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Zehntes Kapitel.

Natalia Arkadiewna konnte sich nicht entschließen, zu Bette zu gehen; ihre Gedanken waren ohne Unterlaß bei ihrem Vater.

Was wird er tun? dachte sie. Um mir einen Vatermord zu ersparen, hat er seine Pflicht verletzt. Das erträgt er nicht. Er ist nicht wie die anderen Beamten Rußlands. Ich liebe ihn, ich bewundere ihn! Trotzdem konnte ich mein Pistol auf ihn richten, trotzdem hätte ich losgedrückt; denn mehr als sein Leben gilt mir die Sache. Auch ich hatte eine Pflicht zu erfüllen.

Aber je mehr sie ihre Handlungsweise vor sich selbst zu begründen suchte, um so angstvoller ward ihr zumute. Ihres Vaters letzter, verzweiflungsvoller Blick verfolgte sie unablässig. Endlich hielt sie es nicht länger aus. Sie warf einen Mantel über, verließ das Zimmer und weckte den Wortschick, der ihr das Haus öffnen mußte. Fast laufend eilte sie die Straßen dahin; nach der Roschdestwenka, wo das Hotel Andrewja lag. Mit jedem Schritte steigerte sich ihre Bangigkeit.

Er wird etwas tun, tun muß er etwas. Aber was, was? Etwas Fürchterliches!

Sie nahm sich vor, zu warten, bis es Tag geworden, bis ihr Vater heraustreten würde, und ihn dann anzuflehen. Aber um was anzuflehen? Daß er das Fürchterliche nicht tun sollte.

Atemlos, zum Tod erschöpft erreichte sie das Hotel. In einem Zimmer des zweiten Stockes brannte noch Licht. Dort mußte ihr Vater sein. Auch er schlief sicher noch nicht. Wie konnte er schlafen, mit jenem entsetzlichen Bilde in seiner Seele; seine Tochter stand vor ihm und zielte nach seinem Herzen! Der schwache Schein, der von oben auf die Straße herab fiel, war Natalia wie ein Stück von dem Leben ihres Vaters selbst. Nach und nach wurde sie ruhiger. Seltsame Gedanken, Erinnerungen aus der Kinderzeit stiegen in ihr auf. Wie lange hatte sie nicht daran zurückgedacht. Sie entsann sich der freudigen Aufregung, die sich jeden Morgen ihrer bemächtigte, wenn ihre Wärterin sie zum Vater brachte. Wie gütig war er stets gegen sie gewesen! Seine Augen hatten aufgeleuchtet, wenn das kleine, zierliche Wesen ins Zimmer getrippelt kam, um sich ihm ungestüm an den Hals zu werfen. Als sie größer wurde, kümmerte er sich weniger um sie; aber sie fühlte, daß sie zärtlichst von ihm geliebt wurde, daß es dem ernsten, strengen Manne freier ums Herz ward, wenn sie zu ihm kam, daß sie sein Bestes und Teuerstes war. Später lebte sie gedankenlos hin, bis sie so furchtbar aufgeweckt wurde. Sie hatte damals eine Unterredung mit ihrem Vater, nur eine einzige. Was war das für eine Stunde! Er war mild und gütig, er bat sie, er weinte um sie. Aber nichts konnte sie rühren, sie blieb starr. Das gedankenlose, leichtlebige, sonnige Geschöpf verwandelte sich in wenigen Tagen in ein düsteres, fanatisches Wesen, das ohne eine Träne von Vater und Mutter schied, um als Verkünderin des Heils der Freiheit und Gleichheit unter das Volk zu gehen. Ohne zurückzublicken, setzte sie ihren Weg fort, bis zu dem Augenblick, da sie mit erhobener Waffe ihrem Vater gegenüberstand. Und auch jetzt wollte sie nicht zurück.

Hinter den niedergelassenen Vorhängen des erleuchteten Zimmers, darin sie ihren Vater vermutete, zeigte sich ein Schatten.

Natalia hielt den Atem an: wenn er den Vorhang öffnen, wenn er sie sehen würde – –

»Vater!« rief sie laut.

Aber er hörte nicht. Der Schatten oben verschwand.

Es war besser so. Am besten war es, sie ging wieder fort. Was hätte sie ihm auch sagen können? Geschehen war geschehen. Sie würde leben müssen, mit dem letzten Blick ihres Vaters in ihrer Seele und leben müssen würde ihr Vater, mit dem Bewußtsein, um seiner Tochter willen seine Pflicht verletzt zu haben, er, dieser Mann und Beamte von Ehre.

