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Sajo hört die Sprechenden Wasser

Am nächsten Tag zog Gitschie Megwon fort, um seine Schulden abzuarbeiten. Mit ihm fuhren noch siebzehn Männer aus dem Indianerdorf. Sie ruderten in drei großen Rindenkanus davon. An der Rabbit Portage harrten ihrer die Lasten, die sie zum Wiesensee hoch oben im Norden frachten sollten. Die Brigade, so nennt man diese Kanufrachtzüge, befand sich auf einer Fahrt, die mindestens einen Monat, wenn nicht länger, dauern mußte. Sajo und Schapian blieben mit Tschilawii allein zurück.

Als der Händler die Tür so hart zugeschlagen hatte zwischen Sajo und dem einzigen Geschöpf, das sie neben Vater und Bruder am meisten liebte, schien es ihr, als hätte die Tür ihr Herz ebenso verschlossen.

Nach diesem traurigen Erlebnis hatte eine große Wandlung die drei Zurückgebliebenen ergriffen. Der glückliche Kreis war zerstört. Die Spielhütte am See blieb verlassen, kein Gelächter, kein Geschrei erhob sich am Ufer. Tschilawii machte keine Luftsprünge mehr, und seine Stimme, die man sonst immer und überall gehört hatte, verstummte. Er tanzte nicht mehr vergnügt und närrisch durch seine kleine Welt und mochte auch nicht mehr spielen, sondern wanderte ruhelos, freudlos hin und her und suchte seinen Bruder Tschikanii. Sein kleiner Kopf konnte nicht begreifen, daß der Spielgefährte nicht mehr da war. Jeden Morgen machte er sich hoffnungsfroh von neuem auf, den Kameraden zu suchen, sah in alle Ecken und Winkel, rannte von einem Spielplatz zum andern, stöberte im Riedgras, wo sie so oft gesessen und sich geputzt, wo sie gespielt und in der Sonne gebraten hatten. Er schwamm Ufer auf und Ufer ab, tauchte in das komische Biberhaus und fand ihn nicht.

So jagte er den ganzen Tag dem verlorenen Freund nach, und sein eifrig schlurfender Trott vom Morgen wurde später am Tag, wenn er auf seinen kurzen Beinen den Fußpfad zur Blockhütte einschlug, ein langsames, müdes, hoffnungsloses Stolpern und Kriechen. Ohne einen Laut verschwand er in sein einsames Rindenhaus, nicht länger mehr ein fröhlicher Herumtreiber, ein Nichtsnutz, sondern nur noch ein einsamer, trauriger, kleiner Biber. – Die Kinder folgten ihm auf seinen Gängen und taten, als suchten sie mit, denn sie konnten es nicht mitansehen, wenn er so ganz allein, ein unglücklicher kleiner Geist, umherstrich. Und wenn er vor seiner Schüssel saß, setzten sich Bruder und Schwester zu ihm und hielten den Teller, in den nicht selten große salzige Tropfen aus Sajos Augen fielen. Sie mußte immer an den weichherzigen, sanften, zärtlichen Tschikanii denken, der nun irgendwo in der großen Stadt hauste, wo es keine fröhliche Gesellschaft, kein Spiel, kein Indianerbrot gab.

Manchmal schien es ihr, als müßte er noch da sein, als müßte er im Spielhaus unten am See sitzen. Zuweilen war dieses Gefühl so stark, daß Sajo seine Stimme draußen zu vernehmen glaubte. Im Uferschlamm waren seine Fußspuren noch zu sehen, kleine, rührend häßliche, einwärts gedrehte Stapfen. Sajo ging oft hinunter, um sie zu betrachten, und wenn Schapian nicht in der Nähe war, kniete sie auf die gute Erde und streichelte flüsternd mit den Fingerspitzen darüber hin. Wind und Wetter verwischten zuletzt auch diese Zeichen. Über eines legte sie schützend ein Stück Birkenrinde und suchte jeden Tag die Stelle auf. Im Lauf der Zeit trocknete auch diese Spur aus und zerfiel in Staub. Und nichts blieb zurück!

In diesen Tagen der Trauer war Tschilawiis Stimme selten zu vernehmen. Dafür ertönte sie nachts, wenn der Kleine aufwachte und in äußerster Verlassenheit nach einem andern kleinen Pelzklumpen tastete und niemand finden konnte. Sajo hörte ihn immer und kroch ins Rindenhaus und legte sich weinend zu ihm, hielt ihn in den Armen, bis sie beide wieder einschliefen.

