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Sechstes Kapitel.
Ein Rückblick

Es war ein unglücklicher Zufall, daß der Richter Ribeiro, auf den Joam Dacosta mit Bestimmtheit hätte rechnen können, gestorben war.

Ehe Ribeiro Gerichtsherr in Manaos, das heißt also der erste Beamte der Provinz wurde, hatte er zur Zeit, als der junge Angestellte wegen des Verbrechens im Diamantendistrikt verfolgt wurde, Joam Dacosta kennen gelernt.

Ribeiro war damals Advokat in Villa-Rica. Er hatte es übernommen, den Angeklagten vor Gericht zu verteidigen. Er nahm diese Sache mit Eifer auf und machte sie zur eignen Herzensangelegenheit. Aus der Prüfung der Aktenstücke und mehreren Einzelheiten der Untersuchung gewann er die Ueberzeugung, nicht des Richters, sondern des Menschen, daß sein Klient zu Unrecht verurteilt war, daß er keinerlei Anteil irgendwelcher Art an der Ermordung der militärischen Eskorte und dem Diamantenraub hatte, sondern daß die Untersuchung auf falscher Fährte gewesen war – mit einem Worte, daß Joam Dacosta unschuldig war.

Aber so groß auch das Talent und der Eifer des Advokaten Ribeiro waren, so konnte er doch diese Ueberzeugung nicht dem Geiste der Jury einverleiben.

Wen anders konnte man als Urheber des Verbrechers hinstellen? Wenn es nicht Joam Dacosta gewesen war, der eben ganz und gar sich in der erforderlichen Lage befand, um die Verbrecher von dem geheimen Aufbruch des Konvois benachrichtigen zu können, wer war es sonst gewesen?

Der Angestellte, der die Eskorte begleitete, war mit dem größern Teil der Soldaten gefallen, der Verdacht konnte daher nicht auf ihn fallen. Alles kam zu einander, Joam Dacosta als den einzigen und wirklichen Urheber des Verbrechens erscheinen zu lassen.

Ribeiro verteidigte ihn mit großer Wärme. Er legte sein ganzes Herz darein. Aber es gelang ihm nicht, ihn zu retten.

Der Wahrspruch der Jury lautete bejahend auf alle Schuldfragen. Joam Dacosta, des mit dem erschwerenden Moment des Vorbedachts ausgeführten Mordes überführt, erhielt nicht einmal mildernde Umstände zugebilligt und wurde zum Tode verurteilt.

Dem Angeklagten blieb keine Hoffnung. Eine Kundgebung der Strafe war ausgeschlossen, da es sich um ein im Diamantendistrikt begangenes Verbrechen handelte. Der Angeklagte war verloren.

Aber in der Nacht vor der Hinrichtung – als der Galgen schon errichtet war, gelang es Joam Dacosta, aus dem Gefängnis von Villa-Rica zu entrinnen.

Das Uebrige ist bekannt.

Zwanzig Jahre später wurde Advokat Ribeiro zum ersten Gerichtsherrn in Manaos ernannt. In seinem entlegnen Versteck erfuhr der Fazendero von Iquitos diese Berufung und erblickte hierin einen glücklichen Umstand, der eine Revision seines Prozesses mit einiger Aussicht auf günstigen Ausgang herbeiführen könnte.

Er wußte, daß die Ueberzeugung, die der Advokat ehedem in seiner Sache gehegt hatte, im Geiste des Oberrichters unerschüttert fortleben müsse. Er entschloß sich daher, alles zu versuchen, um eine Wiederherstellung seiner Ehre zu erlangen.

Wäre nicht Ribeiro in das Amt des höchsten Gerichtsherrn der Amazonenprovinz eingesetzt worden, so hätte er vielleicht gezögert, denn er hatte keinen neuen Beweis für seine Unschuld vorzubringen. So furchtbar dieser ehrliche Mann auch darunter litt, sich im Exil von Iquitos verbergen zu müssen, so hätte er es vielleicht doch der Zeit überlassen, die Erinnerung an diesen furchtbaren Vorfall noch mehr auszulöschen – allein ein Umstand veranlaßte ihn, sich unverzüglich zum Handeln zu entschließen.

Lange ehe Yaquita zu ihm darüber sprach, hatte Joam Dacosta erkannt, daß Manuel seine Tochter liebe. Dieses Verhältnis zwischen dem jungen Militärarzt und seiner Tochter sagte ihm in jeder Beziehung zu. Es war vorauszusehen, daß eines Tages ein Heiratsantrag erfolgen würde, und Joam wollte nicht unvorbereitet überrascht sein.

Nun kam ihm der Gedanke, daß er seine Tochter unter einem Namen verheiraten müsse, der gar nicht der ihre war, daß Manuel Valdez, der in die Familie Garral zu treten glaubte, in die Familie Dacosta hineinkam, deren Oberhaupt ein allzeit unter der Last eines Todesurteils stehender Flüchtling war. Und dieser Gedanke war ihm unerträglich!