Langsam wandte sie sich, ging einige Schritte, Plötzlich blieb sie stehen, zitternd am ganzen Leibe und von Grausen gepackt.

Sie hatte einen Schuß gehört.

Es war nur ein dumpfer Ton gewesen, den sie vernommen. Aber sie wußte, daß es ein Schuß war, ein Schuß, der oben in jenem Zimmer gefallen, darin das Licht ruhig fortbrannte; sie wußte plötzlich, womit ihr Vater die Übertretung seiner Pflicht bezahlt und sein Verbrechen gesühnt hatte. Sie wußte, daß er in diesem Augenblick dort oben am Boden lag; mit zerschmettertem Haupte hauchte er seinen letzten Seufzer aus, wand sich vielleicht in gräßlichen Qualen – vielleicht noch lebend! Sie stürzte die Straße zurück, taumelte gegen die Tür, riß an der Nachtglocke.

Endlich wurde geöffnet.

Der verschlafene Portier prallte bei ihrem Anblick zurück; er mochte sie für eine Wahnsinnige halten.

»Hier wohnt – –« Aber sie konnte sich nicht auf den Namen besinnen, unter dem, wie Wladimir ihr gesagt hatte, ihr Vater in Moskau auftrat.

»Hier wohnt ein Herr aus Petersburg – –«

»Hier wohnen viele Herren aus Petersburg.«

»Der Geheime Staatsrat Arkad Danilitsch Niklakow.«

»Der wohnt nicht hier.«

»Doch! In der zweiten Etage.«

»Machen Sie, daß Sie fortkommen.«

»In der zweiten Etage hat sich soeben jemand erschossen.«

»Sie sind verrückt! Scheren Sie sich hinaus.«

Da sie nicht gehen wollte, packte sie der Mann, stieß sie auf die Straße und schloß hinter ihr zu. Sie warf sich gegen die Tür, pochte und schrie, bis zwei Polizisten kamen und sie festnahmen.

Sie sagte den Männern, daß sie die Tochter des Geheimen Staatsrats Arkad Danilitsch Niklakow aus Petersburg wäre und daß ihr Vater sich soeben im Hotel erschossen hätte. Man glaubte ihr nicht und führte sie schließlich mit Gewalt fort, nach dem Polizeilokal, wo sie mit aufgegriffenen Dirnen zusammen in ein abscheuliches Gelaß gesteckt wurde.

Unter Qualen verstrich Stunde auf Stunde. Als der Tag graute, erwachten die Gefangenen und fingen an, sich miteinander zu unterhalten. Natalia lag auf ihrer Pritsche, mußte alles mitanhören und dachte, wie nun der Morgen durch die geschlossenen Vorhänge auch in das Zimmer dämmerte, darin der blutige Tote lag. Die verglasten Augen hatte er weit offen, mit demselben Blick, mit dem er sie gestern zum letztenmal angesehen. Jetzt wußte sie, daß dieser Blick ihr sagen sollte: Ich nehme die Todsünde von dir und begehe sie selber – statt deiner, für dich!

Bei den religiösen Ansichten des Staatsrats war der Selbstmord eine Tat, für die es keine Vergebung gab. Dennoch hatte er sie begangen, um ihretwillen.

Als das Haftlokal geöffnet wurde, durften die meisten frei fortgehen. Neue Gefangene kamen hinzu, und von diesen schändlichen Lippen erfuhr Natalia den Vorfall der letzten Nacht. Im Hotel Andrejew hatte der Geheime Staatsrat Arkad Danilitsch Niklakow sich das Leben genommen. Einige behaupteten, er wäre von den Nihilisten erschossen worden und zwar von einer Frau, die sich für seine Tochter ausgegeben, in der Nacht zu ihm gedrungen war und ihn niedergeschossen hatte. Sie sei bereits gefangen und der Tat geständig. Natalia vernahm ausführlich, in welchem Zustand man den Toten gefunden und daß er wahrscheinlich bis zum Morgen gelebt hatte. Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht aufzuspringen und zu rufen: »Ich bin seine Tochter, ich habe ihn umgebracht!«

Der Tod des Staatsrats erregte im Gefängnis einen wahren Rausch des Entzückens. Man pries die Mörderin, man klagte um sie. Natalia kam dem Wahnsinn nahe. Was diese Diebinnen und Prostituierten aussprachen, waren ihre eigenen Überzeugungen, waren dieselben Theorien, die sie hundertmal dem Volke gepredigt hatte, fast mit denselben Worten. Sie konnte auch jetzt nichts davon widerrufen, blieb auch jetzt ihrem Standpunkt getreu; aber, daß dieser blutig Gestorbene gerade ihr Vater war, daß dessen Tod gerade von solchen Lippen so wild bejubelt ward, erschien ihr wie eine wüste Fieberphantasie.

