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Neunzehntes Kapitel.

Wera verließ die Landstraße und ging quer über das brachliegende, verwilderte Land, das ihrer heimatlichen Steppe glich. Dieselben Blumen blühten hier, wie sie um diese Zeit des Jahres in Eskowo blühten. Wera kannte den Namen jeder Blume und ihre Heilkräfte und pflückte mechanisch diejenigen Pflanzen, von denen sie wußte, daß sie für Verwundungen gute Dienste leisteten. Sie dachte an ihren Auftrag und daran, wie sie denselben ausführen sollte.

Man hatte ihr viele Papiere mitgegeben, darunter verschiedentliche Dokumente mit großen, prächtigen Siegeln. Sogar einen kaiserlichen Ukas führte sie bei sich. Ob das alles wahr war?

In diesem Ukas gab der Zar den Bauern die Versicherung seines väterlichen Wohlwollens und gebot ihnen, sich gegen die Gutsbesitzer zu erheben. Das gebot der Zar! Um das Gebot des Zaren dem Volke mitzuteilen, war Wera ausgesendet worden. Würde das Volk dem Gebote des Zaren gehorchen? Das russische Volk liebte seinen Herrscher. Dieser war für das russische Volk das »milde, gute Väterchen«, von dem alle Segnungen ausgingen, eine große, heilige, mystische Persönlichkeit, welche, nicht anders wie die Vorsehung, das Schicksal der Menschen bestimmte und erfüllte. Immer wieder stieß Wera in der Empfindung des russischen Volkes auf die völligste Hingabe an sein Herrscherhaus, auf eine ungeheure, unsterbliche Sehnsucht, seinen Regenten zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Es war dieselbe Sehnsucht, von der sie selber beseelt wurde; und wohin hatte dieser mächtige Drang sie geführt? Vom Volke fort in die Arme eines Boris Alexeiwitsch!

Die Sonne stieg höher und höher. Wera begann müde zu werden und setzte sich unter einem Brombeerstrauch, der voll großer, tiefschwarzer Früchte hing, bei deren Anblick Wera plötzlich fühlte, daß sie Hunger hatte.

So pflückte sie denn von den Beeren und aß. Sogleich nahmen ihre Gedanken eine andere Richtung. Jetzt war Grigor Michailitsch längst wieder zu Hause. Was würde er tun? Vielleicht lag er in diesem Augenblick gerade an der Brust seines Mütterchens, klagend, daß es nun mit allem Leben und allem Glück für ihn vorbei sei. Und sein Mütterchen konnte ihn auch nicht trösten. Er liebte sie, dieser gute, gute Grigor Michailitsch, er hatte sie verehrt, er hätte sie so gerne angebetet – – Jetzt hatte er sich von ihr abgewendet.

Und das war gut so! Wehe ihm, wenn er sie noch immer lieben würde, wehe ihr, wenn sie nicht alles getan hätte, seine Liebe aus seinem Herzen zu reißen, ihn nicht gelehrt hätte, sie zu verachten.

Aber er wollte sein Versprechen halten; und daß er dadurch, gerade dadurch verderben mußte und verloren war, das war es, was Wera um den Verstand zu bringen drohte. Sie würde hingehen müssen, sie würde den Bauern den Ukas des Zaren überbringen, sie zum Aufstande reizen müssen. Sie kam und schwang den Feuerbrand, sie warf die Fackel in das Haus, die Flammen stiegen, loderten, lohten, das Feuer griff um sich, weiter, immer weiter! Sie stand dabei und sah, ohne eine Hand regen zu können, dem von ihr entfachten Brande zu, und ging fort von dem qualmenden Aschenhaufen, um von neuem die Fackel zu schwingen über Schuldige und Unschuldige, bis es auch für sie einmal ein Ende nahm; in den Kerkern Moskaus, in den Bergwerken Sibiriens, auf dem Schafott.

Aber – war der Ukas des Zaren echt?

Sie zog das Schriftstück aus ihrem Kleide. Ein Pergament mit einem goldenen Rand, mit der Unterschrift des Kaisers Alexander des Zweiten und den Siegeln der Kommissare versehen.

