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Neunzehntes Kapitel.
Vorkehrungen

Am folgenden Tage, dem 30. August, besprachen sich Benito und Manuel. Sie hatten den Gedanken verstanden, den der Beamte vor ihnen nicht hatte aussprechen wollen, und suchten jetzt Mittel und Wege zu finden, um die Flucht des Verurteilten zu ermöglichen, den das Todesurteil bedrohte.

Es blieb nichts weiter übrig.

Es war in der Tat nur zu gewiß, daß für die Behörden von Rio de Janeiro das unentzifferte Dokument gar keinen Wert hatte, daß es ein totes Stück Papier war, daß an dem ersten Urteil, durch welches Joam Dacosta des Raubmordes von Tijuco schuldig gesprochen worden war, nichts geändert wurde und daß der Vollstreckungsbefehl unvermeidlich eintreffen würde, da auch eine Umwandlung der Strafe in diesem Falle ausgeschlossen war.

Ein zweites Mal also durfte Joam Dacosta nicht zögern, sich der Haft, die ihn ungerecht betroffen hatte, durch die Flucht zu entziehen.

Zwischen den beiden jungen Männern wurde zuvörderst ausgemacht, daß über alles, was vorgenommen werden sollte, strenge Verschwiegenheit zu beobachten sei, daß weder Yaquita noch Minha über ihre Versuche unterrichtet werden sollten. Das hieße ihnen vielleicht nur eine letzte Hoffnung machen, die nachher am Ende fehlschlug. Wer konnte wissen, ob dieser Fluchtversuch infolge unvorhergesehener Umstände nicht elendiglich mißglücken würde?

Bei dieser Gelegenheit wäre die Anwesenheit Fragosos ohne Zweifel von großem Wert gewesen. Dieser pfiffige und treue Bursche hätte den beiden jungen Leuten nützlich werden können, aber Fragoso war nicht wieder zum Vorschein gekommen.

Lina, die hierüber befragt wurde, konnte nicht sagen, was aus ihm geworden sei, noch warum er die Jangada verlassen habe, ohne selbst ihr etwas davon zu sagen.

Und doch hätte Fragoso, sofern er nur geahnt hätte, daß die Dinge eine solche Wendung nehmen würden, nicht die Familie Dacosta verlassen, um einen Versuch zu machen, der allem Anschein nach von keinem entscheidenden Ergebnis sein konnte.

Ja! viel lieber wäre er bei der Flucht des Verurteilten behilflich gewesen, als daß er sich auf die Suche nach den ehemaligen Kameraden Torres' begeben hätte.

Aber Fragoso war nicht da, und man mußte wohl oder übel ohne ihn fertig werden.

Bei Morgengrauen verließen Benito und Manuel die Jangada und gingen nach Manaos. Sie gelangten schnell in die Stadt und betraten die engen, zu dieser Zeit noch leeren Straßen.

In wenigen Minuten standen beide vor dem Gefängnis und durcheilten nach allen Richtungen hin das öde Gelände, auf dem das ehemalige Kloster sich erhob, das jetzt als Haftlokal diente.

Diese Oertlichkeit mußte aufs sorgfältigste untersucht werden.

In einer Ecke des Gebäudes lag 25 Fuß überm Erdboden das Fenster der Halle, in der Joam Dacosta eingeschlossen war. Dieses Fenster war durch ein ziemlich schadhaftes Gitter versichert, das leicht auszuheben oder zu zersägen sein würde, wenn man nur hinauf gelangen konnte.

Die schlecht gefügten Steine der Mauer, die an vielen Stellen bröcklig waren, wiesen zahlreiche Vorsprünge auf, die dem Fuß einen sichern Stützpunkt bieten mußten, wenn es möglich war, sich durch ein Tau hinaufzuziehen.

Ein solches Tau ließ sich vielleicht, wenn man es geschickt warf, um einen der Stäbe des Gitters schlingen, der, aus seiner Lage gehoben, als Haken nach außen hätte dienen können. Hierauf waren nur ein paar Stäbe zu beseitigen, so daß ein Mann hindurchkriechen konnte, und Benito und Manuel brauchten dann nur in die Zelle des Gefangenen hineinzuklettern.

Die Flucht war dann ohne große Schwierigkeiten bewerkstelligt mittels des an dem Eisen befestigten Taues.

Während der Nacht, die ziemlich finster werden mußte, würde keine dieser Vorkehrungen bemerkt werden, und noch vor Tagesanbruch könnte Joam Dacosta in Sicherheit sein.

