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5.

Es ward neun Uhr. Unmöglich, schon zu Bette zu gehen. Sie wollte nichts von dem Thee wissen, zu welchem Josephine sie rufen ließ. Zum Glück hörte sie durch das offene Fenster Julianens Stimme. Sie rief hinab, zu Josephinens Verdruß, die von der Intimität mit dem Gärtnersmädchen jetzt, da sie heranwuchs, nichts mehr wissen wollte.

Und da waren sie alsbald beisammen, die beiden Mädchen: Stella eine graziöse, schon in jungfräulicher Entwickelung begriffene Gestalt mit zierlichen Gliedern, das hellbraune, natürlich lockige Haar über den Scheitel gekämmt und in einem Beutelzopf über den Nacken hangend, das Antlitz vom rosigsten Teint, die Stirn eckig und eigenwillig, von den Löckchen überspielt, das grelle, lebhafte, tiefbraune Auge unruhig flackernd, das leicht gestutzte Näschen leidenschaftlich geflügelt, die Lippen wie rothe Waldbeere, nie ganz geschlossen, um den weißen Zähnchen ihre Geltung zu lassen.

Juliane war kräftiger angelegt. Obgleich in demselben Alter, rundete sich doch schon ihre Büste; ihr Nacken, ihre Schultern waren voll und kräftig, das dunkle Calico-Kleid strammte sich auf den Oberarmen über den stark ausgesprochenen Hüften. Ihre Hände zeigten die Spuren der Arbeit, ihre Fingerspitzen trugen die Narben der Nadel.

Sie war von jenem gewöhnlichen stumpfen oder todten lehmfarbigen Blond, das der Dorfjugend eigen, ihr Haar aber legte sich zu beiden Seiten über zwei ganz zierliche Ohren. Ihre grauen Augen hatten etwas Verschlagenes, um ihre Nase lag ein moquanter Zug, ihre sinnlich geformten Lippen verloren sich in tiefe Winkel. In ihrem Wesen war etwas Freimüthiges, Derbes, der Stempel ihrer Herkunft, den sie nicht verleugnete.

»Wie stark Du geworden bist, Juliane!« Stella strich ihr mit den Händen über die Schultern, dann über die Hüften. »Man könnte Dich schon für siebzehn oder achtzehn Jahre alt halten. Was hast Du denn getrieben während der drei Wochen, die wir uns nicht sahen.«

Juliane zuckte die Achsel und lachte derb auf. »Was soll unsereins treiben! Um mich kümmert sich ja niemand. Der Vater jammert über seine Gicht, und die Mutter muß den ganzen Tag im Garten schaffen, dann auf den Markt gehen um Gemüse zu verkaufen. Ich muß Morgens sieben Uhr schon an die Arbeit, habe Mittags kaum Zeit zu essen und komme erst Abends wieder heim.«

»Wie viel seid Ihr Eurer in dem großen Geschäft?«

»Nun, so an die Zwanzig! Man muß sich natürlich in Acht nehmen, daß man nicht verdorben wird, denn was man da zu hören bekommt!« ...

»Erzähle!« Stella, wie sie neben Juliane auf dem großblumigen antiken Sopha saß, legte die Hand auf die ihrige und blickte kindisch neugierig.

»Was soll ich viel erzählen! Und übrigens: was bleibt denn uns armen Mädchen schließlich übrig! Mein Vater ist stets betrunken und die Mutter muß sich den ganzen Tag quälen. Gelernt haben wir Kinder nichts und gesehen auch nichts als die Rohheiten des Vaters und der Fabrik-Arbeiter drüben, die schon das Ihrige versuchten, uns schlecht zu machen. Als Dienstmagd möchte man sich trotzdem nicht verdingen und so von dem armseligen Nähe-Lohn sich ernähren, das soll noch Eine fertig bringen. Ich denke schon mit Schrecken an die Zeit, wo mein Vater stirbt und wir die Wohnung sammt dem Garten hier verlassen müssen. Was dann kommt, ja, das mag der Himmel wissen!«

»Ja, ja. Du kannst wohl recht haben! Aber das Macherlohn ist doch so furchtbar theuer, Juliane! Sieh nur diesen Fittich an, den ich trage! Ganz billiger Stoff, und Josephine sagte mir, die Arbeit koste allein zehn Thaler.«

»Ja, aber wer kriegt die! Wir nicht! Wir könnten nicht das Oel davon bezahlen! Ist es da ein Wunder, wenn die meisten Mädchen, falls sie nicht gar zu häßlich sind, schon ihre Liebhaber haben?«

»In Deinem Alter, Juliane?« rief Stella erschreckt.