Nein! Diese Hochzeit sollte nicht unter den gleichen Umständen wie seine eigene sich vollziehen! Nein! Niemals!

Man wird sich dessen erinnern, was zu dieser Zeit vorfiel. Vier Jahre, nachdem der junge Kommis, damals schon der Sozius Magalhaes, auf die Fazenda von Iquitos gekommen war, war der alte Portugiese tödlich verwundet, in die Farm gebracht worden. Er hatte nur noch einige Tage zu leben.

Der Gedanke, daß seine Tochter allein und ohne alle Stütze bleiben sollte, entsetzte ihn; da er aber wußte, daß Joam und Yaquita sich liebten, wollte er, daß ihre Trauung ohne Aufschub vollzogen werden sollte.

Joam weigerte sich anfangs. Er erbot sich, der Schützer und Diener Yaquitas zu sein, ohne ihr Mann zu werden. Der sterbende Magalhaes drang jedoch so inständig in ihn, daß aller Widerstand unmöglich wurde.

Yaquita legte ihre Hand in die Joams, und Joam zog die seine nicht zurück.

Ja! Dies war ein schwerwiegender Schritt!

Joam Dacosta hätte entweder alles gestehen oder für immer das Haus, wo er so gastfreundlich ausgenommen worden war, die Ansiedlung, die er zur Blüte gebracht hatte, fliehen müssen. Ja, er hätte lieber alles sagen sollen, als der Tochter seines Wohltäters einen Namen geben, der nicht der seine war, den Namen eines wegen Mordes zum Tode Verurteilten, so unschuldig er vor Gott auch war.

Aber die Umstände drängten – der alte Fazendero lag im Sterben – er streckte die Hände nach den jungen Leuten aus.

Joam Dacosta schwieg, die Heirat wurde vollzogen, und das ganze Leben des jungen Farmers war nur dem Glück der geweiht, die seine Frau geworden war.

»An dem Tage, wo ich alles gestehen werde,« sagte Joam, »wird Yaquita mir verzeihen. Sie wird nicht einen Augenblick an mir zweifeln. Aber wenn ich sie habe täuschen müssen, so werde ich doch den ehrenwerten Mann nicht täuschen, der in unsere Familie durch die Heirat mit Minha eintreten will. Nein! lieber überliefere ich mich der Justiz und mache ein Ende mit diesem Dasein.«

Hundertmal dachte Joam Dacosta daran, seine Frau über seine Vergangenheit aufzuklären. Ja! Das Geständnis war auf seinen Lippen, zumal als sie ihn bat, sie nach Belem zu führen und sie und ihre Tochter den schönen Amazonenstrom hinunterreisen zu lassen.

Er kannte Yaquita hinlänglich, um überzeugt zu sein, daß ihre Liebe zu ihm nicht beeinträchtigt wurde. – Aber er hatte nicht den Mut.

Wer würde ihn nicht verstehen, angesichts des blühenden Familienglückes, das sein Werk war und das er vielleicht unwiederbringlich zerstören sollte!

Dies war sein Leben lange Jahre hindurch, dies war die immer frische und unerschöpfliche Quelle der entsetzlichen Leiden, deren Geheimnis nur er kannte, dies endlich war das Leben dieses Mannes, der nicht eine Handlung zu verheimlichen brauchte und infolge einer höchsten Ungerechtigkeit sich selber verheimlichen mußte!

Aber an dem Tage, wo er an der Liebe zwischen Manuel und Minha nicht mehr zweifeln konnte und annehmen mußte, daß er binnen einem Jahre in die Notwendigkeit kommen würde, seine Zustimmung zu dieser Heirat zu geben, da zauderte er nicht länger und entschloß sich zu raschem Handeln.

Ein an den Richter Ribeiro adressierter Brief von ihm teilte gleichzeitig diesem Beamten das Geheimnis mit, daß Joam Dacosta lebte, unter welchem Namen er sich verbarg, wo er mit seiner Familie wohnte, und eröffnete ihm gleichzeitig die feste Absicht, sich der Justiz seiner Heimat zu überliefern und die Revision eines Prozesses zu fordern, die für ihn entweder mit der Wiederherstellung seiner Ehre oder mit der Vollstreckung des in Villa Rica gefällten Urteils enden konnte.

Welche Empfindungen regten sich im Herzen des wackern Beamten? Das ist leicht zu erraten.

Nicht mehr an den Advokaten wandte sich der Angeklagte – sondern an den höchsten Richter der Provinz wandte sich der Verurteilte. Joam Dacosta überlieferte sich ihm gänzlich.

Von der ersten Bestürzung über die unerwartete Enthüllung gelangte der Richter Ribeiro bald zu peinlich genauer Abwägung der Pflichten, die seine Stellung ihm auferlegte. Ihm lag jedes Amt ob, die Verbrecher zu verfolgen, und hier gab sich ein Verbrecher in seine Hände.

