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Sechzehntes Kapitel.
Worin von Geheimschriften die Rede ist

Es war 7 Uhr abends. Der Richter Jarriquez war noch immer in diese kopfzerbrecherische Arbeit vertieft, ohne weiter gekommen zu sein. Er hatte Tischzeit und Schlummerstündchen völlig vergessen, als an die Tür seines Kabinetts geklopft wurde.

Es war höchste Zeit. Noch eine Stunde, und die ganze Gehirnsubstanz des erbosten Beamten wäre unter der Weißglühhitze seines Schädels geschmolzen.

Auf das in ungeduldigem Tone gerufene »Herein!« öffnete sich die Tür und Manuel trat herein.

Der junge Arzt hatte seine Freunde an Bord der Jangada ihren Grübeleien über das unlösbare und unlesbare Schriftstück überlassen und sich auf den Weg gemacht, den Richter Jarriquez aufzusuchen. Er wollte wissen, ob dieser mit seinen Untersuchungen mehr Glück gehabt habe. Er wollte ihn fragen, ob er endlich das System entdeckt habe, auf dem die Geheimschrift beruhte.

Der Beamte war nicht böse darüber, daß Manuel kam. Er befand sich in jenem Zustand der Gehirnüberreizung, der durch Einsamkeit nur noch gesteigert wird. Es tat ihm not, sich gegen jemand auszusprechen, vor allem gegen jemand, der ebenso sehr darauf erpicht war wie er selber, das Geheimnis zu enthüllen. Manuel war also gerade sein Mann.

»Herr Richter,« sagte Manuel beim Eintritt, »eine Frage vor allem! Haben Sie mehr Erfolg gehabt wie wir?«

»Setzen Sie sich zunächst,« rief der Richter Jarriquez, der selber aufstand und das Zimmer durchmaß. »Setzen Sie sich! Wenn wir beide stehen, laufen Sie nach der einen Seite, ich nach der anderen, und mein Kabinett ist zu klein für uns beide!«

Manuel setzte sich und wiederholte seine Frage.

»Nein! ... ich habe ebenso wenig Glück gehabt!« antwortete der Beamte. »Ich weiß nicht einen Deut mehr. Ich kann Ihnen nichts sagen, außer daß ich zu einer Gewißheit gelangt bin.«

»Zu welcher, Herr Richter, zu welcher?«

»Das Dokument beruht nicht auf herkömmlichen Zeichen, sondern auf einer kryptologischen Chiffre oder, besser gesagt, einer Zahl.«

»Nun gut, Herr Richter,« antwortete Manuel, »gelangt man denn nicht in der Regel dahin, ein Schriftstück dieser Art schließlich zu entziffern?«

»Ja,« sagte der Richter Jarriquez, »jawohl – wenn ein Buchstabe unabänderlich durch einunddenselben Buchstaben dargestellt ist, wenn ein a zum Beispiel immer ein p bedeutet, wenn ein p immer ein x bedeutet. Ist das nicht der Fall, dann kann man es eben nicht entziffern.«

»Und in diesem Schriftstück?«

»In diesem Schriftstück wechselt die Bedeutung des Buchstabens je nach der Chiffre, die willkürlich angenommen worden ist und der die Buchstaben unterworfen sind. So kann ein b, das durch ein k vertreten worden ist, weiter unten durch ein z, später wieder durch ein m oder ein n oder ein f oder jeden andern Buchstaben ersetzt werden.«

»Und in diesem Falle?«

»In diesem Falle muß ich Ihnen leider sagen, ist das Kryptogramm völlig unlösbar.«

»Unlösbar!« rief Manuel. »Nein, mein Herr! Wir werden den Schlüssel zu diesem Schriftstück finden, von dem ein Menschenleben abhängt!«

Von übergroßer Bewegung ergriffen, die er nicht zu bemeistern vermochte, hatte Manuel sich erhoben. Die Antwort, die er erhalten hatte, war so entmutigend, daß er sie nicht als endgiltigen Bescheid hinnehmen mochte.

Auf einen Wink des Beamten nahm er jedoch wieder Platz und fragte in ruhigerem Tone:

»Und wie, Herr Richter, sind Sie zunächst auf den Gedanken gekommen, daß das Grundgesetz dieses Schriftstücks eine Chiffre sei oder, wie Sie sagen, eine Zahl?«

»Hören Sie mir zu, junger Mann,« antwortete der Richter Jarriquez, »und Sie werden selber zu der Ueberzeugung kommen.«

Der Richter nahm das Schriftstück, breitete es vor Manuel aus und unterrichtete ihn über die angestellten Versuche.