»Die Männer fragen nicht danach! Meinst Du, ich könne Abends nach Hause gehen, ohne daß mir Einer oder mehre nachlaufen und mir goldne Berge verheißen.«

»Ach, das passirt ja mir sogar!« sprach Stella überlegend halblaut vor sich hin.

»Man wehrt sie sich natürlich ab!« fuhr Juliane fort. »Diesen Männern ist es natürlich gleichgültig, ein armes Mädchen zu ruiniren und es hinterdrein sogar auszulachen. Wenn Sie wüßten, Stella« ...

»Du sollst mich Du nennen wie früher, wenn Josephine nicht dabei ist!«

»Also wenn Du wüßtest, was da bei uns für Geschichten erzählt werden! Da handelt es sich immer nur darum, daß Eine ins Wasser gelaufen, eine Andre ihr Kind umgebracht, eine Dritte sich vom obersten Dachfenster in den Hof hinabgestürzt, und was geschieht dem Mann dafür? Gar nichts! Er geht hin und verführt eine Andre!«

Stella erröthete einmal über das andre, Juliane führte jetzt eine so rohe Sprache. Und dennoch horchte sie mit Interesse.

»Und das mag auch Alles sein, wenn es Einem selbst nur nicht passirt!« fuhr Juliane in demselben Ton fort. »Wir sind doch alle ehrsame Mädchen, wenn auch die Eine oder die Andre ihr Verhältniß hat; aber was passirte uns neulich? Da fand sich ein Mädchen ein, das so krank aussah, als käme es eben aus dem Lazareth. Sie erhielt die allergewöhnlichste Arbeit, da sie kaum eine Nadel zu führen im Stande, obgleich sie mindestens schon zwanzig Jahre alt. Es war uns Allen, als müsse es nicht ganz richtig mit ihr sein, denn sie that so scheu, konnte Niemand ansehen und sprach kein Wort. Es wollte auch keine von uns von ihr was wissen. Eines Abends sieht ein junger Mann, der eben Eine von uns abholen wollte, sie mit den Andern aus dem Hause treten und fragt, wie denn Die unter uns komme; die sei ja schon auf der Straße gewesen. Du kannst Dir denken, Stella, wie wir sie am andern Morgen empfingen! Keine Minute ward sie geduldet. Weinend lief sie zur Directrice. Die kam und hielt uns eine große Rede. Sie sagte uns, dieses Mädchen sei eine Magdalena, die durch unglückliche Verhältnisse gesunken sei, aber da sie den ernstlichen Willen habe, wieder ehrsam zu werden, ihr von einem Mitglied des Frauenvereins empfohlen worden sei. Die Directrice gehört nämlich auch zu dem Verein und meinte, wir sollten Gott bitten, daß er uns vor der Versuchung bewahre, uns die Kraft gebe, ihr zu widerstehen. Es sei im Himmel mehr Freude über einen reuigen Sünder, als über so und so viel Gerechte u. s. w. Wir ließen sie ruhig ausreden, die Magdalena aber vergaß das Wiederkommen. Am Mittag sahen wir den Stadtverordnetenvorsteher Pickert zu der Directrice kommen, denselben, dem das neue Haus da drüben gehört. Eine von uns war gerade bei der Directrice und hörte, wie er sich über die Mißhandlung seines Schützlings beklagte ... Dieser Pickert, der gerade der allerschlimmste ist, denn es ist kaum Eine unter uns, der er selbst nicht mit den schnödesten Anträgen schon gekommen ist! Wenn der Frauenverein nur wüßte, was er an dem alten Sünder hat, der immer nur seine Hände mit denen der Frauen mengen muß!«

Stella hatte mit einem gewissen Schaudern Juliane angehört. Es war ihr während der Erzählung, als bilde sich eine Kluft zwischen ihr und der Spielgefährtin, und dennoch hörte sie so neugierig zu. Juliane erhob sich; sie war erregt.

