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Einundzwanzigstes Kapitel.

Anna Pawlowna hatte aufgehört, über sich selbst zu reflektieren. Sie lebte jetzt, wie tausend andere Damen der russischen Gesellschaft lebten, von einem Tag zum andern, von einer Zerstreuung zur andern. Und was das Seltsamste dabei war, sie lebte mit Genuß in dieser großen, glänzenden Gedankenlosigkeit. Überdies war sie durch ihre Verhältnisse mit Sascha und Boris eine gesellschaftliche Berühmtheit geworden. Ihre Schönheit stand in der Blüte und ihre Schönheit zu pflegen und bewundern zu lassen, beschäftigte sie im Augenblick derartig, daß sie für nichts anderes mehr einen Gedanken zu haben schien. Mit großer Kunst wußte sie Toilette zu machen. Sie erfand selbst ihre Kostüme und strengte dabei ihre ganze Einbildungskraft an.

Bald sprach man denn auch von den Toiletten der Prinzessin, wie man einst von den Teeabenden der Fürstin gesprochen hatte. Diese neuen Toiletten Anna Pawlownas versetzten sogar die russische Gesellschaft in Aufregung. Die Männer bewunderten sie, die Damen skandalierten darüber und – ahmten ihr nach. Zuerst begnügte sich Anna Pawlowna damit, Boris Alexeiwitsch zu gefallen, der anfangs entschieden solcher Mittel bedurfte, um von der schönen Frau gefesselt zu werden. Aber sehr bald reizte es sie, auch auf andere Männer Eindruck zu machen. Seit ihrem großen Irrtum hatte sie alle Brücken hinter sich abgebrochen und schien nichts anderes zu bezwecken, als möglichst schnell in den Abgrund zu stürzen. Sie wollte es mit offenen Augen tun, erhobenen Hauptes.

Mit der Fürstin war sie von neuem sehr intim, doch hatte sich das Verhältnis der beiden Frauen zueinander vollständig verändert; alle Scheu der Fürstin vor ihrer schönen, majestätischen Cousine war verschwunden, Sie behandelte dieselbe bisweilen beinahe patronisierend. Anna Pawlowna zuckte dazu die Achseln, biß sich auf die Lippen, ließ es sich indessen doch gefallen, als die Vertraute der lächerlichsten und – galantesten Modedame Moskaus zu gelten.

Sobald sämtliche vornehmen Familien vom Lande zurückgekehrt waren, richtete die Fürstin wieder ihre Teeabende ein, unter einem größeren Zudrange denn je. Die seltsamsten Gestalten erschienen in dem Salon, um in dessen Dämmerung vollständig zu verschwinden. Die Unterhaltungen wurden so leise geführt, daß das Geräusch des kochenden Samowars das Flüstern der Stimmen häufig übertönte. Die Fürstin in ihrer Robe aus weißer Crêpe de Chine leuchtete wie eine Marmorstatue durch das Dunkel, doch war sie an ihren Teeabenden wie gewöhnlich im höchsten Grade nervös, denn wie gewöhnlich wartete sie auf den einen oder den anderen, der – gewöhnlich nicht kam.

Wer indessen regelmäßig erschien, war Anna Pawlowna in der Begleitung von Boris Alexeiwitsch, dessen Gesicht in jedem Zuge wieder den alten, matten, gelangweilten Ausdruck angenommen hatte. Zuweilen kam das Gespräch auf die neuesten sozialen Bewegungen Rußlands; man hörte Namen fallen wie: »Das russische Volk«, »die soziale Frage«, aber Anna Pawlowna hielt nie wieder eine Rede, darin sie sich vor ganz Moskau kompromittierte und Boris Alexeiwitsch brauchte nie wieder eine Dame in einer solchen bedenklichen Angelegenheit zu sekundieren.

Zuweilen besuchte ein Nihilist die Teeabende der Fürstin: Wladimir Wassilitsch! Und wenn er nicht kam, so war die Fürstin hochgradig erregt. Kam er aber, so stieg ihre Aufregung noch höher, denn der Gast kümmerte sich fast gar nicht um die Wirtin, sondern schlürfte ein Glas Tee nach dem andern, ohne sich jemals in die Unterhaltung zu mischen. Er saß da mit seinem Lächeln, das die Dämmerung verhüllte, mit Blicken, darin sich außer Haß und Verachtung die Zuversicht eines baldigen Sieges aussprach. Jeder dieser Gänge kostete ihn einen gewaltsamen Entschluß; aber er bedurfte dieser Besuche, um sich immer wieder von neuem gegen die Feinde des russischen Volkes aufzustacheln, seinen Haß durch seine Beobachtungen zu nähren und aus seiner erhitzten Einbildungskraft immer von neuem Pläne zu schöpfen, die sämtlich auf das eine Ziel hinausliefen: auf die Vernichtung einer Menschenrasse, die für ihn an allem Unheil, das seit Jahrhunderten über das russische Volk gekommen, die Schuld trug.