»Ich bin zuvörderst,« sagte er, »mit diesem Schriftstück verfahren, wie es geschehen mußte, nämlich logisch, indem ich mich auf keine Zufälligkeiten einließ. Ich habe daher ein Alphabet festgelegt auf Grund des Verhältnisses, in welchem die gebräuchlichsten Buchstaben unsrer Sprache vorkommen, und habe versucht, ob ich die Schrift auf diese Weise lesen kann. Der Versuch ist fehlgeschlagen!«

»Fehlgeschlagen!«

»Jawohl, junger Mann! Und ich hätte von vornherein erkennen sollen, daß ein Erfolg auf diese Weise nicht möglich sei. In Wahrheit hätte ein geübterer Blick als der meine sich nicht täuschen lassen.«

»Aber um Gottes willen!« rief Manuel. »Wenn ich nur begreifen könnte!«

»Nehmen Sie das Dokument,« fuhr der Richter Jarriquez fort: »beschränken Sie sich nur darauf, die Folge der Buchstaben zu betrachten, und lesen Sie es ganz durch.«

Manuel tat, wie ihm geheißen.

»Finden Sie nicht die Aneinanderhäufung gewisser Buchstaben sehr bizarr?« fragte der Beamte.

»Ich sehe nichts,« antwortete Manuel, nachdem er zum hundertsten Male schon die Zeilen des Schriftstücks durchflogen hatte.

»Schön, beschränken Sie sich darauf, den letzten Paragraphen zu studieren. Hier ist, wie Sie begreifen werden, der ganze Inhalt des Dokuments kurz zusammengefaßt. Bemerken Sie hier nichts Anormales?«

»Nichts!«

»Es ist indes etwas darin, was aufs deutlichste und sicherste beweist, daß das Schriftstück nach einer zu Grunde gelegten Zahl geschrieben ist.«

»Was wäre das?« fragte Manuel.

»Das ist oder vielmehr sind einige Buchstaben, die an mehreren Stellen nebeneinander stehen.«

Dies war in der Tat der Fall und mußte allerdings auffallen. Der 1. und 2., 15. und 16., 20. und 21. Buchstabe und weiterhin noch mehrere waren solche beieinander stehende Konsonanten. Diese Eigentümlichkeit war dem Beamten selber zuvor nicht aufgefallen.

»Und das beweist?« fragte Manuel, ohne zu erraten, welche Folgerung jener aus diesem Umstand zog.

»Dies beweist ganz einfach, junger Mann, daß das Schriftstück auf einer Zahl beruht. Dies beweist von vornherein, daß jeder Buchstabe entsprechend den Zahlen dieser Chiffre und ihrer Stellen durch einen andern ersetzt ist,«

»Und warum?«

»Weil es in keiner Sprache Worte gibt, die eine so häufige Konsonantenzusammenstellung mit sich brächten.«

Dies leuchtete Manuel freilich ein, er überlegte, fand aber nichts zu erwidern.

»Und wenn ich das schon vorher bemerkt hätte,« fuhr der Beamte fort, »dann hätte ich mir die Mühe und eine beginnende Migräne erspart, die sich von der Stirn bis zum Hinterkopf zieht.«

»Aber, Herr Richter,« fragte Manuel, der das bißchen Hoffnung, daran er sich noch geklammert hatte, zerrinnen fühlte, »was verstehen Sie unter einer Chiffre?«

»Sagen wir eine Zahl.«

»Gut, eine Zahl!«

»Ein Beispiel wird Ihnen das besser begreiflich machen als alle Erklärungen.«

Der Richter Jarriquez setzte sich an den Tisch, nahm ein Blatt Papier, einen Bleistift und sagte:

»Herr Manuel, wir wollen einen beliebigen Satz wählen, ganz aufs Geratewohl, den ersten besten, meinetwegen: »Jarriquez der Richter, ist ein scharfsinniger Mann.« Ich schreibe diesen Satz so auf, daß ich die Buchstaben von einander trenne, und erhalte folgende Buchstabenreihe:

J a r r i q u e z d e r r i c h t e r i s t e i n
s e h r s c h a r f s i n n i g e r m a n n

Hierauf sah der Beamte – der hierin ohne Zweifel eine jener Behauptungen erblickte, die ganz unbestreitbar sind – Manuel ins Gesicht und sagte:

»Nehmen wir an, ich wähle jetzt aufs Geratewohl eine Zahl, um dieser natürlichen Folge von Worten eine kryptographische Form zu geben. Nehmen wir an, die Zahl besteht aus drei Ziffern, und diese Ziffern sind 4, 2 und 3. Ich setze besagte Zahl 423 unter die Zeile hier oben, indem ich sie so viele Male wiederhole, als nötig sein wird, um bis an den Schluß des Satzes zu gelangen, und zwar so, daß jede Ziffer unter einen Buchstaben zu stehen kommt. Das ergibt folgendes:

J a r r i q u e z d e r r i c h t e r i s t e i n s e h r s c h a r f s i n n i g e r m a n n.‹
4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2 3 4 2

»Wenn ich nun, Herr Manuel, in der Reihenfolge des Alphabets von dem ursprünglichen Buchstaben aus um den Wert der betreffenden Ziffer heruntergehe und den so gefundenen Buchstaben an Stelle des ursprünglichen setze, so ergibt sich dies:

J weniger 4 gleich N
a " 2 " c
r " 3 " u
r " 4 " v
1 " 2 " k
q " 3 " t

und so fort. Wenn ich bei dem Wert der Ziffern, aus denen die betreffende Zahl besteht, an das Ende des Alphabets gelange, ohne zum Abzählen noch genügend Buchstaben zur Beifügung zu haben, so zähle ich beim Anfang des Alphabets weiter. Das trifft beim letzten Buchstaben meines Namens ein, beim z, unter welchem die Ziffer 3 steht. Da nach dem z das Alphabet mir keine weiteren Buchstaben an die Hand gibt, fange ich wieder beim a mit dem Zählen an und erhalte in diesem Fall:

z weniger 3 gleich c.

Wenn ich dieses auf der Zahl 423 beruhende kryptographische System durchgeführt habe – die, vergessen Sie nicht! willkürlich erwählt worden ist – so tritt an die Stelle des Ihnen bekannten Satzes jetzt die Buchstabenreihe:

» Neuvktygchguvkflvhvkvxglruhltvgjdvhvmpqmihvodrp.«

»Nun, junger Mann, betrachten Sie diesen Satz genau? Hat er nicht dasselbe Aussehen wie das fragliche Schriftstück? Was geht daraus hervor? Daß die Bedeutung des Buchstabens sich nach der Ziffer richtet, die der Zufall unter ihn gesetzt hat, und daß der dem eigentlichen Buchstaben entsprechende Buchstabe nicht immer der gleiche sein kann. Sie sehen, daß Sie die Zahl 423 kennen müssen, um diese Zeilen lesen zu können. Wenn nun die Zahl, die die Grundlage des Dokuments bildet, sich Ihrer Kenntnis entzieht, wird es sich nun und nimmer entziffern lassen.«

Als Manuel den Richter mit so scharfer Logik seine Erklärungen abgeben hörte, fühlte er sich zuerst völlig niedergeschlagen. Dann aber hob er den Kopf und rief:

»Nein, Herr Richter! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, die Zahl zu finden.«

»Vielleicht wäre es möglich,« antwortete der Richter Jarriquez, »wenn die Zeilen des Schriftstücks in Worte eingeteilt wären.«

»Warum?«

»Das will ich Ihnen erklären, junger Mann. Man darf mit voller Bestimmtheit behaupten, nicht wahr, daß dieser letzte Paragraph des Dokuments alles noch einmal zusammenfassen muß, was in den vorhergehenden Paragraphen steht. Es steht also für mich fest, daß der Name Joam Dacosta darin vorkommt. Wenn nun die Zeilen in Worte geteilt wären, so würde ich mit jedem Worte nacheinander den Versuch machen – das heißt mit den Worten, die sieben Buchstaben haben wie der Name Dacosta – und es wäre nicht unmöglich, daß man die Zahl fände, die den Schlüssel des Schriftstücks bildet.«

»Wollen Sie mir erklären, wie man da verfahren müßte,« fragte Manuel, der hier vielleicht einen letzten Hoffnungsstrahl erblickte.

»Nichts ist einfacher,« antwortete der Richter Jarriquez. »Nehmen wir zum Beispiel eines der Worte des Satzes, den ich eben geschrieben habe – meinen Namen, wenn Sie wollen. Im Kryptogramm ist er durch die bizarre Buchstabenfolge: Ncuvktygc dargestellt. Schön! schreiben wir diese Buchstaben in eine senkrechte Reihe, indem wir daneben die Buchstaben meines Namens setzen, und wenn wir nun vom einen zum andern in der alphabetischen Reihenfolge aufwärts zählen und die sich ergebende Zahl notieren, so erhalten wir die folgende Formel:

Zwischen N und J sind 4 Buchstaben
" c " a " 2 "
" u " r " 3 "
" v " r " 4 "
" k " i " 2 "
" t " q " 3 "
" y " u " 4 "
" g " u " 2 "
" c " z " 3 "

»Wie setzt sich also die Ziffernreihe zusammen, die wir durch dieses sehr einfache Verfahren erhalten haben? Sehen Sie! die Ziffern 423 423 423 usw., das heißt, wir erhalten die mehrmals wiederholte Zahl 423.«

»Hm! das stimmt!« antwortete Manuel.