»Wir Kinder armer Leute sind wohl zu bedauern,« fuhr sie fort, sich mit dem Rücken in das offne Fenster lehnend, die Füße vor sich auf den Teppich streckend und sich in den Hüften wiegend. »Auf uns wird Jagd gemacht wie auf ein Wild, wenn wir nur ein bischen hübsch und jung sind, und halten wir uns und vertrauen lieber einem jungen Mann unsres Standes, den wir gern haben können, meint's der denn ehrlicher? Im Gegentheil, wenn er unsrer überdrüssig ist, sucht er Zank, läßt uns laufen und geht acht Tage darauf mit einer Andren, wie es eben Einer von uns, einem ganz braven Mädchen, widerfahren. Soll man da Eine verdammen, wenn sie sagt: lieber einen Reichen als so Einen?«

Stella that einen Seufzer. Sie fühlte mit der armen Gespielin.

»Eigentlich sollt' ich das Alles nicht mit anhören!« sagte sie, nachdenkend über Julianens Worte. »Was ist's denn mit Deiner Schwester Marion?«

»O, die hat's gut! ... Ja, die! Sie verstand es, sich mit der alten Gräfin Mompach zu stellen, bei der sie als Jungfer engagirt ist, und seit sie bei Der lieb Kind geworden und von ihr Marion anstatt Maria getauft wurde, kommt sie sich was Besseres vor und es gefällt ihr nicht mehr bei uns. Diakonissin soll sie jetzt werden. Der alte fromme General, der Schwager der Gräfin, dem sie seine gichtischen Füße Abends immer wickeln mußte, hat gemeint, sie eigne sich so gut zur Krankenpflege. Da soll sie nun dieser Tage in eine Anstalt zur Ausbildung und danach in ein größeres Krankenhaus abgehen.«

»Hat denn Marion Lust dazu?«

»Bah, Lust! ... Marion ist klug! Die kann ein so frommes Gesicht machen! Glaubst Du denn, sie hätte sich dazu hergegeben, dem alten General, wenn er zu Bett ging, seine geschwollenen Füße zu pflegen und sich dabei von ihm angucken zu lassen, wenn sie nicht ihren Vortheil gesehen hätte? Sie thut ihm sogar den Gefallen und liest ihm aus der Bibel vor, zupft Charpie für die Hospitäler und begleitet die Gräfin in die frommen Anstalten. Wirklich fromm wird die niemals! Aber recht hat sie; so muß man's machen! Um mich kümmert sich kein Mensch, wenn ich selbst verdorben ginge!« ...

»Was Du Alles erzählst, Juliane! Wenn Josephine es gehört hätte!«

» Die wird die Welt auch nicht anders machen! Sie weiß auch, was sie thut.«

Sie schwieg, richtete sich respectvoll, als die Genannte sie eben durch ihr Eintreten überraschte.

Josephine wußte nicht, daß Juliane bei Stella, schien auch die Anwesenheit derselben nicht gern zu sehen. Die Mienen der beiden Mädchen verriethen ihr, daß etwas gesprochen worden, was sie nicht hören sollte.

»Es ist zehn Uhr und Zeit zu Bette zu gehen,« sagte sie zu Stella. »Ich habe Dein Lager für die Ferienzeit hier im Salon aufschlagen lassen, damit Dich der Husten nicht stört, der mich zuweilen im Schlaf überfällt ... Gute Nacht, Juliane; Deine Mutter wird Dich auch schon erwarten!«

Juliane ging, einen heimlichen Blick mit Stella wechselnd, als sie auch dieser eine gute Nacht wünschte.

»Du wirst müde sein, Stella! Bringe Deine Sachen noch in Ordnung und hänge sie in den Schrank. Du weißt, ich liebe diese Unordnung nicht. Den Kaffee nehmen wir morgen drüben im grünen Zimmer mit Deinem Papa ... Schließe das Fenster und schlaf wohl!«

Josephine ging und schloß die Thür hinter sich.

