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Siebzehntes Kapitel.
Ganz aufs Geratewohl

Inzwischen hatte ein völliger Umschwung der öffentlichen Meinung betreffs Joam Dacostas stattgefunden. Auf die Erbitterung war Mitleid gefolgt. Die Bevölkerung begab sich nicht mehr nach dem Gefängnis von Manaos, um den Tod des Gefangenen schreiend zu fordern. Im Gegenteil! Die zuerst am wildesten ihn angeklagt hatten, daß er der Haupturheber des Verbrechens von Tijuco sei, verkündeten jetzt, er sei nicht der Schuldige, und verlangten seine sofortige Freilassung: so geht die Menge von einem Extrem ins andere.

Dieser Umschwung ist begreiflich.

Die Ereignisse der letzten zwei Tage, das Duell zwischen Benito und Torres, die Auffindung der Leiche unter so eigentümlichen Umständen, die Entdeckung des Dokuments, das, wenngleich es unentzifferbar sein sollte, den faktischen Beweis für die Unschuld Joam Dacostas enthielt, weil es von der Hand des wahren Schuldigen herrührte – alles hatte dazu beigetragen, diesen Wandel in der öffentlichen Meinung zu bewirken.

Was man vor 48 Stunden gehofft und ungeduldig verlangt hatte, das war jetzt eine Befürchtung: das Eintreffen des Befehls von Rio de Janeiro.

Das konnte jedoch nicht mehr lange dauern.

Am 24. August war Joam Dacosta verhaftet worden, und am Tage darauf hatte das Verhör stattgefunden. Am 26. war der Bericht des Richters abgegangen. Man schrieb jetzt den 28.

In drei bis vier Tagen spätestens mußte der Minister zu einem Entschluß betreffs des Verurteilten gelangen, und es war nur zu gewiß, daß »die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen würde«.

Ja! Niemand zweifelte daran. Und wiederum war es für niemand, weder für seine Familie, noch für die ganze Bevölkerung von Manaos, die mit regster Anteilnahme die Entwicklung dieser dramatischen Angelegenheit verfolgte, eine Frage, daß in der Tat aus diesem Dokument Joam Dacostas Unschuld deutlich hervorgehe.

Aber in der Außenwelt, in den Augen unbeteiligter oder gleichgiltiger Beobachter, die nicht unter dem Eindruck der Geschehnisse standen, konnte dieses Dokument wenig Wert haben, da nicht einmal festzustellen war, daß es sich auch wirklich auf das Verbrechen im Diamantendistrikt bezog. Es war da, das ließ sich nicht bestreiten. Es war bei der Leiche Torres' gefunden worden, das stand fest.

Man konnte sich sogar darüber vergewissern, indem man es mit dem Brief, in welchem Torres Dacosta denunziert hatte, verglich, daß es nicht von der Hand des Abenteurers geschrieben worden war.

Und doch – wie der Richter Jarriquez gesagt hatte warum sollte dieser Elende es nicht zu gewinnsüchtigen Zwecken angefertigt haben? Dies konnte um so mehr der Fall sein, da Torres es nicht eher hatte hergeben wollen, als nach seiner Verheiratung mit Joam Dacostas Tochter, das heißt, wenn an der vollendeten Tatsache nichts mehr zu ändern gewesen wäre.

All diese Annahmen waren möglich – und es ist zu begreifen, daß diese Angelegenheit die höchste Spannung hervorrief. In jedem Falle stand es freilich um Joam Dacosta verzweifelt schlecht.

Solange das Dokument entziffert war, war es überhaupt, als sei er nicht am Leben, und wenn das Rätsel nicht durch ein Wunder in drei Tagen gelöst war, dann mußte der Verurteilte von Tijuco seinen letzten Gang antreten.