Dann führte man sie zum Verhör. Sie sagte aus, was sie bereits ausgesagt hatte, daß sie die Tochter des Staatsrats sei, daß sie gestern nacht die Ankunft ihres Vaters erfahren, diesen trotz der späten Stunde hatte aufsuchen wollen und auf der Straße den Schuß gehört habe. Man stellte sie dem Portier des Hotels gegenüber, der sie sogleich erkannte und ihre Aussage bekräftigte; mittags kam Anna Pawlowna und bewirkte ihre sofortige Freilassung.

Anna Pawlowna war heftig erschüttert. Sie teilte Natalia mit, daß gleich nach dem Selbstmorde ihres Vaters das Haus in der Preobraschenskaja-Vorstadt durchsucht worden sei; doch habe man nur Tania und Colja gefunden und kein einziges kompromittierendes Schriftstück, Die Waffen und die Flasche mit Nitroglyzerin seien noch in der Nacht von Wladimir und Colja in die Druckerei geschafft worden, darin sich Wladimir verborgen halte, in der Gewißheit, daß demnächst die Haussuchung wiederholt werden würde.

»Hat mein Vater nichts hinterlassen? Hat er nichts aufgeschrieben? Kein Wort für mich?«

»Man hat nichts gefunden.«

»Weiß es meine Mutter bereits?«

»Ich habe ihr telegraphiert.«

»Gleich die volle Wahrheit?«

»Ich habe sie auf die volle Wahrheit vorbereitet.«

»Sie wird den Tod davon haben! Wir töten unsere Väter und Mütter. So sagte mir auch mein Vater.«

»Grüble nicht darüber nach.«

»Was hülfe es auch?«

Zu Hause, in Nataliens Zimmer, fanden sie Wera, totenblaß und tränenlos. Boris war bei ihr, Natalia bat, daß man sie allein lassen möchte.

»Willst du deinen Vater sehen?« fragte Anna Pawlowna.

»Nein. Wann soll er begraben werden?«

»Am Sonntag. Die Stadt bereitet ihm ein fürstliches Leichenbegängnis.«

»Dem Selbstmörder?«

»Man nimmt an, daß er in seinem Berufe gestorben sei, einen Heldentod.«

Natalia winkte, daß sie gehen möchten.

Auch den nächsten Tag ließ sie niemand zu sich; dann erschien sie wieder und nahm, als ob nichts geschehen wäre, ihre Tätigkeit von neuem auf. Sie schickte nach Wladimir Wassilitsch, mit dem sie lange Unterredungen hatte, deren Inhalt für jedermann ein Geheimnis blieb. Mehr als einmal geschah es, daß der junge Terrorist das entstellte Gesicht Natalias mit demselben eigentümlichen Blicke ansah, wie damals nach ihrem Gespräche mit dem Staatsrat. Sein Benehmen gegen die schwer Leidende war auffallend rücksichtsvoll, fast weich und sorgsam.

Der Tag des Begräbnisses kam; halb Moskau war in Bewegung, alle Glocken läuteten. Der Leichenzug, der sich mit glänzendem Pomp durch die Straßen bewegte, wollte kein Ende nehmen. In der Katharinenkirche wurde die Leiche feierlich eingesegnet. Zwischen den Spalieren von Polizisten und Soldaten folgte der höchste Adel dem Sarge. Es wimmelte von Popen, ein Meer von Kerzen erstrahlte, Weihrauch dampfte, und Moskaus Gärten schienen für den Toten allen ihren Blumenschmuck hergegeben zu haben.

In der Nähe des Kirchhofes entstand ein Tumult, Betrunkene beschimpften den Verstorbenen, viele Verhaftungen wurden vorgenommen.

Natalia folgte dem Zuge nicht. Während ihr Vater in die Gruft gesenkt wurde, setzte sie mit Wladimir Wassilitsch das Todesurteil für einen hohen Beamten in Odessa auf, welches diesem von dem Exekutivkomitee zugesendet werden sollte.

So konnte selbst der blutige Leichnam ihres Vaters diese Tochter nicht von dem Wahnsinn heilen, den sie »die Sache« nannte.


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