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Einundzwanzigstes Kapitel.
Fragoso

Der Befehl war also da und zwar, wie Richter Jarriquez es voraussah, ein Befehl, der sofortige Vollstreckung des gegen Joam Dacosta gefällten Urteils verfügte. Es hatte kein Beweis beigebracht werden können. Die Gerechtigkeit sollte ihren Lauf nehmen.

Am nächsten Tage, dem 31. August um 9 Uhr früh, sollte der Verurteilte sein Leben am Galgen enden.

Die Todesstrafe wird in Brasilien fast immer in Bagnostrafe umgewandelt, vorausgesetzt, daß es sich nicht um verurteilte Neger handelt. Diesmal sollte sie aber einen Weißen treffen.

Ist über Verbrechen, im Diamantenregal begangen, Todesstrafe verhängt, so läßt das Gesetz Berufung im Gnadenwege, schon aus allgemeinem Staatsinteresse, nicht zu. Für Joam Dacosta gab es also keine Rettung mehr. Nicht bloß der Verlust seines Lebens, auch der Verlust seiner Ehre drohte ihm.

Da kam am 31. August, in aller Frühe, auf Manaos zu ein Mann geritten im schnellsten Galopp: so rücksichtslos jagte der Reiter sein mutiges Pferd, daß es eine halbe Meile von der Stadt stürzte, außer stande, noch einen Schritt zu tun.

Der Reiter machte auch nicht den geringsten Versuch, sein Pferd wieder auf die Beine zu bringen. Augenscheinlich hatte er ihm das äußerste zugemutet und das Tier seinerseits das äußerste geleistet. Er selber schien aber von Anstrengung und Erschöpfung nichts zu wissen oder nichts gelten lassen zu wollen, denn er stürzte, so rasch ihn seine Füße trugen, in der Richtung zur Stadt hin, vorwärts.

Der Reiter war am linken Ufer des Stromes aus den östlichen Provinzen hergekommen. Alles, was er besaß, hatte er auf den Ankauf dieses Pferdes verwandt, das ihn schneller als ein Boot, das gegen die Strömung des Amazonas zu kämpfen gehabt hätte, nach Manaos bringen mußte.

Der Reiter war Fragoso.

Hatte der mutige Bursche Glück bei dem Unternehmen gehabt, über das er mit niemand gesprochen hatte? Hatte er die Miliz ausfindig gemacht, zu welcher Torres gehörte? Hatte er irgend welches Geheimnis entdeckt, das Joam Dacosta noch retten konnte?

Genau wußte er das selber nicht: aber jedenfalls trieb ihn höchste Eile, dem Richter Jarriquez mitzuteilen, was ihm auf diesem kurzen Ausflug bekannt geworden war.

Was sich zugetragen hatte, war Folgendes:

Fragoso hatte sich nicht geirrt, als er in Torres einen Hauptmann jener Miliztruppe wiedererkannte, die in den an den Madeirastrom grenzenden Provinzen operierte.

Er brach also auf und an der Einmündung dieses Stromes brachte er in Erfahrung, daß der Oberst, unter welchem diese Truppe stand, gerade in der Gegend aufhältlich sei.

Ohne eine Minute zu versäumen, machte sich Fragoso auf die Suche, und es gelang ihm, nicht ohne Mühe, den Oberst aufzufinden.

Auf die von Fragoso gestellten Fragen gab der Miliz-Oberst ohne Zögern Bescheid: übrigens hatte er auch keinerlei Interesse daran, auf die ihm gestellten höchst einfachen Fragen zu schweigen.

Dieser Fragen waren dreierlei: nämlich:

»Hat Kapitän Torres noch vor einigen Monaten zu Ihrer Miliztruppe gehört?«

»Ja!«

»Besaß er damals nicht einen Ihrer Kriegsgefährten, der vor kurzem verstorben ist, zum engeren Kameraden?«

»Allerdings.«

»Und dieser Mann hieß?«

»Ortega!«

Das war alles, was Fragoso in Erfahrung gebracht hatte.