»Sie begreifen! Indem ich in dieser Weise in der alphabetischen Reihenfolge vom falschen Buchstaben zum richtigen nach oben gezählt habe, statt vom richtigen zum falschen nach unten, ist es mir ein leichtes gewesen, die Zahl herauszubekommen und festzustellen, daß die gesuchte Zahl in der Tat 423 ist, die ich zum Schlüssel meines Kryptogramms gewählt habe.«

»Nun, Herr Richter,« rief Manuel, »wenn nun – wie es ja der Fall sein muß – der Name Dacosta sich in diesem letzten Paragraphen vorfindet, und man hintereinander jeden Buchstaben dieser Zeilen als den ersten der sieben Buchstaben annimmt, aus denen der Name Dacosta besteht, so muß man doch schließlich –«

»Das wäre in der Tat möglich,« antwortete der Richter Jarriquez, »aber nur unter einer Bedingung.«

»Das wäre?«

»Daß nämlich die erste Ziffer der Zahl genau unter den ersten Buchstaben des Wortes Dacosta zu stehen käme, und Sie werden mir zugeben, daß dies keinesfalls wahrscheinlich ist.«

»In der Tat!« antwortete Manuel, der angesichts dieser Unwahrscheinlichkeit die letzte Hoffnung aufgeben zu sollen glaubte.

»Man mußte sich also auf den puren Zufall verlassen,« fuhr der Richter Jarriquez fort, den Kopf schüttelnd, »und der Zufall hat bei Nachforschungen dieser Art nichts zu suchen.«

»Aber könnte nicht schließlich,« versetzte Manuel, »der Zufall uns diese Zahl an die Hand geben?«

»Diese Zahl!« rief der Beamte. »Diese Zahl! Aber aus wie viel Ziffern besteht sie? Aus zwei, drei, vier, neun oder zehn? Besteht diese Zahl aus verschiedenen Ziffern oder aus mehrmals wiederholten? Wissen Sie, junger Mann, daß man aus den 10 Ziffern des Zahlensystems, wenn alle angewandt werden, ohne auch nur eine zu wiederholen, 3268800 verschiedene Zahlen machen kann, und daß, wenn man mehrere gleiche Ziffern nimmt, diese Millionen Kombinationen sich wiederum mehren? Und wissen Sie, daß, wenn man auch nur eine einzige der 525 600 Minuten, die das Jahr hat, darauf verwendete, eine dieser Zahlen zu probieren, man über sechs Jahre brauchte und daß man über drei Jahrhunderte dazu nötig hätte, wenn jeder Versuch eine Stunde erforderte. Nein! Hier fordern Sie das Unmögliche!«

»Unmöglich, Herr Richter, ist das,« antwortete Manuel, »daß ein Gerechter verurteilt werde, daß Joam Dacosta Leben und Ehre verliere, wenn Sie den Beweis für seine Unschuld in den Händen haben! Das ist das Unmögliche!«

»Ah, junger Mann,« rief der Richter Jarriquez, »wer sagt Ihnen schließlich, daß dieser Torres nicht gelogen hat, daß er in der Tat ein Dokument besessen hat, das von dem Urheber des Verbrechens geschrieben worden ist, daß dieses Papier tatsächlich dieses Dokument ist und daß es auf Joam Dacosta Bezug hat?«

»Wer das sagt?« wiederholte Manuel.

Und der Kopf sank ihm in beide Hände.

In der Tat bewies nichts mit Bestimmtheit, daß das Schriftstück sich auf das Verbrechen im Diamantendistrikt bezog. Nichts besagte, ob es nicht überhaupt jedes Sinnes ermangelte, ob es nicht von Torres selber ersonnen sei, der ebenso wohl fähig war, ein unechtes wie ein echtes Dokument zu verkaufen.

»Macht nichts, Herr Manuel,« antwortete der Richter Jarriquez, sich erhebend, »macht nichts! Auf welche Geschichte dieses Dokument auch Bezug haben mag, ich werde es nicht aufgeben, nach der Chiffre zu suchen! Schließlich hat das denselben Reiz wie irgend ein Logogryph oder ein Rebus.«

Nach diesen Worten erhob sich Manuel, begrüßte den Beamten und kehrte, als er gegangen war, zur Jangada zurück.


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