So etwas konnte doch wohl nicht gelogen sein? Alle die milden, gütigen und weisen Worte, die der Zar dem russischen Volke sagen ließ, waren in Wirklichkeit von ihm gespendet worden. Sie hielt in der Hand, was von der Person des Zaren ausgegangen war; sie hielt das Glück des russischen Volkes in Händen. Und Wera beugte sich auf das Papier herab, um die Unterschrift des Kaisers zu küssen.

Denn es war wahr! Nicht als Lügnerin und Betrügerin würde sie heute vor die Bauern treten, sondern als eine Abgesandte des Kaisers. Das gab ihr neue Kräfte. Sie las noch einmal sorgfältig ihre Instruktionen durch, dann kniete sie auf freiem Felde nieder und betete, betete, wie sie nie zuvor gebetet hatte.

Bis zum Abend trieb sie sich auf der Steppe umher, fortwährend Dawidkowo im Auge behaltend. Sie gelangte in das Birkenwäldchen, zu dem Lieblingsplatze Grischas, den dieser ihr damals auf ihrem Spaziergange mit so glühenden Farben geschildert hatte. Ihr erster Gedanke war, dem Orte zu entfliehen. Aber sie blieb bis die Nacht einbrach, bis es Zeit war, ihr Vorhaben zu beginnen.

Nun begab sie sich direkt nach dem Dorfe. In die erste Hütte ging sie hinein und fragte nach dem Bauern Timoteus Petrowitsch. Die Leute starrten sie an wie ein wildes Tier; endlich führte die Frau sie zu dem Dorfältesten, den Wera genannt hatte. Aber der Mann war viehisch betrunken, und Wera versuchte vergebens, ihm verständlich zu machen, um was es sich handle. Bei dem Namen des Kaisers schlug der Berauschte das Kreuz und murmelte ein Gebet; darauf brach er in Verwünschungen aus gegen seinen Herrn, weil dieser ihn und die Bauern ins Unglück gestürzt habe, da er ihnen von seinem Lande nur ein Dritteil gab. Es blieb Wera nichts anderes übrig als zu warten, bis der Mann nüchtern geworden. Sie bat also das Weib des Bauern um ein Nachtlager, welches ihr jedoch im Stalle angewiesen wurde. So ging sie hinaus, entschlossen, die Nacht im Freien zu verbringen.

Unwillkürlich richtete sie ihre Schritte nach dem Herrenhause. Wie eine dunkle Mauer stieg der Lindenwald, darin das Häuschen lag, vor ihr auf. Bald gewahrte sie durch die Stämme Licht. Wie gewaltsam angezogen, ging sie näher und näher, bis sie dicht vor dem Fenster stand.

Sie konnte das ganze Zimmer übersehen. Da war der Teetisch mit dem Samowar, da war das Mütterchen und Grischa, Anuschka mußte in der Küche sein. Wie hell und friedlich es drinnen aussah! Aber die Bewohner schienen davon nichts zu fühlen. Sie saßen sich gegenüber und blickten sich an und sagten nichts, denn ihr Leid war zu groß für Worte. Wie alt das Mütterchen erschien! Es waren erst zehn Stunden, daß Wera sie nicht gesehen; aber das Mütterchen war seitdem um zehn Jahre gealtert. Wie lange würde es dauern und jener Mann war allein auf der Welt. Langsam, langsam schlichen für ihn die Tage dahin, einer wie der andere, und immer bohrte der gleiche Schmerz in ihm: du mußt »sie« verachten! Und jetzt glitt das Mütterchen von ihrem Sitz herunter ihrem Sohn zu Füßen, schmiegte sich an seine Knie und streckte ihre zitternden Hände zu ihm auf. Was mochte sie ihm sagen? – – »Dein altes Mütterchen ist bei dir; dein altes Mütterchen liebt dich; bringe dein altes Mütterchen doch nicht in die Grube.« Aber Grischa saß stumm und starr und konnte der alten Frau zu seinen Füßen nicht antworten: »Ich will leben, für dich!«

Wera wich vom Fenster zurück, bis in den Wald hinein. Da stand sie und vermochte sich nicht loszureißen von dem Anblick des Häuschens und des Lichtes. Mitternacht war längst vorüber, als dieses endlich erlosch.