Waren diese Auskünfte so beschaffen, daß sie in Joam Dacostas Lage eine Aenderung bringen konnten? Annehmen ließ sich das nicht.

Fragoso sah dies wohl ein und fragte deshalb den Miliz-Oberst weiter, ob er diesen Ortega von Person kenne? ob er ihm sagen könne, wo er her sei? ob er über seine Vergangenheit Auskunft geben könne? Da dieser Ortega, nach den von Torres gemachten Aussagen, der wirkliche Urheber des Verbrechens von Tijuco war, so war es natürlich von Belang, sich über diese Punkte zu unterrichten.

Leider konnte aber der Miliz-Oberst auf keine dieser Fragen irgend welchen Bescheid geben.

So viel stand fest, daß dieser Ortega seit vielen Jahren bei der Miliz gedient hatte, daß sich zwischen Torres und ihm eine enge Kameradschaft gebildet, daß man sie immer gesehen und daß Torres an Ortegas Pfühl gesessen hatte, als dieser den letzten Seufzer tat.

Weiter wußte der Miliz-Oberst selber nichts, konnte also auch nichts weiter aussagen.

Fragoso mußte sich wohl oder übel mit diesen geringfügigen Antworten begnügen und begab sich sogleich wieder auf den Rückweg.

Wenn aber der treue Bursche auch nicht den Beweis mitbrachte, daß dieser Ortega der Urheber des Verbrechens von Tijuco war, so ergab sich doch aus dem Ritt, den er unternommen, zum wenigsten Folgendes: daß Torres die Wahrheit gesagt hatte, als er behauptete, daß einer seiner Kameraden von der Miliz tot sei und daß er ihm in seinem letzten Stündlein Beistand geleistet habe.

Was jene Annahme nun anbetrifft, daß ihm Ortega das fragliche Dokument behändigt habe, so gewann dieselbe jetzt in hohem Maße an Wahrscheinlichkeit. Ebenso daß sich dasselbe auf das Attentat bezog, dessen Urheber Ortega in Wirklichkeit war, wie auch endlich, daß es das Geständnis seiner Schuld einschloß, in Begleitung von Umständen, die irgend welchen Zweifel an ihm nicht zuließen.

Wäre das Schriftstück also lesbar, wäre der Schlüssel vorhanden zu der Geheimschrift, in der es abgefaßt war, so hätte, wie nicht weiter zu bezweifeln, die Wahrheit endlich zu Tage kommen müssen.

Aber diesen Schlüssel kannte Fragoso nicht! Ein paar Mutmaßungen mehr, halb und halb die Gewißheit, daß der Abenteurer nichts erfunden hatte, gewisse Umstände, die zu beweisen schienen, daß in dem Schriftstück das Geheimnis dieses Ereignisses enthalten sei: das war alles, was der wackere Bursche von seinem Besuchsritt zu dein Obersten der Miliztruppe, zu welcher Torres gehört hatte, mit heimbrachte.

Und doch, so wenig das auch war, Fragoso trieb es zur höchsten Eile an, alles dem Richter Jarriquez zu melden. Er wußte, daß keine Stunde zu verlieren sei, und darum langte er an diesem Morgen gegen 8 Uhr, von Anstrengung gerädert, eine halbe Meile vor Manaos an.

Diese Entfernung, die ihn noch von der Stadt schied, legte er in ein paar Minuten zurück. Etwas wie unwiderstehliche Ahnung trieb ihn vorwärts. Fast stand er unter dem Glauben, Joam Dacostas Rettung läge jetzt in seinen Händen.

Plötzlich hielt Fragoso im Laufe inne, ganz als seien seine Füße unwiderstehlich an den Boden gefesselt.

Er befand sich am Eingang zu dem kleinen Platze, auf welchen eines der Stadttore mündete.

Dort ragte mitten aus einer schon dichten Volksmenge in Höhe von etwa 20 Fuß der Galgen herauf, von welchem ein Strick herniederhing.

