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Neuntes Kapitel

Wladimir Wassilitsch stürzte in das Zimmer, in welchem sich Anna Pawlowna und ihr Vetter mit der Fürstin und Natalia Arkadiewna befanden. Er rief: »Sie sind uns auf der Spur!«

Die Fürstin stieß einen Schrei aus und wäre für ihr Leben gern dem schönen Nihilisten bewußtlos in die Arme gesunken; Anna Pawlowna und Boris blieben vollkommen gelassen. Auch auf Wera und Sascha, die Wladimir auf dem Fuße folgten, machte die Nachricht keinen besonders starken Eindruck. Tania stand am Tische, wandte kein Auge von ihrem Geliebten und sah wie eine schöne Tote aus.

»Wer ist uns auf der Spur?«

Es war Anna Pawlowna, die sprach. Sie dachte: Mir ist es gleich! Meinetwegen mögen sie uns entdecken? Was ist mir daran gelegen? Aber die Sache begann sie doch aufzuregen; wider ihren Willen nahm sie Anteil daran, so daß sie selbst darüber erstaunte. War es immer noch das »Neue«, was sie reizte? Oder weil jetzt das Spiel auf Tod und Leben ging?

»So erzählen Sie doch!« rief Natalia, deren Augen im Feuer glühten, obgleich sie als die Ruhigste von allen erschien.

Und Wladimir erzählte.

Von allen Seiten waren Nachrichten eingetroffen, welche die Situation unaufhaltsam ihrem Höhepunkt zutrieben und eine Katastrophe herbeiführen mußten. Attentate waren mißglückt, Minen und Geheimdruckereien entdeckt. Es hatten aller Orten Verhaftungen stattgefunden und geradezu Furchtbares vernahm man aus Sibirien. Überall bezahlte die Regierung ihre Spione. Das Exekutivkomitee erklärte sich zu jeder Gewalttat bereit, proklamierte den politischen Mord als ein sittliches Mittel gegen die Übergriffe der Staatsgewalt, forderte alle Parteien auf, ihr Äußerstes zu tun, fällte und vollstreckte Todesurteile. Es war in Wahrheit zu einem Kampf gekommen auf Leben und Tod.

Wladimirs glühende Schilderung der Sachlage riß schließlich alle hin. Natalia Arkadiewna und Anna Pawlowna waren die am meisten Aufgeregten; aber selbst Boris Alexeiwitsch gab seine kühle Haltung auf und überließ sich für einen Augenblick gänzlich der wilden Romantik der Situation, indem er sich für einen Augenblick wirklich einbildete, daß es der Mühe wert sei, sein Leben an diese Dinge zu setzen. Es war immerhin ein würdigerer Abschluß eines untätig verbrachten Daseins, als bei Onegin, der um eines Weibes willen endete.

Sehr eigentümlich war der Vorgang, der sich in der Fürstin vollzog. Nachdem sie eingesehen, daß weder Boris noch Wladimir sich im mindesten um ihre Angst kümmerten, beschloß sie, beider Aufmerksamkeit durch ihren Herorismus auf sich zu ziehen. Sie erholte sich demzufolge sogleich von ihrem Entsetzen und fand bald aufrichtiges Vergnügen an der Sache, ähnlich, wie sie es bei einem spannenden Roman, einer hohen Wette, einer Fuchsjagd oder einem gesellschaftlichen Skandal empfand. Sie dachte mit Entzücken an den Effekt, den sie in Baden oder Cannes durch ihre Erzählungen hervorbringen würde und stellte sich bereits vor, wie man sie auf der Promenade den Fremden zeigte: Voilà la princesse Danilowski. Vous savez, cette dame russe – und so weiter. Der Reiz des Neuen war so groß, daß sie darüber sogar ihre unglückliche Leidenschaft für den schönen Flüchtling und ihre wütende Eifersucht gegen Wera vergaß.

Man befand sich in lebhafter Debatte, als plötzlich Colja hereintaumelte und meldete, Polizisten umzingelten das Haus. Wladimir stürzte zur Tür und verriegelte sie. »Das verdanken wir Ihrem Vater!« raunte er Natalia Arkadiewna zu. »Er hat uns ausgespürt. Ich führe Dokumente des Exekutivkomitees bei mir, die unseren ganzen Anschlag verraten würden, falls sie gefunden werden.«

»Vernichten Sie sie doch! Verbrennen Sie sie doch!« schrie die Fürstin.

»Das darf ich nicht.«

Ein Tumult entstand.

»Geben Sie mir die Papiere,« sagte Natalia Arkadiewna, welche vollkommen gelassen blieb. »Bei mir wird mein Vater sie nicht suchen.«

»Darin könnten Sie sich täuschen.«

»Können wir uns nicht verteidigen?« fragte Wera. »In der Kammer sind Revolver.«

»Ja, geben Sie uns allen Waffen,« rief Anna Pawlowna. »Wir werden uns ihnen nicht lebend überliefern.«

Sie sah Sascha an und trat an seine Seite. Die Waffen wurden gebracht, Boris Alexeiwitsch untersuchte und verteilte sie. Als er Wera das Pistol gab, senkte sich sein Blick tief in ihre Augen und er flüsterte ihr zu: »Ich kann nicht mit dir leben, aber ich will mit dir sterben.«

Wera empfing die Waffe aus seiner Hand. »Sterben,« hallte es in ihr nach.

