sich mit ihren Wasserspielen und mit dem am ersten Tag entdeckten Rattenloch. Immer tiefer wühlten sie sich hinein und ließen nicht nach, bis die Röhre ihnen genügend sicher erschien (man konnte ihnen Gedanken und Pläne geradezu ablesen, wenn sie prüfend und sichernd nach allen Seiten forschten, als sei die Welt voll böser Drachen). Zuletzt erhielt der lange Gang einen Bogen nach oben, so daß eine Öffnung im Boden entstand: ein Tauchloch! Und über dem Tauchloch begannen sie zur hellen Freude Sajos und ihres Bruders eine lächerliche, kleine Biberburg zu errichten, ein eigenes, richtiges Haus mit einem Wohnraum, einem Unterwasser-Eingang, einer Ein- und Ausfahrtsröhre und einem Tauchloch!! Gewiß, das Ganze war etwas wackelig in den Wänden und auch nicht besonders gut verputzt, aber alles in allem genommen stellte es ein recht brauchbares Stück Arbeit dar.

Zu einem Heim gehört auch eine zünftige Einrichtung und vor allem eine Speisekammer, möglichst eine gefüllte. Indem sie fleißig junge Triebe schnitten und zu einem winzigen Futterfloß zusammentrugen, das sie vor dem Wassertor verankerten, besaßen sie beides in einem. Sie bauten und taten ganz wie große Biber, nur geriet alles viel, viel kleiner und nicht so gut; auch die Bauzeit war nicht richtig gewählt. Im Sommer baut man kein Futterfloß, denn das Zeug wird sauer, ehe man's aufessen kann. Auch das wackelige, windschiefe Haus wäre nie und nimmer regendicht gewesen. Doch was machte das aus! In der Blockhütte drin besaßen sie sowieso ein sicheres, warmes Bett – wie die Menschen; Indianerbrot gab's immer mehr als genug und bei gewissen Gelegenheiten sogar Eingemachtes und eigene Teller! Zählt man all die schönen Dinge zusammen, die ihnen zur Verfügung standen, dann nannten sie für ihre Größe einen recht beträchtlichen Besitz ihr eigen und waren wohlhabende Biberleute, die das schiefe Haus am See unten gar nicht nötig hatten, so wenig wie das Futterfloß. Aber – aber es war halt so ein Mordsspaß, das Zeug zusammenzubauen, kleine Bäume zu schneiden, zu graben und mit Schlamm zu dreckeln.

Sajo und Schapian verbrachten fast ihre ganze freie Zeit mit den Bibern am See. Oft halfen sie den fleißigen Burschen, und jeder Stecken, jeder Blattwedel, jeder Stein, den sie für die Biber herbeitrugen, wurde ihnen mit großer Hast entrissen und davongeschleift. Nicht selten rückten die kleinen Dreckspatzen, von Kopf bis Schwanz mit Schlamm überzogen, an und wollten an ihren Freunden hochklettern. Dann gab es jedesmal eine regelrechte Balgerei, und die Freude hörte nimmer auf.

Schapian, der von dem Baufieber der Biber angesteckt wurde, baute eine kleine Spielhütte. Darin saßen sie dann zu viert und ruhten aus. Tschikanii liebte dieses Hüttchen ganz besonders und spazierte auf der Suche nach seiner geliebten Sajo oft hinein. Tschilawii, der Abenteurer, der Herumtreiber aber konnte es nirgends lange aushalten, immer wieder war er verschwunden. Weil er nicht sagen konnte oder wollte, wohin es ihn trieb, ging er immer wieder mal verloren. Natürlich, er wußte genau, daß er nicht verloren war, aber die andern wußten es nicht, und das Suchen und Rufen nahm kein Ende. Er pflegte an den unwahrscheinlichsten Orten wieder aufzutauchen, mal im Spielhaus, wenn die andern es für leer hielten, mal im Blockhaus, wenn man ihn in der Spielhütte vermutete oder in der wackeligen Burg oder gar unter dem Kanu, wo er sich eins anschnarchte. War er endlich gefunden, setzte er sich auf, Schwanz nach vorn umgeklappt, so:

und wackelte mit Kopf und Bauch, als fände er die Aufregung der andern und den Streich, den er ihnen gespielt hatte, höchst ergötzlich. Ging an irgendeiner Stelle ohne ersichtlichen Grund ein Aufruhr los, war hundert gegen eins zu wetten, daß dieser Nichtsnutz die Hand im Spiel hatte. Wo ein Geschrei oder sonst ein Lärm ertönte – Tschilawii war mitten drin und die Seele vom Ganzen. Seine Stimme ertönte überall und zu jeder Zeit den lieben langen Tag, bald hier, bald dort, aber nie, wo man sie erwartete.

Nun, Tschikanii war auch kein Engel. Im Gegenteil, er trug seinen Teil redlich bei; immerhin gab es aber Augenblicke, in denen er mitten im lustigsten Spiel innehielt, als ob plötzlich ein Gedanke durch seinen kleinen Dickkopf gezuckt wäre, eine Erinnerung an seinen Heimatteich vielleicht, der so fern zwischen den Hügeln der Flüsternden Blätter lag. Das waren die Augenblicke, in denen er Sajos Tröstungen brauchte. Dann watschelte er auf seinen Beinstümpfchen zur Spielhütte, um zu suchen. Und wenn er Sajo gefunden hatte, setzte er sich neben sie nieder, putzte sich und schmiegte sich dann eng an seine geliebte Freundin. Den Kopf auf ihren Knien versuchte er, in seiner seltsam rührenden Bibersprache zu erzählen, worin sein Kummer bestand. Manchmal wollte er bloß ihre Gesellschaft und lag mit halbgeschlossenen Augen träumend und zufrieden seufzend da. Vielleicht war es Einsamkeit, vielleicht Liebe – wir wissen es nicht. Diese beiden hielten treue Freundschaft, und wo das eine war, tauchte auch bald das andere auf.

Das fröhlich-bunte Leben mit den vielen kleinen Gemeinsamkeiten und Streichen, erfüllt von Arbeit und Spiel, war unaussprechlich schön, und es ist schwer zu sagen, wer von diesen Kindern der Wildnis am glücklichsten war: die auf vier Beinen oder die auf zwei. Eines steht fest: Alle vier waren eine fröhliche Kameradschaft in jenen glücklichen, glücklichen Tagen in O-pi-pi-sowä, an den Sprechenden Wassern.

*

Die Bannockstücke Eine Art Kuchenbrot waren in letzter Zeit immer kleiner geworden. Gitschie Megwon befand sich seit mehreren Tagen nicht daheim, sondern in der Handelsniederlassung, um einige Nahrungsvorräte einzutauschen und zu kaufen. Es gab kaum noch ein bißchen Mehl im Haus. Niemand, weder die Geschwister noch die Biber hatten genug zu essen. Eines Tages kehrten sie in die Blockhütte zurück und fanden Gitschie Megwon wieder daheim.

Er sah sehr ernst aus und machte sich über irgend etwas Sorgen. Aber die Eßvorräte waren da: ein Sack Mehl und mehrere andere Sachen lagen auf dem Fußboden, und daneben stand ein fremder Mann, ein Weißer. Er hielt eine große Schachtel in der Hand. Gitschie Megwon sprach gütig zu seinen Kindern, aber kein Lächeln zog wie sonst über sein hageres Gesicht, und die Kinder wunderten sich. Der Weiße stand immer noch da und sagte kein Wort. Etwas stimmte nicht. Selbst Tschilawii und Tschikanii schienen es zu fühlen, Tiere spüren so etwas sehr schnell, auch sie standen still und wartend vor den beiden Männern.

Schapian, der die Missionsschule besucht hatte und ganz gut Englisch verstand, hörte den Vater zu dem Fremden sagen:

»Das sind sie. Welchen wollen Sie nehmen?«

Was war das? Was meinte er damit!? Ein scharfer Schmerz durchzuckte Schapians Brust und er blickte rasch zur Schwester hinüber. Gott sei Dank, sie hatte nichts verstanden.