Schapian saß stundenlang auf einem Fleck und starrte zu den fern wogenden Waldbergen hinüber. Er sagte nie etwas, aber sein Herz tat weh, so oft er an die Schwester dachte, die nicht mehr sang und nicht mehr fröhlich war. Ein harter, würgender Klumpen steckte in seiner Kehle, und dann blickte er zornig und böse drein; denn kein Mensch, am allerwenigsten Sajo, durfte ahnen, wie schwer er die Tränen zurückhielt, Wie er die Säcke und Tüten haßte, die der Händler für Tschikanii zurückgelassen hatte! Der aus dem Mehl gebackene Bannock erstickte ihn fast. Hätte er doch nur daran gedacht, dem Händler das Jagdgewehr anzubieten. Vier Nerzfelle hatte er damals dafür bezahlt, und die waren sicher mehr wert gewesen als der kleine Biber.

Schapian besaß noch seinen Tschilawii, trat ihn aber stillschweigend an die Schwester ab. Sie nahm den kleinen Burschen oft auf den Arm und wanderte mit ihm zu dem kleinen Bach, der von dem Hügel hinter dem Indianerdorf herabgeplätschert kam und dort einen kleinen Wasserfall bildete. Eine große, alte Kiefer stand daneben. Unter ihrem Schatten setzte sich Sajo nieder, lehnte den Rücken gegen den guten Baum und dachte darüber nach, wie sie Tschikanii wieder zurückholen könnte. Tschilawii schwamm und tauchte indessen, versuchte sogar ein kleines Wasserspielchen mit sich selbst.

Während ihr kleiner Freund umherplätscherte oder Weidenstämmchen schälte oder auf ihrem Schoß saß, lauschte sie den Stimmen des kleinen Wasserfalls. Wisset, wenn ihr eine Weile ganz geduldig neben einem Fall sitzet, werdet ihr leise murmelnde Stimmen hören, Stimmen, die kommen und gehen wie der Wind. Manchmal sind sie ganz deutlich, manchmal weniger. Alle Indianer haben sie schon vernommen und weiße Menschen auch, wenn sie lange genug und geduldig genug gewartet haben. Die Indianer glauben, es seien die Stimmen der Verstorbenen aus dem Geisterland. Und Sajo wartete auf die Stimmen und versuchte sie zu deuten. Sie wußte ganz bestimmt, eines Tages würde sie die Botschaft verstehen. Sajo hatte recht, denn die Sprache der Indianer gleicht dem fließenden, rauschenden Wasser, dem Seufzen des Windes und dem leisen Wogen der hohen Wipfel. Oft saß Tschilawii neben ihr, ohne sich zu rühren, als wolle auch er den Stimmen lauschen. Vielleicht hat er sie besser verstanden als das Menschenkind.

So sah die Stelle aus, der die Indianer den Namen O-pi-pi-sowä, Ort der Sprechenden Wasser Ursprünglich hieß sie »Ort der sprudelnden Wasser«, aber der oben angegebene Name ist bekannter geworden. Die Stelle wurde leider von einem Waldbrand heimgesucht, und das Feuer hat dieses eigenartige, akustische Wunder zerstört. gegeben haben. Hier war Sajos Lieblingsplatz, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Immer, wenn sie sich einsam fühlte oder ungestört nachdenken wollte, zog sie sich an den Wasserfall zurück und lag im Schatten der uralten Kiefer und starrte in die dunklen, schattigen Höhlen zwischen den Riesenästen hinauf. Und wenn die Sonnenstrahlen hindurchfielen und in die dunklen Winkel leuchteten, sah es wunderbar aus, wie ein fernes, unentdecktes Land, in dem Feen und andere seltsame Geschöpfe wohnten. Sajo fragte sich dann, ob dort das Geisterland sei, dessen Bewohner durch das »Sprechende Wasser« mit den Lebenden redeten. Wenn sie so dalag und träumend in die leise schwankenden Wipfel starrte und dem Plätschern und Rieseln des Bächleins lauschte, war es ihr, als spreche die Mutter zu ihr, ganz nah und vertraut, und das machte sie glücklich.

Eines Tages, als sie wieder einmal mit Tschilawii auf dem Schoß unter dem alten, weisen Baum saß und dem schläfrigen Murmeln des kleinen Wasserfalls lauschte, schienen die Laute immer deutlicher, verständlicher zu werden. Sie lehnte sich fester gegen den Stamm und schloß die Augen, um besser zu hören. Nach einer Weile verstummte das Wasser, und Sajo glaubte, an seiner Stelle jemand sprechen zu hören, ganz leise, dicht neben ihr. Sie vernahm Worte, Indianerworte, die wie leise rauschendes Wasser klingen:

Sajo, Sajo!
Mah-jahn, mah-jahn.
Sajo, Sajo!
Don-na ja-dahn!

Sajo, Sajo!
Du mußt wandern
In die Stadt.
In die Stadt
Mußt du wandern!