Diesmal dachte sie nicht an Grischa.

Da wurden Schritte auf dem Hofe vernehmbar.

»Hört mich!« rief Natalia Arkadiewna mit einer Stimme, daß alle auf sie sahen. »Wir werden uns nicht überwältigen lassen; denn ehe dieses geschieht, feure ich meinen Revolver auf die Flasche Nitroglyzerin ab, die lediglich zu diesem Zweck in dem Schranke dort aufgehoben wird. Wera, nimm sie heraus und stelle sie auf den Tisch. Wir alle sind bereit zu sterben; aber wir würden sterben, ohne genützt zu haben. Laßt mich deshalb einen Versuch machen, uns zu retten. Begebt euch alle in die Kammer und verhaltet euch ruhig, was auch hier geschehen möge. Ich will meinen Vater empfangen und mit ihm reden. Gelingt mein Vorhaben nicht, so ist für das andere immer noch Zeit. Überlegt nicht lange! Geht, geht!«

»Ich sehe nicht ein, was das helfen soll,« meinte Wladimir mürrisch. »Aber da es nichts schaden kann, mag es sein. Kommt also.«

Alle, außer Colja, begaben sich in die Kammer, die Natalia hinter ihnen abschloß; den Schlüssel verbarg sie auf ihrer Brust.

»Gehe in den Hof,« gebot das mutige Mädchen Tanias Getreuem, »und lasse dich ruhig festnehmen. Ich weiß, daß du deine Herrin und ihre Freunde nicht verraten wirst.«

Colja brummte etwas, schielte nach der Tür, durch die er Tania halb bewußtlos hatte hinausschwanken sehen und trollte sich fort; die Zurückbleibende hörte, wie er auf dem Hofe angehalten wurde. Gleich darauf drangen sie ins Haus. Natalia nahm die Lampe, öffnete die Tür und leuchtete auf den Flur.

»Wer ist da?«

Sie stand ihrem Vater gegenüber. Gang und Hof waren von Polizisten besetzt.

Einen Augenblick verlor der Geheime Staatsrat Arkad Danilitsch Niklakow die Fassung beim Anblick seiner Tochter; sie war so verändert, daß er sie kaum erkannte. Seine junge, hübsche, elegante Tochter mit kurzem Haar, in schmutziger Kleidung, das Gesicht entstellt und mit einem Ausdruck in ihren eingesunkenen glühenden Augen, wie ihn der Staatsrat nur bei Mörderinnen gesehen hatte.

»Lassen Sie Ihre Leute warten, Arkad Danilitsch Niklakow,« sagte Natalia laut und ruhig. »Und kommen Sie mit mir herein. Ich habe mit Ihnen zu reden.«

Der Staatsrat wandte sich um.

»Bleibt, bis ich euch rufe. Die Posten um das Haus sind zu verdoppeln.«

»Nehmen Exzellenz einige Mann mit hinein,« bat der Sergeant. »Ich kenne das Frauenzimmer; es ist ein gefährliches Geschöpf, zu allem entschlossen.«

»Tun Sie, wie ich Ihnen befahl.« Er wandte sich zu Natalia. »Gehen wir ins Zimmer. Was haben Sie mir zu sagen?«

Die Tür schloß sich hinter ihnen.

»Was haben Sie mir zu sagen?« fragte der Staatsrat noch einmal.

Er war ein stattlicher Herr, mit einem schönen, strengen Gesicht und von bedeutendem Wesen. Er galt für unbestechlich, eine Eigenschaft, die ihn in Petersburg berühmt gemacht hatte. Die Nihilisten haßten ihn als einen ihrer gefährlichsten Feinde. Er wußte, daß er von den Terroristen zum Tode verurteilt worden, ließ sich jedoch durch nichts abschrecken, seine Pflicht zu tun und sie zu verfolgen. Seine Tochter hatte er leidenschaftlich geliebt und ihr Abfall hatte ihm namenlosen Jammer bereitet.

Ungerührt blickte Natalia auf ihres Vaters gebleichtes Haar – erblichen durch ihre Schuld! Sie sagte: »Sie sind alle nebenan in der Kammer; aber Sie werden Ihre Gewalt nicht gebrauchen, sondern Ihren Leuten sagen, daß Sie nichts gefunden haben. Das werden Sie!«

»Und wenn ich es nicht tue?«

»So schieße ich Sie nieder. In dem Augenblick, wo Sie den Mund öffnen, um nach Ihren Leuten zu rufen, sterben Sie.«

Sie nahm den Revolver, der neben der Flasche Nitroglyzerin auf dem Tische lag, und richtete den Lauf des Pistols aus ihren Vater.