Eine Stunde lang gingen Manuel und Benito unauffällig hin und her und stellten mit größter Genauigkeit ihre Untersuchungen an, sowohl über die Lage des Fensters und Gitters, wie auch über den Punkt, an welchem am besten das Tau zu werfen war.

»Das wäre also abgemacht!« sagte Manuel. »Aber soll Joam Dacosta benachrichtigt werden?«

»Nein, Manuel! Wir wollen ihm ebenso wenig das Geheimnis eines Versuchs mitteilen, der mißglücken kann.«

»Es wird uns glücken, Benito!« antwortete Manuel. »Indessen muß auf alles Vorbedacht genommen werden, und im Fall der Gefängnisaufseher im kritischen Moment die Flucht wittert –«

»Dann haben wir das Geld zur Hand, diesen Mann zu bestechen,« sagte Benito.

»Schön,« sagte Manuel. »Wenn nun unser Vater erst einmal aus dem Gefängnis hinaus ist, dann kann er weder in der Stadt noch auf der Jangada verborgen bleiben. Wo soll er Zuflucht suchen?«

Diese sehr wichtige Frage war an zweiter Stelle zu entscheiden, und man kam zu folgendem Entschluß.

Hundert Schritt vom Gefängnis etwa war das leere Gefilde von einem der Kanäle durchschnitten, die unterhalb der Stadt in den Rio Negro münden. Dieser Kanal bot einen bequemen Weg, um den Strom zu erreichen, wenn eine Piroge den Flüchtling hier erreichte. Zu Fuß von der Mauer bis zum Kanal waren es, wie gesagt, kaum 100 Schritt.

Benito und Manuel beschlossen also, daß eine der Pirogen um 8 Uhr abends unter der Führung des Lotsen Araujo und zwei kräftiger Ruderer von der Jangada abstoßen sollte. Sie sollte den Rio Negro hinauffahren, durch den Kanal hineinsteuern, durch des unbebaute Gelände hindurchgleiten und, unter dem hohen Gras am Ufer verborgen, die ganze Nacht über sich dem Gefangenen zur Verfügung halten.

Aber wenn Joam Dacosta erst in der Piroge war, wohin sollte er sich am besten wenden?

Dies war der Gegenstand eines letzten Entschlusses, den die beiden jungen Männer faßten, nachdem das Für und Wider der Frage peinlichst erwogen worden war.

Nach Iquitos zurückkehren, hieß einen schwierigen gefahrvollen Weg einschlagen. In jedem Falle wäre dieser Weg zu weit, ob er nun über Land flüchtete oder den Amazonas hinauffuhr. Weder mit einem Pferd noch mit einer Piroge konnte er sich schnell genug außer Verfolgung bringen.

Ferner bot die Fazenda ihm keine sichre Zuflucht. Wenn er dorthin zurückkehrte, war er nicht mehr der Fazendero Joam Garral, sondern der Verurteilte Joam Dacosta, dem beständig die Auslieferung drohte. Er durfte daher nicht daran denken, sein früheres Leben wieder auszunehmen.

Auf dem Rio Negro zu flüchten bis in den Norden der Provinz oder noch über die brasilianischen Besitzungen hinaus, wäre ein Vorhaben gewesen, das mehr Zeit bedingte, als Joam Dacosta zur Verfügung stand, und seine erste Sorge mußte sein, sich unmittelbarer Verfolgung zu entziehen.

Die Fahrt stromab mußte an den zahlreichen Posten, Dörfern und Städten zu beiden Seiten des Stromes vorbeiführen. Das Signalement des Verurteilten aber wurde sicher allen Polizeiämtern mit geteilt. Er lief daher Gefahr, noch ehe er das Gestade des Atlantischen Ozeans erreichte, verhaftet zu werden. Und hatte er es erreicht, wo und wie sollte er sich verbergen und eine Gelegenheit abwarten, um zu Schiffe zu gehen und ein ganzes Meer zwischen sich und die Justiz zu bringen?

Nach Prüfung dieser verschiedenen Pläne kamen Benito und Manuel dahin überein, daß sie alle nicht ausführbar seien. Einer allein bot einige Aussicht auf Rettung.

Das war folgender Plan: nach der Flucht aus dem Gefängnis die Piroge besteigen, dem Kanal bis zum Rio Negro folgen, diesen Nebenfluß bis zur Mündung in den Hauptstrom hinabfahren, dann im Amazonenstrom sich am rechten Ufer halten, etwa 66 Meilen weit stromab fahren, indem man nachts fuhr und tagsüber sich verborgen hielt, und so die Mündung des Madeira erreichen.