Die Stimme wiederholte die Worte, bald laut, bald leise. Zuletzt wurden sie so deutlich, daß Sajo die Stimme zu erkennen glaubte, eine Stimme, die sie lange, lange nicht mehr vernommen hatte: Mutters Stimme. Und Sajo weinte.

»O meine Mutter! Hier ist Sajo. O meine Mutter, sprich mit mir. Ich werde auf deine Worte hören, o meine Mutter.« Sie tastete mit geschlossenen Augen in die Richtung, aus der die Stimme zu dringen schien und berührte etwas Weiches, Warmes. Sajo riß die Augen auf und fand ihre Hand auf der feuchten, warmen Nase Tschilawiis liegen, der in ihrem Schoß kauerte und an Sajos Kopftuch zerrte. Sajo wußte nun, daß sie geträumt hatte, und die Worte, die sie vernommen, verloren sich wieder im Wasserrauschen.

Sajo sprang auf, nahm Tschilawii auf den Arm und redete mit ihm:

»Tschilawii, Tschilawii! Wir holen Tschikanii. Wir müssen in die Stadt. Meine Mutter hat's gesagt. Ich weiß es!«

Sajo rannte, mit Tschilawii im Arm, nach Hause

Den kleinen Biber im Arm rannte sie heim, und im Laufen versicherte sie sich immer wieder: Doch, es war Mutters Stimme! Das Große Geheimnis Die indianische Gottheit hat sie in den Wasserfall gesandt, damit sie ihrer Tochter helfe. »O Tschilawii, warte, warte bis ich mit Schapian gesprochen habe!«

Wer will kommen und sagen, das Große Geheimnis, der Geist der Wildnis, der die Geschöpfe beschützt, habe nicht die Wasser gerührt und sie sprechen heißen, solange Sajo schlief? Keiner wage es!

Mittlerweile fühlte sich Tschilawii von dem Rennen und Jagen so durcheinandergerüttelt, daß er genug hatte und auf die sichere Erde hinunterstrebte, auf der man schön gleichmäßig dahinschlurfen konnte. Weil seine Freundin ihn aber festhielt, ließ er einen fürchterlichen Brüller los, wie schon lange nicht mehr. Sajo freute sich: »Nun hat er seine Stimme wiedergefunden, und alles wird in Erfüllung gehen. Ich weiß es, und ich glaube.«

Von all dem Laufen und Schreien waren beide ganz außer Atem, als sie sich endlich der Blockhütte näherten. Schapian, der die Aufregung schon von weitem gesehen hatte, lief ihnen entgegen und fragte, was los sei, und Sajo erzählte ihm den Traum, und daß sie alle drei in die Stadt müßten. Sofort, auf der Stelle.

Schapian war nicht so schnell einverstanden, er mußte die ganze Sache erst einmal gründlich überdenken und – er hatte noch nichts geträumt.

»Das ist närrisch, kleine Schwester. Die Stadt ist weit, wir wissen den Weg nicht, haben kein Geld, und ohne Geld können wir weder essen noch schlafen. Tschilawii müßten wir auch mitnehmen. Und überhaupt, was würde unser Vater sagen?«

Das klang sehr entmutigend, aber wenn Sajo sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab sie nicht so leicht nach. Sie wußte gleich eine Antwort auf Schapians Einwand:

»Vater ist so traurig wie wir und würde sich freuen, wenn Tschikanii wieder da wäre. Keiner von uns war seither froh und glücklich.«

Das war richtig, aber sie sagte nicht, wie sie in die Stadt gelangen sollten und was dort zu tun war. Sie glaubte an die empfangene Botschaft und war ganz sicher, daß alles recht werden mußte Die Indianer glauben an Träume und richten ihre Pläne danach ein.. Schapian blickte die Schwester an und sah den Glanz und die Zuversicht in ihren Augen. Was sie tun wollte und ihn zu tun bat, war schwer, das Schwerste, das je von ihm verlangt worden war. Er brachte es aber nicht übers Herz, ihren Plan ohne jeden Versuch einfach abzulehnen und sie noch trauriger als früher zu sehen. Ehe der Vater gegangen war, hatte er Schapian zu sich gerufen und gesagt: »Mach deine Schwester wieder froh!« Gut, er wollte es versuchen.

»Es sei so, meine Schwester; wir werden gehen.« Und der Junge stand sehr aufrecht, sehr entschlossen wie ein Mann. »Ich führe dich in die Stadt. Morgen gehen wir!«

Stolz und ernst blickte er über den See, dieser junge heranwachsende Indianer und hatte doch keine Ahnung, wie er es anpacken sollte. Er wußte nicht, welch verzweifeltem Abenteuer er und seine Schwester entgegengingen. Und das war gut!


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