Trotz der Vertrautheit der Fürstin mit Anna Pawlowna, trotz des großen Andranges zu ihren Teeabenden, beabsichtigte die Fürstin im Laufe des Winters Moskau zu verlassen und ins Ausland zu gehen. Aber sie wollte nicht allein reisen. Zuerst hatte Wladimir ihre Vorschläge, sie nach Paris und später nach Nizza zu begleiten, brüsk abgelehnt, plötzlich zeigte er sich denselben geneigter. Die Fürstin war glückselig, wäre am liebsten gleich mit ihm abgereist. Aber Wladimir wußte die Reise immer von neuem hinauszuschieben, ließ indessen von der Fürstin die Pässe besorgen; nicht nur für sich und ihn, sondern auch für eine neue Kammerfrau, von welcher die Fürstin lange nichts wissen wollte, bis sie sich schließlich Wladimirs Willen fügen mußte. Die Pässe lagen bereit und Wladimir versprach der Fürstin, mit ihr abzureisen, sobald es ihm »möglich« sein würde.

So standen die Dinge beim Beginn des Winters, über Moskau schien sich eine ewige Dämmerung herabzusinken; in totenfarbenem Grau lag die Erde, auf die der Himmel niederdrückte wie der Deckel eines Sarges. Dann begann es zu schneien, tagelang, wochenlang, bis das Wintergewand Rußlands fertig gewebt war. Endlich wurde es klar und kalt. Der Himmel strahlte in tiefstem Blau, und obgleich die Sonne nur schwach schien, war alles Glorie und Glanz.

Die Dächer, die Türme und Kuppeln Moskaus leuchteten, als waren sämtliche Diamanten des Kreml darüber ausgeschüttet.

Mit den ersten Schneeflocken, die herabrieselten, fiel in dem Gärtnerhause in der Nowaja Andronowka-Vorstadt ein junges Menschenkind in das Leben hinein, und die holdseligste Mutter beugte sich über das kleine Gesichtchen, das Kind anlächelnd, als sei es auf die Welt gekommen, die Menschen zu erlösen.

Die Mutter hatte es erlöst! Tanias ganzer Jammer war verschwunden, vor dem Blick ihres Kindes vergangen, wie Reif am Sonnenschein. Nun konnte sie ihr Kind an der Brust halten und darüber ihre Lieder raunen, bis die Augen ihres Lieblings sich schlossen. Wie eine lange, bange Winternacht lag das vergangene Jahr hinter ihr, wie ein ewiger strahlender Sommertag lag vor ihr die Zukunft, darin ihr Kind sie anlächeln würde.

Es war ein Knabe. Wladimir Wassilitsch war ein Sohn geboren worden! Wie im Traum ging er umher, alle Dinge schienen ihm verändert, das ganze Leben hatte für ihn eine andere Gestalt gewonnen. Wieder erwachten Empfindungen in ihm, von denen dieser Terrorist nichts geahnt hatte, gegen welche er vergebens ankämpfte. Er, der bisher in allen klaren Augenblicken immer nur an »die Sache« gedacht, konnte seine Gedanken jetzt nicht mehr von einem Wesen hinwegbringen, so klein und winzig, daß er es mit seinen Händen hätte bedecken können, mit einem so schwachen Lebensfunken in sich, daß jeder rauhe Windhauch denselben auszulöschen vermocht hätte. Schon bei dem Gedanken an eine solche Möglichkeit wurde der Vater von einer wahren Todesangst ergriffen, als ob mit dem einen Leben das Leben der ganzen Welt vertilgt werden sollte. Er hatte wieder Nächte, in denen er, an das Kind und die Zukunft des Kindes denkend, kein Auge schloß, wo er im Bette aufrecht saß, angstvoll lauschend, ob nebenan in der Kammer alles ruhig blieb. Während dieser Mann mit kaltem Blute daran dachte, Hunderte von Menschenleben zu vernichten, klopfte ihm ängstlich das Herz, wenn in der Kammer sein kleiner Sohn schrie.