Fragoso fühlte, daß ihn die letzten Kräfte verliehen. Er stürzte. Seine Augen hatten sich unwillkürlich geschlossen. Er wollte nicht sehen, und über seine Lippen glitten die Worte:

»Zu spät! Zu spät!«

Aber mit übermenschlicher Anstrengung raffte er sich auf. Nein! es war nicht zu spät! Noch hing Joam Dacostas Körper nicht am Ende dieses Strickes!

»Richter Jarriquez! Richter Jarriquez!« schrie Fragoso ... und außer Atem, von Sinnen, stürzte er zum Stadttore hin, raste die Hauptstraße von Manaos hinauf und brach halbtot auf der Schwelle des Rathauses zusammen.

Die Tür war geschlossen. Fragoso besaß noch Kraft genug, an diese Tür zu pochen.

Ein Magistratsdiener machte ihm auf: sein Herr wolle niemand vorlassen!

Trotz dieser Abweisung stieß Fragoso den Mann, der ihm den Eintritt wehrte, beiseite und war mit einem Satze im Richterzimmer.

»Ich komme aus der Provinz, wo Torres seine Buschklepperei getrieben!« rief er: »Herr Richter! Torres hat die Wahrheit gesagt ... Verschieben Sie, verschieben Sie die Hinrichtung!«

»Sie haben die Miliztruppe ausfindig gemacht?«

»Ja!«

»Und bringen mir den Schlüssel zu der Geheimschrift?«

Fragoso blieb die Antwort schuldig.

»Dann lassen Sie mich in Ruhe! lassen Sie mich in Ruhe!« rief Richter Jarriquez, der in einem wahren Wutanfall das Schriftstück vom Tische riß, um es zu vernichten.

Fragoso faßte ihn bei den Händen und tat ihm Einhalt.

»Da drinnen ruht die Wahrheit!« rief er.

»Das weiß ich,« versetzte der Richter: »aber was tue ich mit einer Wahrheit, die sich nicht offenbaren kann!«

»Sie wird offenbar werden! ... sie muß offenbar werden ... muß! muß ...«

»Nochmals: besitzen Sie den Chiffre-Schlüssel?«

»Nein!« gab Fragoso zur Antwort, »aber ich sage Ihnen aber- und abermals: Torres hat nicht gelogen! Ein Kamerad von ihm, mit dem er eng verbunden gewesen, ist vor ein paar Monaten gestorben, und daß ihm dieser Mensch das Schriftstück behändigt hat, das er an Joam Dacosta verkaufen wollte, steht ganz außer Zweifel!«

»Ja doch! ja doch!« erwiderte Richter Jarriquez ... »das steht außer Zweifel! für uns ... aber denen, die über das Leben des Verurteilten verfügen, kommt es nicht so vor ... Lassen Sie mich in Ruhe!«

Fragoso wollte, trotz dieser Abweisung, nicht vom Platze weichen. Auf den Knieen rutschte er zu den Füßen des Richters.

»Joam Dacosta ist unschuldig!« rief er; »Sie können ihn nicht sterben lassen! Nicht er hat das Verbrechen von Tijuco begangen, nicht er! sondern der Kamerad dieses Torres! der auch dies Schriftstück verfaßt hat! Ortega ist der Verbrecher!«

Bei diesem Namen tat der Richter einen Satz in die Höhe. Dann war etwas wie Ruhe in seinem Geiste auf den Sturm gefolgt, der sich dort entfesselt hatte. Aus seiner zusammengepreßten Hand nahm er das Schriftstück, strich es auf dem Tisch gerade, setzte sich und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Dieser Name!« rief er ... »Ortega! ... Versuchen wir!«

Nun begann er mit diesem neuen, von Fragoso überbrachten Namen, wie schon mit den andern Eigennamen vergeblich, die Entzifferung der Geheimschrift zu versuchen, und erhielt, als er denselben über die sechs ersten Buchstaben des Schriftstücks setzte, die folgende Formel:

Ortega
Hhtbiu

»Nichts!« sagte er, »das ergibt nichts!«

Und wirklich ließ sich das unter das r gesetzte h nicht durch eine Ziffer ausdrücken, weil in der alphabetischen Reihenfolge dieser Buchstabe an sich über dem Buchstaben r steht.

