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Siebentes Kapitel

Anna Pawlowna erwachte aus schwerem, traumlosem Schlaf mit einer Empfindung, als ob es besser für sie wäre, es bliebe immer Nacht und sie brauchte sich nicht mehr zu regen. Sie schloß die Augen wieder, lag lange Zeit, ohne eine Bewegung zu tun, und versuchte, sich über ihren Zustand Klarheit zu verschaffen. – – Was war geschehen? Sie hatte sich hingegeben, aus Liebe, sich selber zur Sühne und Läuterung. Sie wollte ein neues Dasein beginnen. Als die Geliebte dieses Bauernsohns, vereint mit ihm und den Seinen, wollte sie helfen, Gesellschaft und Regierung zu stürzen und das Volk auf den Thron der Menschheit heben, das nach Branntwein und Schweiß stinkende russische Volk!

War sie von Sinnen? Und wenn sie es war, so wollte sie von Sinnen bleiben; bleiben mußte sie es, sonst – –

Bei dem Sonst standen ihre Gedanken still.

Sie erhob sich endlich, wie mit gelähmten Gliedern, ohne nach der Kammerfrau zu läuten. Auch konnte sie sich nicht entschließen, den Vorhang vom Fenster zu ziehen und in das Tageslicht zu schauen. Bei der Dämmerung, die in dem Gemach herrschte, kleidete sie sich an, langsam und mühsam. Als sie fertig war, löste sie ihr langes, prachtvolles Haar, trat vor den Spiegel und schaute hinein, das schattenhafte Bildnis ihrer Schönheit, welches sie im Glase sah, mit Augen betrachtend, als erblickte sie es zum erstenmal. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich von ihrem Spiegelbilde ab, schritt zum Fenster, öffnete die Vorhänge, um sogleich vor der blendenden Helle das Gesicht mit beiden Händen zu schützen. Dann ließ sie die Arme sinken und stand da in dem vollen Glanz des Tages, die ganze Gestalt von Strahlen umleuchtet.

Ohne etwas zu genießen und die Kammerfrau hinwegwinkend, begab sie sich hinaus in den Garten, und schlug denselben Weg ein, den sie im Morgengrauen mit Sascha gegangen war. Sie sah auf dem weichen Boden ihrer beider Fußstapfen. Neben dem Abdruck der zierlichsten Pariser Stiefeletten der plumpe große Schuh des Mannes aus Eskowo. Sie dachte: Welche Gegensätze!

Nun bemühte sie sich, jedes Wort, welches er und welches sie selbst auf diesem Wege gesprochen, sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie hatte sterben wollen, nachdem sie eine Stunde an der Brust dieses Mannes gelebt hatte. Wie war das möglich? Und es war noch dazu ihr heiliger Ernst gewesen. Immerhin; sie liebte ihn. Sie hatte es ihm gestanden, ihm zugerufen, zugejubelt: Ich liebe dich! Und er – – Wütende Leidenschaft hatte auch ihn ergriffen, nachdem er über den Fall seines Ideals heiße Tränen vergossen, nachdem für ihn die Göttin gestorben war. Jetzt war sie selbst für diesen Schwärmer nur noch ein Weib.

Von ihren Gedanken getrieben, eilte sie wieder ins Haus zurück, rief der Kammerfrau und befahl den Wagen für den nächsten Zug, der nach Moskau ging. Nachdem sie das getan, atmete sie auf. Aber sie vermochte kaum zu erwarten, bis es so weit war, daß sie abreisen konnte, und wäre am liebsten zu Fuß nach dem Bahnhof gegangen. Um mit der Zeit fertig zu werden, kleidete sie sich mit Hilfe der Kammerfrau noch einmal von Kopf bis zu Füßen um und wählte ein Kostüm, in dem Sascha sie noch nicht gesehen hatte.