Beim Morgengrauen begab sich Wera in das Haus des Ältesten, weckte den Knecht und schickte ihn zum Bauern, um ihm zu sagen, wer da sei. Es dauerte auch nicht lange, so kam der Gerufene; er war nüchtern, wie es schien. Wera gab sich zu erkennen und wurde von dem Manne sofort ins Haus geführt. Der Bauer schickte sein Weib hinaus, verschloß die Tür, und die beiden besprachen sich miteinander. In der nächsten Nacht wollte der Älteste sämtliche Bauern zusammenberufen auf das Feld, an einen bestimmten Platz. Dort sollte der Ukas vorgelesen und die Leute aufgefordert werden, die Gebote des Zaren zu erfüllen. Nachdem das beschlossen war, nahm Wera Trank und Speise zu sich und hielt sich während des ganzen Tages in der Hütte verborgen. Gegen Abend bat sie ihren Wirt, er möchte zu Grigor Michailitsch gehen und diesen im Namen der Gemeinde nochmals auffordern, seinen Landbesitz Zu verteilen. Der Mann willigte ein und ging, kam aber sehr bald zurück, mit dem Bescheide, daß Grigor Michailitsch von keiner Teilung wissen wollte; sie mußten also den Willen des Zaren gewaltsam durchsetzen.

In der Nacht versammelten sie sich auf einem Hügel mitten in der Steppe. Timoteus Petrowitsch zündete eine Wachskerze an, steckte sie in die Erde, legte daneben das Evangelienbuch und darauf das Kreuz, kniete vor diesen heiligen Gegenständen nieder und las den Bauern den geheimen kaiserlichen Ukas vor. Darin hieß es, daß der Zar seinen Bauern längst den ganzen Grund und Boden zum freien Genuß überlassen und sie von allen Steuern befreit hatte, daß aber die Gutsbesitzer, die Geistlichkeit und die Beamten diesen Ukas vor den Bauern versteckt hielten. Deshalb erlasse der Zar dieses geheime Manifest, auf Grund dessen sich die Bauern im geheimen zu einem Bunde vereinigen, sich Waffen anschaffen und sich gegen die Gutsbesitzer erheben sollten.

Der Inhalt dieser gefälschten Urkunde machte auf die Bauern einen unbeschreiblichen Eindruck. Alle drängten sich zu dem Evangelium hin, legten ihre Hände darauf und gelobten, den Willen des Kaisers zu erfüllen. Nun berichtete Timoteus Petrowitsch, daß von den »Kommissären des Kaisers« allen Bauern in der Umgegend von Moskau heimlich Waffen gebracht worden wären und daß sich auch in Dawidkowo ein Vorrat von Gewehren und Munition befände, den er in dem Birkenwäldchen hätte eingraben lassen. Sogleich brachen die Leute dahin auf. Der Älteste schritt mit dem Evangelienbuche und dem Kreuze voraus, Wera trug neben ihm die Kerze. So bewegte sich, wie eine Prozession, der Zug durch die Nacht über Feld und Steppe dem Walde zu. Timoteus Petrowitsch wies den Bauern den Ort, wo die Waffen verscharrt lagen; man grub sie hervor, verteilte sie und zog darauf, wie man gekommen war, zum Dorf zurück in die Kirche, wo die heiligen Gegenstände feierlich auf den Altar niedergelegt wurden und der Älteste eine Rede hielt. Dann brach die Empörung aus.

Weras Auftrag war erfüllt; sie war gehorsam gewesen. Jetzt galt es zu verhüten, daß sie auch zur Mörderin würde. Es galt, das bedrohte Leben des Gutsherrn zu retten, oder mit ihm zu sterben.

Sie eilte den Rebellen voraus. Ihre Todesangst um Grischa gab ihr ihre ganze Kraft und Entschlossenheit zurück; sie wußte genau, was sie zu tun hatte, daß sie Grischa sagen mußte: Rette dich, fliehe und nimm mich hin! Dem alten, seelenguten Mütterchen würde niemand ein Leids zufügen.