Und dieses Wunder wollte ein Mensch vollbringen! Dieser Mensch war der Richter Jarriquez, und jetzt arbeitete er mehr in Joam Dacostas Interesse als zur Befriedigung seiner analytischen Fähigkeiten. Ja! Auch in seinem Geiste hatte ein Umschwung stattgefunden.

Dieser Mann, der freiwillig seinen Schlupfwinkel in Iquitos aufgegeben hatte, der auf Gefahr seines Lebens gekommen war, die Wiederherstellung seiner Ehre von der brasilianischen Justiz zu fordern, war dieser Mann nicht an sich ein moralisches Rätsel, das tausend andere aufwog?

Der Richter war entschlossen, das Dokument nicht eher wegzulegen, bis er die Chiffre entdeckt hätte. Er versteifte sich darauf. Er biß sich darein fest. Er aß nicht mehr. Seine ganze Zeit verwendete er darauf, Zahlen zu kombinieren, um einen Schlüssel zu schmieden, der dieses Schloß öffnete!

Am Ende des ersten Tages war dieser Gedanke im Gehirn des Richters Jarriquez zur fixen Idee geworden. Ein mit Mühe bezwungener Zorn kochte in ihm und beherrschte ihn beständig.

Sein ganzes Haus erzitterte darunter. Seine Diener, ob weiße oder schwarze, getrauten sich nicht mehr in seine Nähe.

Zum Glück war er Junggeselle, sonst hätte Dame Jarriquez böse Stunden gehabt.

Noch nie hatte ein Rätsel dieses Original von einem Manne in diesem Maße außer sich gebracht, und er war fest entschlossen, die Lösung zu verfolgen, so lange ihm der Kopf noch nicht platzte, wie ein überheizter Kessel unterm Druck der Dämpfe.

Es stand für den würdigen Beamten jetzt völlig fest, daß der Schlüssel des Dokuments eine Zahl war, die aus zwei oder mehreren Ziffern bestand, aber daß diese Zahl unmöglich zu finden sei.

Dennoch machte sich der Richter Jarriquez mit wahrhafter Wut an diese Arbeit, und auf diese übermenschliche Arbeit verwendete er am 28. August all seine Fähigkeiten.

Diese Zahl aufs Geratewohl suchen, hieß, wie er schon gesagt hatte, sich in Millionen von Kombinationen verlieren, für die das Leben eines Rechners erster Klasse nicht hingereicht hätte. Wer wenn man auf den Zufall in keiner Weise zählen durfte, war es denn ganz unmöglich, durch logische Ueberlegung weiter zu kommen? Nein! Und dieser Aufgabe widmete sich der Richter Jarriquez mit ganzer Seele, nachdem er einige Stunden vergebens Schlaf gesucht hatte.

Wer in diesem Augenblick über die strengen Schutzvorrichtungen, die seine Abgeschlossenheit sicherten, bis zu ihm hätte dringen können, der hätte ihn wie am vergangenen Tage in seinem Arbeitszimmer gefunden, an seinem Schreibtisch, den Blick in das Dokument versenkt, dessen Tausende von verwirrten Lettern einen Tanz um seinen brennenden Kopf aufzuführen schienen.

»Ah!« rief er. »Warum hat der erbärmliche Schuft, der es geschrieben hat, wer es auch sein möge, nicht die Worte dieses Paragraphen auseinander gehalten? Dann könnte man – dann ließe sich versuchen – aber nein! Und wenn in diesem Dokument wirtlich von dem Raubmord die Rede ist, dann müssen sich unbedingt bestimmte Worte darin vorfinden, wie Diamanten, Distrikt, Tijuco, Dacosta, und andere noch, was weiß ich! und wenn man ihnen ihre kryptologischen Aequivalente gegenüberstellte, könnte man schließlich die Zahl finden. Aber nichts! Keine Spur von einer Trennung. Ein Wort, ein einziges! Ein Wort von 294 Buchstaben! – Ach! sei er 294 mal verflucht, der Idiot, der sein System so unheilvoll verschleiert hat! Dafür verdiente er 294 mal geköpft zu werden!