Wie Beruhigung kam es über sie, als sie im Zuge saß; doch als der Zug hielt und sie in Moskau aussteigen mußte, ward sie von neuem von Unruhe erfaßt. Gewiß war Sascha auf dem Bahnhof, um sie zu empfangen. Sie zitterte. Wenn er nun plötzlich auf sie zugeeilt kam und sie mit Jubel begrüßte. Wie schrecklich! Aber er würde es nicht wagen, er würde von ferne stehen und sie mit seinen Blicken verschlingen. Sie zog den Schleier vor das Gesicht und begab sich, um möglichst schnell hinauszugelangen, in das Gewühl der Angekommenen. Sie blickte erst auf, als sie in ihrem schönen Landauer saß und durch die Straßen Moskaus rollte. Die Menschenmenge und der betäubende Lärm der großen Stadt taten ihr gut, und sie fühlte beim Anblick der prächtigen Basare und Kaufläden, der eleganten Fuhrwerke und Spaziergänger ein Behagen, welches ihr eine vollständig neue Empfindung gab. Sie grüßte verschiedene Bekannte, und ihr Gruß war lange nicht so müde und apathisch wie sonst; überhaupt war ihr, als käme sie nach langer Abwesenheit zurück und hätte die Zeit, die sie fort gewesen, in tiefster Einsamkeit und Öde verbracht.

Vor ihrem Palast angekommen, ließ sie den Wagen warten und begab sich in ihre Gemächer. Sie kam durch den kleinen Salon mit dem goldenen Blumengitter und dem Friese – der Triumphzug der Venus, eine Allegorie ihrer Persönlichkeit: Anna Pawlowna als Göttin der Liebe! Und sie ging unter dem Bilde vorbei, als ob die Augen von Tausenden auf sie gerichtet wären, sie vor den Augen von Tausenden nackt dastünde.

Eine große Anzahl von Besuchern war während ihrer Abwesenheit dagewesen; die silberne Schale füllten Visitenkarten und ihren Schreibtisch bedeckten Briefe und Einladungen. Der Prinz hatte geschrieben. Anna Pawlowna riß das nach Veilchen duftende Billett auf und überflog mit einem Blick die flüchtigen, eleganten Schriftzüge. Die Reise des Zaren nach Moskau realisierte sich mehr und mehr. Also wirklich – –

Wer alles war dagewesen? – Die halbe Welt, wie es schien. Aus Neugierde waren sie gekommen, ob die Prinzessin noch immer nicht zurück sei. Nein, noch immer nicht. Wie sonderbar, um diese Jahreszeit die Stadt zu verlassen! Natürlich war die »Kaprice« der Prinzessin bereits in aller Mund. Was kümmerte es sie? Es war wenigstens taktvoll, daß man sie auf ihrem Landsitz unbelästigt gelassen hatte.

Von dem Kammerdiener erfuhr sie, daß Boris Alexeiwitsch jeden Tag dagewesen sei.

»Aber sagten Sie ihm denn nicht, wo ich war?«

Der Kammerdiener hatte es Boris Alexeiwitsch mitgeteilt, aber Boris Alexeiwitsch hatte jeden Tag der Bäuerin Wera Iwanowna seinen Besuch gemacht. Die Prinzessin wollte auffahren, biß sich auf die Lippen und schwieg. Was ging sie Boris Alexeiwitsch und seine Passion für Wera Iwanowna an? Also deshalb hatte er nicht einmal den Versuch gemacht, sie auf dem Lande zu besuchen. Sie hatte es eigentlich erwartet – es gefürchtet und den Befehl gegeben, daß sie für ihn nicht zu sprechen sei. Sascha sollte sich von diesem Manne nicht hochmütig behandeln lassen; sie wollte es nicht dulden. Ihre Besorgnis war unnütz gewesen, Boris Alexeiwitsch war gar nicht gekommen, Boris Alexeiwitsch hatte in Moskau anderes zu tun gehabt.