Es war eine dunkle Nacht, kein Stern glänzte am Himmel. Wera stürzte in den schwarzen Wald hinein, rannte gegen die Stämme an, stolperte über die Wurzeln, verlor die Richtung. Das hielt sie auf, Schon vernahm sie hinter sich die Stimmen der Empörer, denen sich auch die Weiber angeschlossen zu haben schienen. Während Wera verzweiflungsvoll vorwärtsdrang, fiel ihr ein, daß sie bei der Verlesung des Ukas unter den Männern auch Mischka gesehen hatte, dessen hübsches Gesicht von fanatischer Leidenschaft entstellt war. Ihr begann zu grausen. Dieser Mischka war der Spielgefährte Grischas gewesen, der Liebling des Mütterchens; auch Grischa liebte ihn und nun war auch dieser dabei, seinen Herrn zu verraten! Wenn Grischa ihn erblickte, es würde sein gütiges Herz wie ein Dolchstoß treffen. Wehe dem russischen Volke, wenn es viele solcher Knechte besaß, die gegen solche Herren die Hände erhoben.

Gott sei Dank; sie hatte einen Vorsprung gewonnen! Sie lief aus dem Wald, sie stürzte zum Hause, das schwarz und tot dalag, sie warf sich gegen die Tür, sie pochte und schrie: »öffnet, öffnet! Um des Himmels willen, öffnet!«

Aber es blieb im Hause dunkel und still. Von neuem vernahm sie die wilden Stimmen der Aufrührer.

»Grigor Michailitsch! Grigor Michailitsch! Ihre Bauern kommen, Sie zu ermorden.«

Kein Ton antwortete ihrem wilden Geschrei.

»Gregor Michailitsch, ich habe die Bauern angestiftet, gegen Sie zu ziehen und Sie zu töten; ich, Wera, die Sie lieben, die sich Ihnen jetzt zu Füßen werfen will. So hören Sie doch! Aus Erbarmen! Grigor Michailitsch – Grischa! Grischa!«

Sie vernahm drinnen ein Geräusch; man hatte sie gehört. Wera warf sich vor der Tür nieder. Wenn er öffnete, sollte er sie vor sich sehen, Zu seinen Füßen. Auf ihren Knien wollte sie ihn um sein Leben bitten.

Aber er öffnete nicht. Und sie kamen!

Grischa hatte seinen Namen rufen hören, hatte Weras Stimme erkannt, hatte verstanden, was sie so fürchterlich schrie. Er befand sich in seinem Zimmer und saß vollständig angekleidet auf seinem Bett. Er war klar bei Gedanken, durchaus ruhig, überlegte und faßte einen Entschluß. Also das Weib, welches für ihn gleich einem leuchtenden Sternbilde gewesen, hatte sich von einem Begehrlichen küssen lassen, war schlecht geworden und gefallen! Also seine Bauern, denen er Wohltaten über Wohltaten erwiesen, kamen, ihn zu töten – –

Ekel ergriff ihn, ein unaussprechlicher Überdruß am Leben, eine unsägliche Verachtung alles dessen, was Mensch war.

Aber sein Mütterchen!

Er konnte seinem Mütterchen nicht helfen; das mußte ein Stärkerer tun als er. Er war ein schwacher, hilfloser Wicht, ein vom Sturm gebrochener Halm, Fort mit ihm!

Immer noch rief sie draußen seinen Namen; voller Verzweiflung, voller Flehen, daß er am Leben bleibe.

Aber er öffnete nicht!

Und jetzt kamen sie, jetzt waren sie da.

Grischa erhob sich. Er wollte zu seinem Mütterchen gehen; sein Mütterchen sollte ihn segnen. Dann war er fertig mit dieser Welt.

Johlend und heulend kamen die aufrührerischen Bauern vor das Haus gezogen, Timoteus Petrowitsch und Mischka führten sie an, sämtliche Weiber waren dabei, selbst Kinder. Wera warf sich den Wütenden entgegen und beschwor sie, ihres Herrn Leben zu schonen und ihm nur sein Land zu nehmen. Aber die Bauern schrien auf sie ein, was ihr in den Sinn gekommen sei. Sie habe den Ukas des Zaren nach Dawidkowo gebracht.

Unterdessen war man im Hause endlich erwacht. Die draußen vernahmen das Jammergeschrei des Mütterchens und das Geheul der Mägde. Jetzt erschien Anuschka an einem Fenster, riß es auf, begann zu schelten und zu zetern; sie sollten sich nach Hause scheren! Ein Bauer legte an, schoß ab, traf aber nicht. Wera hörte die Stimme Grischas; ein zweiter Schuß fiel.