Am Tage war es fast noch ärger. Wladimir mußte den größten Teil desselben außer dem Hause zubringen, in einer Tätigkeit, die alle seine Kräfte in Anspruch nahm. Mit den Verschwörern von ganz Rußland stand er in unausgesetzter Verbindung, hier einen Putsch vorbereitend, dort ein Attentat arrangierend; dazwischen schrieb er Pamphlete, diktierte Aufrufe an das Volk, richtete Drohbriefe an die Regierung; alles, was er sann und dachte, was er tat und trieb, war voller Blutgeruch, und durch alles klang das Lallen seines Kindes. In sein Leben war ein Wechseln von Empfindungen getreten, von Haß zu Liebe, von Härte zu Weichheit, so daß sein Gemüt unter den heftigsten Erregungen hin und her schwankte. Es kamen Stunden, in denen er wieder begann, seine alten Theorien auszuspinnen, daß der Mensch nichts lieben sollte, nichts als seine Ideen, diese einzig wahrhaft edlen Leidenschaften, denen er alles opfern müsse: Häuslichkeit und Heimat, Weib und Kind, das eigene Wohl und die eigene Glückseligkeit. Je schwächer er sich Tania und seinem Sohne gegenüber fühlte, desto mehr versuchte er mit dem ganzen Raffinement des Selbstquälers sich gegen sie zu verhärten.

Aber in seiner Handlungsweise zeigten sich bereits große Inkonsequenzen. Er war ein Todfeind des christlichen Glaubens; und obgleich er wohl wußte, daß es ihm nicht gelungen war, Tania auch nur mit einem Gedanken von Gott abwendig zu machen, obgleich er wußte, daß sie sich, wie früher in ihrem Jammer, so jetzt in ihrem Glück in die Mysterien des Glaubens versenkte, fand er dennoch nicht mehr den Mut, sie von Gott hinwegzureißen. So duldete er auch, daß über dem Lager seines Sohnes ein Heiligenbild hing, daß Tania über ihrem Kinde die heiligen Zeichen machte und an seinem Bette inbrünstig betete. Ja, als er eines Tages seinen Knaben küssen wollte und auf der Brust an einer Schnur ein kleines silbernes Muttergottesbild entdeckte, tat er, als wenn er es nicht gesehen hätte. Wie ward Tania, die zitternd, gleich einer ertappten Sünderin, daneben stand, als Wladimir ihr den Knaben sanft in den Arm legte und schweigend das Zimmer verließ. Sie warf sich an der Wiege auf die Knie nieder, betete, weinte und dankte dem Himmel, denn sie war auf einmal der Zuversicht geworden, daß Wladimir in seinem Herzen wieder zum Glauben zurückgekehrt sei. Fortan ging sie jeden Tag nach Moskau in die Kirche, brachte der Himmelsmutter geweihte Kerzen dar und ergoß sich in glühenden Lobpreisungen für das Wunder, das in der Seele des Vaters ihres Kindes geschehen war.

Und seltsam, höchst seltsam! War Wladimir jetzt mit seinen Mordplänen beschäftigt und dachte er dabei seines Knaben, so war es ihm eine Beruhigung zu wissen, daß die Mutter für sein Kind betete.