Stella schaute ihr nach. Sie streckte die Arme, gähnte, obgleich sie keine Müdigkeit empfand, und schaute mißmuthig auf ihre umherliegende Garderobe.

»Morgen früh ist auch noch Zeit!« flüsterte sie, das Band ihres Zopfs lösend und die lichtbraunen Haarwellen um den Nacken schüttelnd. Sie machte sich an's Auskleiden, nahm den Leuchter, stand Minuten lang vor dem Spiegel, sich wohlgefällig betrachtend, lächelte sich zu, legte sich dann im Hemd in das geöffnete Fenster und schaute hinaus.

Was ihr Juliane erzählt, war im Grunde recht traurig. Wie anders war doch die Unterhaltung dieser armen Nähterinnen unter sich gegen die der Zöglinge im Institut, obgleich allerdings auch unter diesen so Manches besprochen wurde, und Juliane, wenn sie ihren Vater verlor, mochte allerdings wohl recht übel dran sein.

Aber Juliane hatte ja ihre Eltern noch und es war ihr vorgekommen, als spreche sie gar zu bitter und unzufrieden über ihren Stand. Warum klagte sie über das Elend desselben, da sie es doch noch nicht erfahren?

Da gerade unter ihr im Schein des aus ihrem Fenster in den Garten fallenden Lichts bemerkte sie jetzt, durch ein leises melancholisches Singen aufmerksam gemacht, Eine, die viel eher ein Recht hatte, sich zu beklagen.

»Frettchen, was machst Du denn noch so spät da drunten?« rief sie einem verwachsenen Mädchen zu, das die Hand über's Auge legte und zu ihr hinauf blickte.

Es war Fritzchen, die älteste Tochter des Gärtners, ein armes Geschöpf, das durch einen Fall als Kind im Wachsthum zurückgeblieben und zwischen dem hoch und eckig gewölbten Brustkasten und einem Buckel das hübsche, feine Köpfchen wie eine Schildkröte herausstreckte.

Man hatte den Namen Fritzchen in Frettchen umgetauft, weil es ihre Lieblingsbeschäftigung war, auf die wilden Kaninchen Jagd zu machen, die den Garten unterminirten, und die Unglückliche, die wirklich die hübscheste der Gärtnerstöchter gewesen wäre, ließ sich ruhig den Spitznamen gefallen.

Sie strickte den ganzen Tag Strümpfe, wollene Leibbinden und Jacken, die sie an die Magazine verkaufte, und sang, wo sie war, leise mit geschlossenen Lippen melancholische Volkslieder. Frettchen sang von Morgens bis Abends; es war eigentlich mehr ein Summen, und dabei sah man ihr Gesicht stets lächeln. Sie war immer heiter, um sich über ihr Mißgeschick zu täuschen, Sonntags aber summte sie nur geistliche Lieder und das that sie soeben noch.

»Ich habe nur meine Fallen nachgesehen; die bösen Nachbarskinder ruiniren sie mir immer, wenn ich nicht Acht gebe!« antwortete sie freundlich, wünschte eine gute Nacht und trat in's Haus.

Stella überlegte, wie langweilig es sei, schon so früh zu Bette gehen zu sollen. Die frische, ihren Körper umwehende Abendluft that so wohl! Plötzlich fuhr sie aber im Fenster zurück. Sie sah drüben in der Eisen-Fabrik einen hellen, leuchtenden Punkt. Es war Carl Holsteins Fenster, das sich plötzlich erhellte. Er selbst stand in demselben und winkte ihr mit dem Taschentuch.

Sie war so unvorsichtig gewesen, das Licht nicht hinter sich zu löschen; der junge Mann mußte sie also genau sehen können, wie sie mit entblößten Schultern, nur mit dem Hemd bekleidet, im Fenster lag.

Hastig duckte sie sich unter dasselbe, löschte die Kerze, sprang ins Bett, zog das Plumeau an sich und preßte es über sich fest in die Arme, so war sie zu schlafen gewohnt.

Nach Mitternacht – sie wachte noch – vernahm sie harte Schritte im Corridor. Es war der Vater der nach Hause kam.

* * *


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