Nun stürmten die Bauern das Haus, dessen Tür nach einigen Augenblicken gesprengt war. Wera hatte sich vorgedrängt; die ersten, die in das offene Gebäude stürzten, rissen sie mit hinein.

Ihn retten oder mit ihm sterben!

Nicht fähig, etwas anderes zu denken, spähte sie nach ihm aus und, während die Rotte im Erdgeschoß sogleich zu plündern und zu zerstören begann, eilte sie die Treppe hinauf in das Schlafzimmer des Mütterchens. Dort war er! Er hatte sich vor seinem Mütterchen niedergeworfen und hielt die zitternde Gestalt mit beiden Armen umschlungen, fest an sein Herz gedrückt. Als Wera ihn anrief, zuckte er heftig zusammen, dann löste er sich langsam, zaudernd von dem heiligen Leib, der ihm das Leben gegeben.

»Fliehen Sie! Retten Sie Ihr Leben! Um Ihres Mütterchens willen, um – meinetwillen!«

Grischa richtete sich auf, sah Wera an und übergab ihr mit einer leichten Bewegung seines Hauptes das Leben seiner Mutter, dieses zu schützen und zu retten. Im nächsten Augenblick war das Zimmer von den wilden Gestalten der Bauern erfüllt und Grischa umringt. Halb von Sinnen vor Jammer machte Wera einen letzten Versuch, ihn zu retten; er sollte wenigstens sein Leben verteidigen. Sie entriß einem Bauern das Gewehr, brach sich Bahn, flog auf Grischa zu und hielt ihm die Waffe hin. Aber dieser wies sie zurück; mit demselben Blick, mit derselben Gebärde, mit der er sich auf der Landstraße von ihr abgewandt hatte. In diesem Augenblicke traf ihn ein Schuß und Mischka drängte sich vor; Grischa taumelte gegen die Wand und brach, seinen Blick auf Wera gerichtet, zusammen.

*

Es war Herbst geworden. Wenn der Lindenwald von der Sonne beschienen ward, glich er einem hohen Hügel aufgeschütteten Goldes. Aber sobald ein Luftzug sich regte, rieselte es flimmernd und schimmernd langsam, langsam auf den Boden herab, den bereits ein dichter, gelber Teppich bedeckte. Und die goldigen Blätter fielen auf ein Grab, darin ein Mann ruhte, dessen Herz gebrochen war, ehe es eine Kugel getroffen.

Und die goldigen Lindenblätter flatterten durch die sonnigen Lüfte, wie Schwärme lichter Schmetterlinge; sie gaukelten um das grüne Häuschen; sie flogen gegen die Fensterscheiben, als wollten sie zugleich mit den Sonnenstrahlen in das hübsche bunte Zimmer dringen, das öde und leer stand, denn das Mütterchen war fort, nicht tot und begraben wie ihr Sohn, sondern fort mit dem Mädchen, welches ihr Sohn geliebt hatte, und welches das Mütterchen nicht mehr verlassen wollte, trotzdem sie es war, die ihren Sohn, ihren Grischa, ihren Augapfel, ihr Herzblatt zum ewigen Schlummer unter die welken Lindenblätter gebettet.

In der Natur war es, als feierte die Welt Fest auf Fest. Der Himmel blaute herunter in einer Pracht, wie wenn das Leben der Erde begänne und es Frühling werden sollte. Die Luft war so klar, daß die fernen dunklen Wälder deutlich dastanden, als wären sie um Meilenweite näher gerückt. Schwärme von Vögeln zogen hin und her, sich sammelnd für die weite, weite Fahrt über Länder und Meere; die Schwalben, die Kraniche, die Reiher und die wilden Schwäne. Weiße feine Gespinste schwebten durch die Luft, hefteten sich an Sträucher und Zäune, breiteten sich über die Stoppelfelder, und die Dorfkinder sagten: Da zieht der Sommer hinweg.

