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Zehntes Kapitel.
Beschlüsse

Wenige Stunden später war die ganze Familie nach der Jangada zurückgekehrt und in dem gemeinsamen Saale. Alle waren da – bis auf jenen Gerächten, den ein letzter Schlag getroffen hatte.

Benito war niedergeschmettert und klagte sich an, seinen Vater vernichtet zu haben. Hätten Yaquita, seine Schwester, Manuel und Padre Passanha ihn nicht flehentlich gebeten, so hätte er in den ersten Augenblicken seiner Verzweiflung sich vielleicht ein Leid zufügen können.

Aber man hatte ihn nicht aus den Augen gelassen und war stets bei ihm. Und doch! hatte er nicht eine gerechte Rache an dem Verräter seines Vaters vollzogen!

Ach! warum hatte Joam Dacosta nicht alles gesagt, ehe er die Jangada verließ! Warum hatte er zurückgehalten und nur dem Richter gegenüber von diesem faktischen Beweis seiner Unschuld sprechen wollen? Warum hatte er in seiner Unterhaltung mit Manuel nach der Ausweisung des Abenteurers von dem Schriftstück geschwiegen, das Torres in Händen zu haben vorgab?

Aber konnte man im Grunde dem, was Torres ihm gesagt hatte, Glauben beimessen? Konnte man als gewiß annehmen, daß sich ein solches Schriftstück im Besitz des Schurken befand?

Wie dem auch sein mochte, die Familie wußte jetzt alles, und zwar aus dem Munde Joam Dacostas selbst. Sie wußte, daß nach Torres' Aussage der Beweis für die Unschuld des Verurteilten von Tijuco wirklich existierte, daß dieses Schriftstück von dem Urheber des Verbrechens eigenhändig geschrieben worden war: daß dieser Verbrecher, in der Todesstunde von Reue erfaßt, es seinem Gefährten Torres übergeben hatte, und daß dieser, anstatt den Willen des Sterbenden zu erfüllen, aus der Uebergabe dieses Schriftstücks einen schmählichen Handel habe machen wollen.

Aber sie wußte auch, daß Torres in diesem Zweikampf gefallen war, daß seine Leiche im Amazonenstrom versunken war, und daß er gestorben war, ohne den Namen des wahren Schuldigen zu nennen.

Wenn nicht ein Wunder geschah, so mußte Joam Dacosta jetzt als rettungslos verloren angesehen werden. Der Tod des Richters Ribeiro einerseits – der Tod des Angebers Torres andererseits, das war ein doppelter Schlag, unter dem er zusammenbrechen mußte.

Allerdings war die öffentliche Meinung, die wie überall und immer in die unrechte Wageschale geworfen wurde, vollständig gegen den Gefangenen. Die so unerwartete Verhaftung Joam Dacostas rief die Erinnerung an jenen furchtbaren Ueberfall von Tijuco wach, der in 23 Jahren vergessen worden war. Der Prozeß des jungen Minenangestellten im Diamantendistrikt, seine Verurteilung zum Tode, seine Flucht wenige Stunden vor der Hinrichtung, alles wurde wieder aufgefrischt und wieder vergegenwärtigt.

Ein Artikel, der zu dem »Diario do Gran Para« erschien, der verbreitetsten Zeitung dieser Gegend, gab einen erneuten Bericht aller Einzelheiten des Verbrechens und sprach sich dann in offenkundiger Feindseligkeit gegen den Gefangenen aus. Warum hätte man an die Unschuld Joam Dacostas glauben sollen, da man doch all das nicht wußte, was die Seinen wußten – was nur sie wissen konnten.

In der Bevölkerung von Manaos herrschte daher sogleich übergroße Aufregung. Der Haufe der wahnwitzig verblendeten Indianer und Schwarzen umringte auf der Stelle das Gefängnis und schrie: »Tod! Tod!«

In diesem Lande der beiden Amerika, wo in dem einen Teile oft häßliche Vollstreckungen der Lynchjustiz vorkommen, gibt sich die Menge ihren grausamen Instinkten hin, und man konnte befürchten, daß sie in diesem Falle eigenhändig das Urteil vollziehen möchte.

Welche traurige Nacht für die Passagiere der Jangada! Die Herrschaft und die Diener waren von diesem Schlage niedergeschmettert! Konnte man dieses Personal der Fazenda nicht auch eine Familie nennen? Alle waren entschlossen, über Yaquita und den Ihren zu wachen.

Am Ufer des Rio Negro gingen Eingeborne, sichtlich erregt über die Verhaftung Joam Dacostas hin und her, und wer weiß, zu welchen Ausschreitungen sich diese Leute, die noch halb Barbaren waren, vielleicht hinreißen ließen.

Die Nacht verging jedoch, ohne daß etwas gegen die Jangada unternommen wurde.

Am folgenden Tage, dem 26. August, versuchten Manuel und Fragoso, die in dieser Nacht der Angst Benito nicht einen Augenblick verlassen hatten, den jungen Mann seiner Verzweiflung zu entreißen. Nachdem sie ihn beiseite geführt hatten, machten sie ihm begreiflich, daß kein Augenblick zu verlieren sei, sondern daß man sich zum Handeln entschließen müsse.

»Benito,« sagte Manuel, »gewinne wieder Gewalt über dich, werde wieder ein Mann! werde wieder ein Sohn!«

»Mein Vater!« rief Benito. »Ich habe ihn getötet!«

»Nein,« antwortete Manuel, »und es ist möglich, daß mit Gottes Hilfe noch nicht alles verloren ist!«

»Hören Sie uns an, Benito!« sagte Fragoso.

Der junge Mann strich sich mit der Hand über die Augen und raffte sich gewaltsam empor.