Der Buchstabe t unter dem t hätte die Ziffer 0 ergeben, der Buchstabe b unter dem e hätte sich aus demselben Grunde wie das h nicht durch eine Ziffer ersetzen lassen, während der letzte Buchstabe, u unter a, eine zweistellige Ziffer ergeben Hätte, was nach den früheren Ausführungen des Richters Jarriquez bei dieser Art von Kryptogrammen ausgeschlossen war.

In diesem Augenblick wurde auf der Straße furchtbares Verzweiflungsgeschrei laut. Fragoso stürzte an eines der Fenster und riß es auf, ehe der Beamte es hindern konnte.

Die Menge füllte die Straße. Die Stunde war gekommen, zu der der Verurteilte aus dem Gefängnis herausgeführt werden sollte, und die Menge drängte dem Platze zu, wo sich der Galgen erhob.

Der Richter Jarriquez, der entsetzlich anzusehen war, so starr und verbissen war sein Gesichtsausdruck, verschlang noch immer die Zeilen des Schriftstücks.

»Die letzten Buchstaben!« murmelte er. »Probieren wir's noch einmal mit den letzten Buchstaben!«

Es war die äußerste Hoffnung. Seine Hand zitterte so heftig, daß er kaum schreiben konnte, als er den Namen Ortega über die letzten sechs Buchstaben des Absatzes stellte.

Zuerst entrann ihm ein Schrei.

Von vornherein hatte er erkannt, daß diese letzten sechs Buchstaben im Alphabet unter denen rangierten, welche den Namen Ortega bildeten, und daß sie demzufolge sämtlich durch eine Ziffer darzustellen waren und eine Zahl ergeben mußten; und als er die Formel ausgerechnet hatte, indem er vom unteren Buchstaben des Dokuments zum obern des Wortes aufwärts zählte, kam Folgendes heraus:

O r t e g a
4 3 2 5 1 3
s u v j h d

Die so gebildete Zahl war 432513.

Aber war diese Zahl endlich die dem Dokument zu Grunde gelegte? würde sie nicht ebenso falsch sein wie die zuvor versuchten?

In diesem Augenblick verdoppelte sich das Geschrei – ein Geschrei des Mitleids, das die leidenschaftliche Anteilnahme der ganzen Menge bekundete.

Dem Verurteilten blieben nur noch wenige Minuten zu leben.

Vor Schmerz wahnsinnig, stürzte Fragoso aus dem Zimmer. Er wollte ein letztesmal seinen Wohltäter sehen, der zum Tode ging; er wollte sich dem traurigen Zuge entgegenwerfen und ihn anhalten mit dem Rufe:

»Tötet nicht diesen Gerechten! tötet ihn nicht!«

Aber schon halte der Richter Jarriquez die erhaltene Zahl über die ersten Buchstaben des Abschnitts gestellt und sie so oft, als erforderlich war, wiederholt:

4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3
h h t b j u o o k h i h y u j j c h

4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3
v g g x e l e p c s u h r u c z c v

Indem er im Alphabet nach oben zählte, erhielt er die richtigen Buchstaben und las:

Der wirkliche Urheber des Diamantenraubes .....

Ein Gebrüll der Freude entfuhr ihm.

Diese Zahl 432513 war die so lang gesuchte. Durch den Namen Ortega war sie gefunden worden. Endlich hatte er den Schlüssel des Dokuments, das unabstreitlich die Unschuld Joam Dacostas beweisen sollte, und ohne weiter zu lesen, stürzte er aus seiner Kanzlei hinaus aus die Straße und schrie:

»Anhalten! Anhalten!«

Die Menge zerteilen, die vor ihm auseinanderstob, und nach dem Gefängnis laufen, das der Verurteilte eben verließ, während Frau und Kinder sich mit der Inbrunst der Verzweiflung an ihn klammerten: das war für den Richter Jarriquez Sache eines Augenblicks.

Vor Joam Dacosta kam er zum Stillstand – sprechen konnte er nicht mehr, aber mit der Hand schwenkte er das Dokument – und endlich platzten von seinen Lippen die Worte:

»Unschuldig! unschuldig!«


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