»Warten Sie, ich muß sie zuerst anschauen«, antwortete der Fremde. »Sie sollen mal ein bißchen rumlaufen!« Er war ein dicklicher, gedrungener Mann mit einem roten Gesicht und harten, blauen Augen – Glasaugen, Eisaugen, dachte Schapian. Aber Gitschie Megwons dunkle Augen waren traurig, als sie auf Sajo und Schapian blickten. Er bat den Weißen, ein wenig zu warten, bis er mit den Kindern gesprochen habe.

»Sajo, Schapian; meine Tochter, mein Sohn«, begann er leise auf Indianisch, »ich muß euch etwas sagen.«

Jetzt wußte Sajo, daß etwas Trauriges bevorstand. Sie drängte sich an Schapian und blickte scheu zu dem Fremden hinüber. Warum, o warum sah der die Biber so an!!

»Meine Kinder«, fuhr Gitschie Megwon fort, »das ist der neue Ladenhalter vom Handelsposten an der Rabbit Portage. Der alte, unser guter Freund, ist nicht mehr dort. Eine neue Gesellschaft hat den Posten übernommen und will, daß ich meine Schulden bezahle. Ich hab viel Schulden und kann sie nicht abtragen vor der nächsten Winterjagd. Die Neuen wollen nicht so lang warten, wir haben nichts im Haus, das wißt ihr, und sie wollen mir nichts geben, bis meine Schuld bezahlt ist. Ich muß deshalb eine große Reise machen für die Leute, mit andern Männern vom Dorf, Lasten zum neuen Handelsposten am Wiesensee schaffen. Das ist weit von hier. Meine Arbeit wird die Schuld bezahlen, ich werde sogar etwas übrig behalten; aber ich bekomme das Geld erst, wenn die Arbeit getan ist. Und so lang müßt ihr auch leben, meine Kinder. Ich kann euch nicht hungrig sehen. Dieser Mann da« – er zeigte auf den Fremden – »dieser Mann will uns etwas abgeben« – Gitschie Megwon wies auf die Pakete und den Mehlsack – »und dafür möchte er – will – möchte er – einen von – den Bibern.«

Gitschie Megwon schwieg, wartete. Niemand rührte sich. »Lebende Biber sind sehr wertvoll und – welchen der Mann auch nimmt – er wird nicht getötet werden. Mein Herz liegt wie ein Stein in meiner Brust, euretwegen, meine Kinder, und –«, er blickte auf Tschilawii und Tschikanii, »und ihretwegen. Ich habe gesprochen.«

Schapian stand sehr still, sehr aufrecht; seine schwarzen Augen blickten hart den Händler an, während Sajo, die es kaum fassen konnte, flüsterte: »Es ist nicht wahr. Oh, es ist nicht wahr!!«

Schapian sagte nichts; er legte den Arm um die Schwester und starrte den Fremden an, den Mann, der die Freude ihres Lebens rauben wollte. Und er haßte ihn; er dachte an sein geladenes Gewehr in der Ecke. – – Aber der Vater hatte gesprochen, er mußte gehorchen. Schapians schwarze Augen sprühten so haßerfüllt zu dem Weißen hinüber, daß es dem ganz unbehaglich wurde. Er machte rasch die Schachtel auf, packte einen Biber, setzte ihn hinein, klappte den Deckel darauf und nickte Gitschie Megwon zu:

»Gut, in ein paar Tagen seh' ich Sie ja in meinem Laden«, sagte er noch und schritt, mit der Schachtel unterm Arm, zur Tür hinaus, die mit einem Knall zuflog.

Sajo fiel wortlos auf die Knie und drückte das Gesicht in Schapians Rockärmel. Der Fremde hatte Tschikanii mitgenommen! Tschilawii, der nicht wußte, was er denken sollte, wurde ängstlich und kroch in sein Birkenrindenhäuschen, allein. –


 << zurück weiter >>