Dieser Zufluß, der vom Abhang der Cordilleren herkommt und von 100 Nebenflüssen gespeist wird, ist eine wirkliche Wasserstraße, welche bis in das Herz von Bolivia offen ist. Eine Piroge konnte hier hineinsteuern, ohne daß man eine Spur von ihr gewahr wurde. Dann konnte man in einem Flecken oder Weiler jenseits der brasilianischen Grenze Zuflucht suchen.

Hier würde Joam Dacosta verhältnismäßig sicher sein. Hier konnte er, wenn es sein mußte, mehrere Monate warten, bis sich eine Gelegenheit bot, den Strand des Stillen Ozeans zu erreichen und in einem der Küstenhäfen ein Schiff zu besteigen. Führte ihn dieses Schiff nach einem Staate Nordamerikas, so war er gerettet.

Dann konnte er zusehen, ob es ihm gut dünkte, sein ganzes Vermögen zu realisieren, endgiltig sein Vaterland zu verlassen und jenseits des Meeres in der alten Welt eine letzte Zuflucht zu suchen, um sein so grausam und ungerecht vergälltes Leben zu beschließen.

Wohin er auch ginge, seine Familie würde ihm ohne Zögern und ohne Klagen folgen, und zu seiner Familie zählte auch Manuel sich selber, da er ja doch durch unlösbare Banden an sie geknüpft werden sollte. Diese Frage war nicht weiter zu erörtern.

»Wir wollen gehen,« sagte Benito. »Vor Einbruch der Nacht muß alles fertig sein, und wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«

Auf ihrer Rückkehr an Bord schritten die beiden jungen Männer an dem Ufer des Kanals hin bis zum Rio Negro. Sie vergewisserten sich, daß die Piroge vollständig freie Fahrt hätte und daß kein Hindernis sie aufhalten könne.

Dann gingen sie am linken Ufer des Nebenflusses entlang, umgingen die jetzt schon belebten Straßen der Stadt und trafen am Ankerplatz der Jangada ein.

Die erste Sorge Benitos war, seine Mutter aufzusuchen. Er fühlte sich Herr genug über sich selbst, um von der Unruhe, die ihn verzehrte, sich nichts merken zu lassen. Er wollte sie beruhigen, ihr sagen, daß noch nicht alle Hoffnung verloren sei, daß das Geheimnis des Schriftstücks gelöst werden würde, daß in jedem Fall die öffentliche Meinung für Joam Dacosta sei und daß angesichts der allgemeinen Stimmung zu seinen Gunsten die Justiz alle erforderliche Zeit, um den faktischen Beweis für seine Unschuld endlich doch noch zu erbringen, zugestehen würde.

»Ja, Mutter, ja!« setzte er hinzu. »Morgen werden wir nichts mehr für unseren Vater zu fürchten haben!«

»Möge Gott dich erhören, mein Sohn!« antwortete Yaquita mit einem so fragenden Blick, daß Benito sich fast verraten hätte.

Gemäß ihrer Verabredung hatte seinerseits Manuel versucht, Minha zu beruhigen, indem er ihr versicherte, daß der Richter Jarriquez, von der Unschuld Joam Dacostas überzeugt, ihn, soweit irgend in seinen Kräften stände, zu retten versuchen würde.

»Ich will dir glauben, Manuel!« hatte das junge Mädchen gesagt, das ihre Tränen nicht zurückzuhalten vermochte.

Manuel war rasch von Minha gegangen. Tränen traten auch ihm in die Augen und straften die hoffnungsvollen Worte, die er gesprochen hatte, Lügen.

Uebrigens war der Augenblick gekommen, dem Gefangenen den täglichen Besuch abzustatten, und Yaquita, von ihrer Tochter begleitet, begab sich eilig nach Manaos.

Eine Stunde lang besprachen sich die beiden jungen Männer mit dem Lotsen Araujo. Sie unterrichteten ihn in allen Einzelheiten von dem Plan, den sie gefaßt hatten, und fragten ihn um Rat betreffs der geplanten Flucht selber wie auch der Maßregeln, die zu ergreifen waren, um für die Folgezeit den Flüchtling in Sicherheit zu bringen.