»Du wolltest mich töten?« rief der Staatsrat entsetzt.

»Sie können mir ja zuvorkommen; Sie werden doch wohl auch eine Waffe bei sich führen. Gebrauchen Sie dieselbe gegen mich, wenn Sie am Leben bleiben und meine Freunde gefangennehmen wollen.«

Der Staatsrat war sehr bleich geworden. Er zog aus seiner Rocktasche einen Revolver hervor und warf ihn zu Boden.

»So töte denn deinen Vater, elendes Geschöpf!« rief er aus. »Die Welt mag erfahren, bis zu welchen Gräßlichkeiten euer Wahnsinn führt. Alle Bande der Natur werden gelöst, alles Bestehende wird umgestoßen; Töchter morden ihre Väter! Der Schuß der Wera Saffulitsch gab den russischen Frauen das Signal zum Elternmorde.«

In Natalias Augen flammte es auf.

»Höre, Vater,« sagte sie, ohne das Pistol sinken zu lassen, »mit dir rechten kann und will ich nicht. Du hast deine Überzeugungen, ich habe die meinen. Es gilt hier aber nicht dein und mein Leben, sondern Höheres. In jener Kammer befinden sich Männer und Frauen, die zu allem entschlossen sind. Sie alle wollten gegen dich stehen; ich bewog sie aber, sich zu entfernen, denn ich kenne dich. Ich weiß, du willst nicht, daß ich dich töte; ich bin deine Tochter und du hast mich einmal geliebt. Du bist ein frommer Mensch, du glaubst an das Fortbestehen der Seele nach dem Tode, du willst nicht, daß die Seele deiner Tochter durch einen solchen Mord der ewigen Verdammnis überliefert werde, du hast Erbarmen mit ihr; ist sie doch schon auf Erden zu so vielen Qualen verdammt! Sieh mich an, mein Vater: Ich bin eine Sterbende.«

Der Staatsrat war erschüttert. »Kehre um! Komme zur Besinnung! Lasse mich dich zu deiner Mutter bringen, die um dich verzweifelt.«

»Nicht doch. Sobald du mit mir dieses Zimmer verlässest, würdest du mich richten, würdest du mich verurteilen müssen zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Sibirien. Dieses ›lebenslänglich‹ würde für mich allerdings nicht lange dauern.«

Der Staatsrat unterdrückte ein Stöhnen.

»Entscheide dich, die Zeit verstreicht.«

»Ich kann nicht. Was du von mir verlangst, ist Übertretung meiner Pflicht.«

»Entscheide dich.«

»Wer sind deine Freunde?«

»Von mir erfährst du nichts. Aber du kannst nachsehen.«

»Angenommen, ich falle – von deiner Hand! Der Schuß würde meine Leute herbeirufen und du würdest deine Freunde doch nicht retten können.«

»Ein zweiter Schuß trifft diese Flasche, deren Inhalt das Haus in die Luft sprengt. Du siehst, wir sind auf alle Fälle gerüstet. Entscheide dich also.«

Dem Staatsrat stand der Angstschweiß auf der Stirn, er fühlte, wie sein Gesicht sich verzerrte. Aber er durfte nicht zurückweichen; seine Beamten-, seine Mannesehre stand auf dem Spiel. Jedoch seine Tochter, seine Tochter! Er kannte sie. Sie würde tun, womit sie ihm drohte, sie würde den Mord an ihm begehen, sie würde für alle Ewigkeit verdammt werden. Da kam ihm ein rettender Gedanke. Was er tun wollte – was er tun mußte, wenn er seinen Leuten Befehl gab, das Haus zu räumen, ohne der Verschwörer habhaft geworden zu sein, war etwas Furchtbares; aber durch dieses Furchtbare rettete er seine Ehre und bewahrte seine Tochter vor dem Vatermord. So entschied er sich denn.

»Lebe wohl. Gott möge dir barmherzig sein.«

»Du gehst?«

»Lebe wohl.«

Sie machte eine Bewegung, als wollte sie sich an seine Brust oder ihm zu Füßen stürzen. Aber sie bezwang sich und rührte sich nicht; nicht eher, als bis ihr Vater das Zimmer verlassen hatte. So, mit erhobener Waffe, traf sie sein letzter, verzweiflungsvoller Blick. Sie hörte seine Mitteilung an die Leute, daß er nichts gefunden, hörte seinen Befehl, das Haus zu räumen, hörte, wie alle sich entfernten, wie Colja vom Hofe ins Haus gepoltert kam. Da ermannte sie sich, legte den Revolver auf den Tisch, ging zur Kammertür, öffnete und rief: »Kommt herein, mein Vater ist fort. Laßt uns in Ruhe alles beraten.«

Wladimir warf Natalia einen Blick zu; es war ein Blick, der die Nihilistin erbeben machte.


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