Diesen Verbrecher hatte er allerdings verteidigt; er zweifelte nicht daran, daß er unschuldig verurteilt worden war; seine Freude, als er damals dem Todesurteil durch die Flucht entkam, war groß gewesen; er hatte sogar ihn zu der Flucht bestimmt und sie ihm erleichtert. Aber was ehedem der Advokat getan hatte, konnte das jetzt der Landesrichter tun?

»Nun denn!« sagte sich der Richter. »Mein Gewissen befiehlt mir, diesen Gerechten nicht zu verlassen! Der Schritt, den er jetzt tut, ist ein neuer Beweis für seine Unschuld, ein moralischer Beweis, da er andere nicht erbringen kann, aber vielleicht der überzeugendste von allen. Nein! Ich werde ihn nicht verlassen!«

Von diesem Tage an bestand ein geheimer Briefwechsel zwischen dem Richter und Joam Garral. Ribeiro forderte zunächst seinen Klienten auf, sich nicht durch eine unkluge Handlung in Gefahr zu begeben. Er wollte die Sache noch einmal vornehmen, die Akten prüfen und die Untersuchung revidieren.

Man mußte sich erkundigen, ob im Diamanten-Distrikt sich betreffs dieser so ernsten Angelegenheit nichts Neues ereignet habe. Waren von jenen Helfershelfern des Verbrechens, den Schmugglern, die den Konvoi überfallen hatten, später nicht am Ende einige verhaftet worden? Waren nicht am Ende Geständnisse oder Einräumungen erfolgt?

Joam Dacosta sei unschuldig und könne nur seine Unschuld beteuern. Aber das genüge nicht, und der Richter Ribeiro wolle unter den Elementen der Strafsache selber suchen, ob er den fände, auf den die Schuld in Wahrheit falle.

Joam Dacosta sollte also vorsichtig sein. Er versprach das auch. Aber es war ein unermeßlicher Trost, in all diesen Leiden, bei seinem ehemaligen Verteidiger, jetzt dem Obersten Richter, dieselbe feste Ueberzeugung von seiner Unschuld zu finden.

Ja! Joam Dacosta, der Verurteilte, war ein Opfer, ein Märtyrer, ein ehrlicher Mann, dem die Gesellschaft eine eingreifende Genugtuung schuldig war.

Und da der Richter nun die Vergangenheit des Fazendero von Iquitos seit seiner Verurteilung kannte, dieses ganze Leben der Aufopferung, der unermüdlichen Arbeit am Glück der Seinen – da war er wohl nicht fester überzeugt, aber tiefer gerührt und gelobte sich alles zu tun, um die Ehre des Verurteilten von Tijuco wiederherzustellen.

Ein halbes Jahr lang hatten die beiden Männer Briefe gewechselt.

Als endlich eines Tages ein Aufschub nicht mehr möglich war, schrieb Joam Dacosta an den Richter Ribeiro:

»In zwei Monaten werde ich bei Ihnen sein und mich dem ersten Beamten der Provinz zur Verfügung zu stellen!«

»Kommen Sie!« antwortete Ribeiro.

Damals war die Jangada zur Abfahrt bereit.

Joam Dacosta begab sich mit all den Seinen, Frau, Kindern und Dienern auf das Floß. Während der Reise ging er zum großen Erstaunen seiner Frau und seines Sohnes nur selten an Land. Meistens schloß er sich in seine Kabine ein und schrieb und arbeitete, nicht an Geschäftsrechnungen, sondern an jener Art von Biographie, die er betitelte: »Geschichte meines Lebens«, und die er bei der Revision seines Prozesses verwerten wollte.

Acht Tage vor seiner neuen Verhaftung, die auf die Denunziation von Torres hin erfolgte und vielleicht seine Pläne zunichte machen konnte, hatte er einem Indianer vom Amazonenstrom einen Brief anvertraut, in welchem er den Richter Ribeiro von seiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigte.

Dieser Brief kam an seine Adresse, und der Richter wartete nur noch auf Joam Dacosta, um diesen ernsten Fall, den er zu gutem Ende zu führen hoffte, in die Hand zu nehmen.

In der Nacht, die der Ankunft der Jangada voranging, warf ein Schlaganfall den Richter Ribeiro nieder. Aber die Denunziation von Torres, dessen Anerbieten an der edeln Verachtung seines Opfers zuschanden wurde, war erfolgreich.

Joam Dacosta wurde inmitten der Seinen verhaftet, und sein alter Sachwalter war nicht mehr da, um ihn zu verteidigen.

Das war in der Tat ein furchtbarer Schlag! Doch wie dem auch sein mochte, der Würfel war gefallen. Es gab kein Zurück mehr.

Joam Dacosta richtete sich wieder empor unter dem Schlag, der ihn so unvermutet traf.

Nicht mehr seine Ehre allein, die Ehre aller Seinen stand auf dem Spiele.


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