Araujo hieß alles gut. Er nahm es auf sich, in der Nacht ganz unauffällig die Piroge durch den Kanal zu bringen, den er bis zu der Stelle, wo Joam Dacosta erwartet werden sollte, ganz genau kannte. Zur Mündung in den Rio Negro zurückzukehren, würde gar keine Schwierigkeiten machen, und die Piroge würde unbemerkt inmitten der treibenden Stämme und Inseln, die ohne Unterlaß den Strom bedeckten, mit hinabgleiten.

Gegen den Plan, den Amazonas bis zum Zusammenfluß mit dem Madeira hinunterzufahren, hatte Araujo gleichfalls nichts einzuwenden. Auch er war der Ansicht, daß dies die beste Lösung sei. Der Lauf des Madeira war ihm auf eine Strecke von 100 Meilen bekannt. Wenn unvermutet die Verfolgung in dieser Richtung geschehen sollte, so wäre es inmitten dieser wenig bevölkerten Provinzen ein leichtes, zu entrinnen, und wenn Joam Dacosta darauf bestand, sein Vaterland für immer zu verlassen, so konnte er mit geringerer Gefahr am Stillen Ozean zu Schiffe gehen als am Atlantischen Ozean.

Daß Araujo ihren Plan billigte, flößte den beiden jungen Männern Zuversicht ein. Sie hatten Vertrauen zu dem praktischen Sinn des Lotsen, und zwar mit Recht. In die Ergebenheit und Aufopferung des wackern Mannes war keinerlei Zweifel zu setzen. Er hätte sicherlich Leben und Freiheit aufs Spiel gesetzt, um den Fazendero von Iquitos zu retten.

Araujo begann sofort, aber in aller Heimlichkeit, mit den Vorbereitungen, die bei diesem Fluchtversuch ihm oblagen. Eine hohe Summe Geldes wurde ihm von Benito übergeben, damit er während der Fahrt auf dem Madeira gegen alle Möglichkeiten gesichert sei.

Er ließ sofort die Piroge in stand setzen, indem er erklärte, er beabsichtige aus die Suche nach Fragoso zu gehen, der noch nicht wiedergekommen sei und um dessen Schicksal all seine Gefährten in hohem Grade besorgt seien.

Dann legte er selber Vorräte für mehrere Tage in den Kahn und außerdem die Taue und das Werkzeug, die die beiden jungen Männer abholen sollten, sobald er am Ende des Kanals zur verabredeten Stunde eintreffen würde.

Diese Vorbereitungen fielen dem Personal der Jangada gar nicht auf. Die beiden kräftigen Neger, die der Pilot zum Rudern aussuchte, wurden nicht einmal in das Geheimnis gezogen. Dennoch konnte man fest auf sie rechnen. Wenn sie erst erführen, bei welchem Rettungswerk sie mithelfen sollten, wenn Joam Dacosta, endlich befreit, ihrer Obhut anvertraut würde, so wußte Araujo, daß sie alles, selbst ihr Leben, daran setzen würden, ihren Gebieter zu retten.

Nachmittags war alles zum Aufbruch bereit. Man brauchte nur noch die Nacht abzuwarten.

Aber bevor sie ihren Plan ausführten, wollte Manuel noch ein letztes Mal den Richter Jarriquez aufsuchen. Vielleicht hatte der Beamte ihm etwas Neues über das Dokument mitzuteilen.

Benito zog es vor, auf der Jangada zu bleiben, um auf die Rückkehr der Mutter und Schwester zu warten.

Manuel begab sich also allein in das Haus des Richters Jarriquez und wurde sofort empfangen.

Der Beamte, der sein Arbeitszimmer nicht mehr verließ, befand sich noch immer in derselben überreizten Verfassung. Das von seinen ungestümen Fingern zerknüllte Dokument lag noch immer vor ihm.

»Herr Richter,« sagte Manuel, dessen Stimme bei dieser Frage zitterte, »ist aus Rio de Janeiro –?«

»Nein,« antwortete der Richter Jarriquez, »der Befehl ist noch nicht angekommen – aber jeden Augenblick –!«

»Und das Schriftstück?«

»Nichts!« rief der Richter Jarriquez, »ich habe alles versucht, was mir die Phantasie nur irgend hat eingeben können ... und nichts erreicht!«

»Nichts!«

»Doch eines – ein einziges Wort habe ich in diesem Schriftstück deutlich lesen können, ein einziges!«

»Und dieses Wort?« rief Manuel, »Herr Richter, wie lautet dieses Wort?«

»Fliehen!«

Ohne zu antworten, drückte Manuel dem Richter Jarriquez die Hand und kehrte nach der Jangada zurück, um zu warten, die die Stunde der Entscheidung schlagen würde.


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