»Es ist gut. – – Worauf warten Sie?«

»Wladimir Wassilitsch hat diesen Brief abgegeben.«

»Legen Sie hin. Was ist noch?«

»Der Student Alexander Dimitritsch – –«

»Wie?«

»Er hat heute dreimal nach Durchlaucht gefragt.«

»Sollte er wiederkommen, so – – Aber nein, ich muß ausfahren. Ich bin heute für niemand zu sprechen; hören Sie wohl, für niemanden.«

Der Kammerdiener ging, Anna Pawlowna blieb allein. Sie stand mitten im Zimmer, sah steif vor sich nieder, wobei ihr schönes Gesicht mehr und mehr etwas Starres und Entgeistertes annahm. Dann entriß sie sich ihren Gedanken und las den Brief, den Wladimir Wassilitsch für sie abgegeben. Er enthielt nur die Notiz, daß am Abend im Gärtnerhause eine Beratung stattfände, zu welcher die Prinzessin erwartet würde, es handele sich um wichtige Dinge.

Nachdem Anna Pawlowna gelesen, zündete sie ein Licht an und verbrannte das Schreiben zu Asche; darauf ließ sie den Wagen vorfahren und machte bis zum Abend Besuche.

Sascha befand sich in einem unsagbaren Zustande.

Als er mit dem Frühzug in Moskau ankam und ausstieg, wußte er zuerst gar nicht, was er mit sich und seinem Leben zunächst anfangen sollte. Er ließ sich auf dem Bahnhof herumstoßen und anschreien, stand unter den Menschen und schaute mit leerem Blick auf das Gewühl. Man hielt ihn für betrunken und riet ihm lachend, sich nach Hause zu begeben, sich ins Bett zu legen und seinen Rausch auszuschlafen. Endlich ging er.

Aber wohin.

Nach Hause? Dort war Marja Carlowna.

Also dann nach dem Gärtnerhäuschen. Dort war Wladimir Wassilitsch, der ihn mit spöttischem Lächeln begrüßen würde, worauf es ein Unglück geben mußte. Er konnte sich heimlich in sein Laboratorium oder in die Druckerei schleichen. Aber jetzt Dynamit verfertigen, jetzt Reden an das russische Volk drucken, wo für ihn die Welt neuerschaffen schien, für ihn auf der ganzen Welt nur ein Menschenpaar war: Die Prinzessin Anna Pawlowna und der Bauernsohn Alexander Dimitritsch. Die Küsse dieses einen einzigen Weibes brannten auf seinen Lippen wie Flammen, die ihm die Seele verzehrten, seine Adern mit Feuerströmen füllten, aus seinen Augen als Fieberglut loderten.

Er ging weder nach der Teeschenke noch begab er sich in die Vorstadt, sondern geradeswegs zum Palast Petrowsky.

Natürlich war sie nicht da. Wie wäre das möglich gewesen? Er hatte sie in der Villa verlassen. Doch war sie immerhin in diesem Hause gewesen und würde heute wieder da sein, um ihn zu sehen, ihn allein! um sich von ihm küssen zu lassen, von ihm allein! Sascha erbebte und blickte scheu auf die ihm Begegnenden, ob nicht alle auf ihn sähen, nicht alle ihm von der Stirn abläsen: das ist der Liebhaber Anna Pawlownas! Ist es möglich? Dieser grobe Bursche, dieser Nihilist, dieser Sohn eines geknuteten Bauern? Er war's! Nicht nur ihr Liebhaber, sondern ihr Knecht, ihr Sklave, ihr Ding.

Und er wunderte sich, daß die Leute so gleichgültig an ihm vorübergingen. Ja, dachte er, wenn ihr wüßtet; ihr würdet Augen machen.