»Benito,« fuhr Manuel fort, »Torres hat nichts gesagt, was uns über seine Vergangenheit aufklären könnte. Wir können daher nicht wissen, wer der Urheber des Verbrechens von Tijuco ist, noch unter welchen Umständen er das Verbrechen ausgeführt hat. In dieser Richtung Nachforschungen anzustellen, wäre also verlorne Zeit.«

»Und die Zeit drängt!« setzte Fragoso hinzu.

»Uebrigens,« sagte Manuel, »wenn es uns selbst gelänge zu erfahren, wer der Gefährte von Torres gewesen ist, so ist dieser doch tot und könnte nicht die Unschuld Joam Dacostas bezeugen. Aber nichtsdestoweniger steht es fest, daß der Beweis dieser Unschuld vorhanden ist, und wir brauchen nicht am Vorhandensein eines Dokuments zu zweifeln, mit dem Torres ein Geschäft hat machen wollen. Er hat es ja selber gesagt. Dieses Dokument ist ein von dem Schuldigen eigenhändig geschriebenes Geständnis, das den Ueberfall bis in seine kleinsten Einzelheiten berichtet und die Ehre unsers Vaters wiederherstellt. Ja, hundertmal ja! Dieses Schriftstück existiert!«

»Aber Torres ist dahin!« rief Benito. »Und mit diesem Elenden ist das Schriftstück zu Grunde gegangen.«

»Warte und verzweifle noch nicht!« antwortete Manuel. »Du erinnerst dich wohl, unter welchen Umständen wir Torres kennen gelernt haben? Mitten im Walde von Iquitos. Da verfolgte er einen Affen, der ihm ein metallnes Etui gestohlen hatte, an dem ihm sehr viel gelegen zu sein schien, und schon seit zwei Stunden hatte er dem Affen nachgestellt, als das Tier von unserer Kugel fiel. Glaubst du denn nun, daß wegen ein paar Geldstücken Torres so erpicht darauf gewesen wäre, es wiederzubekommen? Erinnerst du dich nicht, wie außerordentlich froh Torres sich zeigte, als du ihm dieses Etui zurückgabst, das du der Hand des Affen entrissest?«

»Ja! – ja!« antwortete Benito. »Dieses Etui – das ich in der Hand hatte – das ich ihm wiedergegeben habe! – Vielleicht enthielt es ...?«

»Das ist nicht nur wahrscheinlich – das steht fest!« versetzte Manuel.

»Und ich füge hinzu,« fiel Fragoso ein – »denn dieser Umstand kommt mir jetzt ins Gedächtnis: während Sie sich Egas angesehen haben, bin ich an Bord geblieben auf Linas Rat hin, um Torres zu bewachen, und ich habe gesehen – ja wohl – ich habe gesehen, wie er ein altes ganz vergilbtes Blatt Papier wieder und wieder las – indem er Worte murmelte, die ich nicht verstehen konnte.«

»Das war das Dokument!« rief Benito, der sich an dieser Hoffnung wieder aufrichtete, der einzigen, die ihm verblieb – »aber hat er dieses Dokument nicht am Ende an einem sichern Orte verborgen?«

»Nein!« antwortete Manuel, »nein! – Dieses Schriftstück war zu kostbar, als daß Torres daran hätte denken können, sich davon zu trennen. Er hat es immer bei sich getragen – ohne Zweifel eben in diesem Etui!«

»Warte – warte – Manuel,« rief Benito. »Ich erinnere mich – ja, mir fällt ein, – während des Duells – beim ersten Stoß, den ich gegen Torres tat – mitten auf die Brust – da traf meine Manchetta unter seinen: Puncho auf einen harten Gegenstand – wie ein Metallstück

»Das war das Etui!« rief Fragoso.

»Ja!« antwortete Manuel. »Es ist kein Zweifel mehr möglich. Dieses Etui hatte er in einer Tasche seines Wamses.«

»Aber der Leichnam Torres'?«

»Wir finden ihn!«

»Aber das Papier! Das Wasser ist zu ihm gedrungen, hat es vielleicht zerstört und unlesbar gemacht!«

»Warum?« antwortete Manuel. »Da doch das Metalletui hermetisch verschlossen war!«

»Manuel,« antwortete Benito, sich an diese letzte Hoffnung klammernd, »du hast recht! Wir müssen Torres' Leiche wiederfinden! Wir müssen diesen ganzen Teil des Stromes durchsuchen, wenn es nötig – aber wir werden ihn finden!«

Der Lotse Araujo wurde sofort herbeigerufen und von dem, was unternommen werden sollte, unterrichtet.

»Gut!« antwortete Araujo. »Ich kenne die Wirbel und Stromschnellen am Zusammenfluß des Rio Negro und des Amazonas. Unsre Suche nach der Leiche Torres' kann Erfolg haben. Wir wollen die beiden Pirogen, die beiden Ubas und zwölf von unsern Indianern mitnehmen und gleich losfahren.«

Padre Passanha kam jetzt aus Yaquitas Zimmer. Benito trat auf ihn zu und teilte ihm in kurzen Worten mit, was sie versuchen wollten, um das Schriftstück zu erlangen.

»Sagen Sie meiner Mutter und meiner Schwester noch nichts!« setzte er hinzu. »Wenn diese letzte Hoffnung fehlschlüge, das wäre ihr Tod!«

»Geh, mein Kind, geh!« antwortete Padre Passanha, »und möge Gott dir bei deinen Nachforschungen beistehen!«

Fünf Minuten später verließen die vier Fahrzeuge die Jangada; Sie fuhren den Rio Negro hinunter und kamen an das Ufer des Amazonenstromes – genau an die Stelle, wo Torres zu Tode getroffen in der Flut verschwunden war.


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