Was aber war die Wonne Tanias, was das heimliche Glück Wladimirs über die Geburt des Kindes, verglichen mit dem Stolz Coljas! Colja ging mit einem Gesicht umher, als ob er der Vater wäre, und wurde fast hochmütig. Natürlich war es bei ihm eine ausgemachte Sache, daß niemals, solange die Welt bestand, ein solches Kind geboren worden, niemals, solange die Welt bestehen würde, wieder ein solches Kind geboren werden könnte. Wenn er in die Nähe des kleinen Wesens kam, ging er auf den Zehen. Niemals hatte er gewagt, in der Gegenwart des Wunderknaben ein lautes Wort zu sprechen; in der Kirche sprach man auch nicht! Und wo Tania mit dem Kinde weilte, da waren für Colja alle himmlischen Heerscharen versammelt. Am liebsten hätte er getan wie einer der heiligen drei Könige aus dem Morgenlande und das göttliche Kind angebetet. Seine Begeisterung für dieses Kind kannte keine Grenzen. Diese Händchen, diese Füßchen, dieses Gesichtchen – es war nicht zu glauben! Und was es für ein Stimmchen hatte; wie fein und zugleich wie kräftig! Durch das ganze Haus war sein Schreien zu hören und Colja lauschte darauf, als ob er ein Orakel vernähme. Es war gar nichts mehr mit ihm anzufangen. Er schien die Absicht zu haben, von jetzt an sein Leben lang nichts anderes mehr zu tun, als das Kind anzustaunen. Unsäglichen Kummer bereitete es ihm, als einmal das kleine Wesen bei dem Anblick seines bärtigen Gesichts jämmerlich zu schreien anfing. Ganz entsetzt über sich selbst, mit Tränen in den Augen schlich er davon und blieb den ganzen Tag über niedergeschlagen. Aber dann welches Glück, als Tania ihn später herbeirief, das Händchen ihres Sohnes nahm und mit diesem Colja durch den struppigen Bart fuhr; welche Wonne, als das kleine Dingelchen ganz herzhaft zugriff, ganz tüchtig packte und zerrte; etwas so Wundersames war Colja in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Er wurde jetzt sogar auf seinen Bart stolz und hätte jeden als Feind betrachtet, der diese höchste Zierde seiner Person nicht anerkannt haben würde. Ganz empört war er, daß es Winter war und er für das Kind keine Blumen schaffen konnte, oder Himbeeren, oder Vogeleier. Er nahm es für eine persönliche Beleidigung des Himmels gegen sich und sann Tag und Nacht darüber nach, womit er dem Kinde wohl Freude machen könnte. Nur um seinem mächtigen Liebesdrang Genüge zu leisten, verfertigte er, denn es war ja Winter, aus Birkenholz einen kleinen Schlitten mit höchst kunstreichen Schnitzereien, die er gelb und blau bemalte. Es ward ein wahres Wunder von Schlitten, aber für das wundervolle Kind lange nicht wunderschön genug! Colja lief hinaus in die winterliche Steppe und kam nicht eher zurück, als bis er einen prächtigen Fuchs gefangen hatte, dessen Fell er abzog, um daraus für das Kind eine Decke zu verfertigen. In dem Zimmer, darin früher Wladimir und Sascha schliefen, wohnte jetzt Natalia Arkadiewna und wurde von Tania auf das Zärtlichste gepflegt. Das Leben dieser jungen Fanatikerin zählte nach menschlicher Berechnung nur noch nach Tagen; aber mit ihrem gewaltigen Willen hielt sie es fest, sie wollte nicht sterben. Nicht eher, als bis für die »Sache« etwas Gewaltiges geschehen war, als bis die Nihilisten etwas Großes vollbracht hatten. Man mußte sie von allem, was vorfiel, genau unterrichten, und in ihrem Zimmer, an ihrem Bette, das sie nur selten verlassen konnte, wurde die Verschwörung gegen das Leben des Zaren organisiert. Angefeuert durch die dämonische Leidenschaft der Sterbenden, die mit schwacher Stimme glühende Reden hielt, den Terrorismus in wahren Dithyramben pries und prophetische Worte raunte, hielt das Komitee seine Beratungen. Wladimir war viel um sie, denn er bedurfte ihrer; er fühlte, wie sie Geist war von seinem Geiste, Seele von seiner Seele. Alles besprach er mit ihr, nur nicht, was Tania und das Kind anbetraf. Aber Natalia erkannte den Zwiespalt in seiner Natur und sah die Möglichkeit, daß er, der ihr Held war, sich und seinem Lebensideal treulos werden könnte aus Leidenschaft für seine Geliebte und aus Liebe zu seinem Sohne. Mit allen Kräften drängte sie ihn daher zu neuen Taten, unablässig bemüht, die Flamme seines Fanatismus zu schüren und ihn die Zukunft des russischen Volkes in leuchtenden Bildern sehen zu lassen. Sie schilderte ihm die Wonne eines Märtyrertums und gelobte, sich mit ihm einkerkern zu lassen, mit ihm nach Sibirien zu wandern, auf das Blutgerüst zu steigen. Wenn er sie so reden, mit ihrem Totengesicht solche Zukunftspläne machen hörte, packte ihn Grausen. Sie fühlte das und sagte mit einem Lächeln: »Ich schwöre dir zu, daß ich mein Gelübde halten werde, denn etwas in mir ist stärker als der Tod. Ich werde leben bleiben und ich werde dir folgen, wohin es auch sei.«

Und in der Tat schien sie sich noch einmal zu erholen. Sie begann ihr Bett zu verlassen und erzwang es, jeden Tag länger aufzubleiben. Sie wußte es durchzusetzen, daß man ihr bei dem Moskauer Putsch eine Rolle zuwies. Mit Wladimir zusammen wollte sie die Mine, die den Palast Petrowsky in die Luft sprengen sollte, anstecken; und als man anfing zu befürchten, daß der Stollen, den Sascha mit Hilfe Coljas des Nachts grub, sich mit Wasser füllen würde und infolgedessen der Schwefelfaden versagen könnte, war es Natalia, die das Entzünden der Mine mittels einer Lunte vorschlug. Natürlich wurden alle diese Pläne vor Tania geheimgehalten.


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