Alles war wie sonst; nur das Leben der Menschen war geändert und gewandelt. Zuerst, als unter den Linden das Grab aufgeworfen worden, in welches der Mann hineingelegt ward, der so treu und stark geliebt hatte – da war alles Triumph und Jubel gewesen. Das Mütterchen ließen sie am Leben, denn das fremde, schöne Mädchen schützte es. Aber des Mütterchens Linnen, das dieses selbst gesponnen, gebleicht und gewebt, wurde aus den Schranken und Truhen herausgerissen, und die Bauernweiber schlugen sich darum; des Mütterchens eingemachte Früchte, ihre berühmten Salzgurken und getrockneten Schwämme, ihren herrlichen Ingwer und ihre wundervollen Melonen, Anuschkas Schinken und in Schmalz eingelegte Schnepfen, alles erlitt dasselbe Schicksal! Die hübsche bunte Stube wurde bis auf den letzten Gegen-* stand geleert, das eine Stück in diese, das andere in jene Hütte geschleppt, so daß von dem Häuschen nichts übrigblieb als die Mauern.

Eine Zeitlang dauerte die allgemeine Freude, denn wie die Weiber unter sich das Haus, so teilten die Männer das Land; und wie die Weiber sich bei des Mütterchens Linnen und Salzgurken gegenseitig in die Haare fuhren, so schlugen sich die Männer bei den Kühen und Pferden, bei den Äckern und Wiesen, daß die Fäuste blutige Spuren zurückließen. Dabei wurde soviel Branntwein getrunken, als es Branntwein zu trinken gab. Kaum hatten sie sich im Rausch versöhnt, als sie sich im Rausch von neuem verfeindeten. So lebten sie in Hader und Zwist, bis eines schönen Tages die Gendarmerie ins Dorf rückte, die meisten Bauern zu Gefangenen machte und nach Moskau hinwegtrieb. Als sich die Bauern auf den Ukas ihres Väterchens, des Zaren, beriefen, durch welchen ihnen alles Land und das Leben aller Edelleute zu eigen gegeben war, erfuhren sie, daß sie belogen und betrogen worden.

Doch sie hatten sich betrügen lassen und mußten dafür büßen; sie und andere. Die Kerker in den großen Städten füllten sich, es mehrten sich die Gefangenentransporte nach Sibirien; wo aber der Herr tot war, da kam der Beamte und nahm das herrenlose Gut in Beschlag. So geschah es in Dawidkowo und so geschah es in manchen anderen Dörfern.

Bei der Untersuchung über jenen Aufstand war viel von einer Nihilistin Wera Iwanowna aus Eskowo die Rede; aber die Bauern wußten nichts anderes von ihr, als daß sie gekommen und wieder gegangen war, gegangen mit ihres toten Herrn altem Mütterchen, dessen Leben sie beschützt und gerettet, gegangen mit der Amme Anuschka, die von dem Mütterchen nicht hatte lassen wollen. Man wußte, daß die drei sich auf den Weg nach Moskau begeben hatten. Das junge Mädchen stützte die wankende Greisin und leitete sie; so waren sie den Augen der Dorfbewohner entschwunden und von ihnen nicht wieder gesehen worden.

Und der Herbst überzog mit seinem Gold und Purpur ganz Rußland, ganz Rußland prangte in den Kaiserfarben! Um das Landhaus der Prinzessin stiegen die hohen bunten Laubpyramiden auf, die Blätter fielen auf die Kieswege, wo sie liegen blieben, denn die Herrin war fortgezogen. Das große, prächtige Haus stand mit verschlossenen Türen und Läden und sah so öde und tot aus, als hätte es niemals in seinen Mauern ein glänzendes, festliches Leben gesehen, ein Leben, darin an dem einen Tage vergessen wurde, was an dem andern geschehen. Das Haus war still und stumm; aber in Weras Kammer stand auf dem Tisch das Marienbild und sah so blaß und traurig drein, als wisse es von dem Jammer der Menschheit.

Und der Herbstwind wehte goldige Blätter in den Hof des kleinen Gärtnerhauses in der Nowaja-Andronowka-Vorstadt. An dem Fenster stand ein junges, blasses, wunderholdes Weib und sah den Blättern zu, wie sie herangeweht wurden und zu Boden fielen, wie sie wieder aufflatterten, höher und höher, in den Glanz der Lüfte hinein. Und Tanias Blicke sagten: Ach, daß ich euch nachsterben, daß ich auch so vom Stamme fortgerissen, auch so verweht werden könnte.


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