Er verbrachte den Morgen dem Palast Petrowsky gegenüber, vor der in Restauration begriffenen Kirche, an derselben Stelle, wo er so manche halbe Nacht gestanden und kein Auge von dem Tempel gewendet, der seine Göttin umschloß. Und jetzt! Wäre sie dagewesen, so würde er zu ihr gegangen sein, die mit Teppichen belegte Marmortreppe hinauf, in ihre prächtigen Gemächer hinein. Er brauchte nur zu wollen und die Diener, die ihn mit tiefster Verachtung behandelten, bückten sich vor ihm bis zum Boden; nur zu wollen brauchte er und es erfuhr alle Welt, daß sie ihn liebte, daß sie sein war. Wenn er es so recht bedachte, wirbelte es in seinem Kopf, daß der Boden um ihn zu kreisen begann. Aber es war gar nicht zu denken – gar nicht auszudenken! So etwas war auf der Welt noch nicht dagewesen; eine wirkliche Prinzessin und der Sohn eines wirklichen Bauern!

Nachdem er sich lange genug vor dem Palast herumgetrieben, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, hinzugehen und den Portier zu fragen, ob Anna Pawlowna zu Hause und zu sprechen wäre? Als er ihren Namen sagen wollte, schnürte es ihm fast die Kehle zu; doch brachte er das Wort glücklich heraus, und hatte seine stille Freude daran, wie grob der vornehme Türhüter ihn anfuhr. Anna Pawlowna sei nicht zu sprechen. Sascha entschuldigte sich höflich, dankte, begab sich wieder auf die andere Seite der Straße hinüber und setzte sein Wächteramt fort.

Dann sah er Boris Alexeiwitsch herangeschlendert kommen, schön, elegant, ein Herrchen wie aus Marzipan. Boris Alexeiwitsch ging in den Palast, ohne den sich bis auf den Boden verneigenden Wortschick eines Blickes zu würdigen. Sascha dachte: Der begibt sich jetzt zu Wera Iwanowna. Und plötzlich fühlte er einen Schmerz, als ob an seinem Herzen gerissen würde. Aber, beruhigte er sich, Wera Iwanowna ist stolz; Wera Iwanowna ist stark. Boris Alexeiwitsch wird sich wundern. Und wenn er erst wüßte – – Doch das würde er nicht glauben; das ganz sicher nicht! Wie könnte er auch? Er würde wütend sein. Wera Iwanowna wies ihn, Boris Alexeiwitsch, zurück und Anna Pawlowna – – Rasen würde er. Es war seine Cousine und er bewunderte sie ungemein – natürlich.

Sascha wurde unruhig. Er begab sich hinweg, irrte durch die Straßen, immerfort an Boris Alexeiwitsch denkend und daß dieser Anna Pawlowna natürlich auf das höchste bewunderte. Und Anna Pawlowna? Sie verachtete ihn. Das war ein Trost. Wenn er nur nicht ein gar so seines, schönes, duftendes, freches Herrchen gewesen wäre. Aber sie verachtete ihn ja!

Er machte kehrt; fast, daß er lief. Atemlos kam er beim Palast an.

Ob Anna Pawlowna noch immer nicht zurück, noch immer nicht zu sprechen wäre? Der Wortschick jagte ihn fort, und als er nach einer Weile zum drittenmal kam, hätte er mit seinem langen Stock fast nach Sascha geschlagen.

Nun ging er nach der Teeschenke, allen seinen Mut zusammennehmend, um Marja Carlowna in die Augen zu sehen. Die schöne Wirtin, die seit jener Nacht in ihrem Wesen gegen ihn eine Scheu und eine Demut zeigte, welche Sascha höchst peinlich waren, teilte ihm mit, daß Wladimir Wassilitsch nach ihm gefragt und die Botschaft hinterlassen habe, er möge sich am Abend bei ihm einfinden.

Das wird wieder etwas Rechtes sein, dachte Sascha. Wir werden schwatzen und schwatzen und unterdessen wartet Anna Pawlowna auf mich. Welche Torheit!


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