Und ein heftiger, gegen das Schriftstück geführter Faustschlag lieh diesem wenig menschenfreundlichen Wunsche Nachdruck.

»Aber wenn es schließlich ausgeschlossen ist, daß ich eins dieser Worte in dem ganzen langen Schriftstück suche, kann ich da nicht wenigstens probieren, ob ich es am Anfang oder Ende irgend eines der Paragraphen finde? Vielleicht bietet sich hier eine Möglichkeit, die nicht außer acht gelassen werden darf.«

Und indem er es mit diesem Verfahren probieren wollte, versuchte er, ob die Buchstaben am Anfang oder Ende jedes Absatzes des Dokuments denen entsprechen könnten, die das allerwichtigste Wort bildeten – das notwendigerweise an irgend einer Stelle sich vorfand das Wort Dacosta.

Es ergab nichts.

Um nur den letzten Absatz und die sieben Buchstaben, mit denen er begann, anzuführen, so fand der Richter Jarriquez folgende Formel:

H = D
h = a
t = c
b = b
i = s
u = t
o = a

Gleich beim dritten Buchstaben mußte der Richter Jarriquez in seinen Berechnungen innehalten, da die Entfernung der Buchstaben t und c im Alphabet nicht eine, sondern zwei Ziffern ergab, nämlich 17, und weil in dieser Art von Kryptogrammen ein Buchstabe immer nur durch einen einzigen andern ersetzt werden kann.

Mit den sieben letzten Buchstaben des Paragraphen Wsuvjhd verhielt es sich eben so, denn gleich der erste Buchstabe, das W, konnte in keinem Fall für D stehen, da es von diesem um ganze 19 Buchstaben auseinander lag.

An dieser Stelle stand der Name also nicht.

Dieselbe Beobachtung machte er mit den Worten Distrikt und Tijuco, die er nun probierte.

Nach dieser Arbeit stand der Richter Jarriquez auf, der Kopf war ihm wie zerschlagen, er durchmaß sein Zimmer, schöpfte am Fenster Luft und stieß eine Art Stöhnen aus, das so laut war, daß eine ganze Schar Kolibris, die sich im Blätterwerk einer Mimose tummelte, scheu davon schwirrte.

Dann kehrte er zu dem Schriftstück zurück.

Er nahm es zur Hand und drehte es hin und her.

»Der Esel! Der Idiot!« knurrte der Richter Jarriquez. »Er macht mich noch verrückt! Aber Halt! – Ruhe! – Nicht den Verstand verlieren! – Das wäre zur Unzeit!«

Nachdem er sich den Kopf mit einer kalten Abwaschung erfrischt hatte, fuhr er fort:

»Wir wollen etwas anderes versuchen, da ich aus der Anordnung dieser verwünschten Buchstaben keine Zahl ableiten kann; wir wollen sehen, welche Zahl der Schreiber dieses Dokuments möglicherweise hat wählen können, angenommen, daß er auch der Urheber des Verbrechens von Tijuco ist.«

Auf diese Weise versuchte der Richter es mit einer andern Methode, und vielleicht hatte er recht, denn sie entbehrte keineswegs einer gewissen Logik.

»Warum,« sagte er, »sollte dieser Verbrecher nicht das Jahr gewählt haben, in welchem Joam Dacosta geboren worden ist – jener Unschuldige, den er an seiner Stelle hat verurteilen lassen – sei es auch nur, um diese Zahl nicht zu vergessen, die so wichtig für ihn war? Joam Dacosta ist 1804 geboren. Sehen wir zu, was 1804, als kryptologische Zahl genommen, ergibt.«

Der Richter Jarriquez schrieb die ersten Buchstaben des Paragraphen nieder und darüber die Zahl 1804, die er dreimal wiederholte, und erhielt so folgende Formel:

1 8 0 4   1 8 0 4   1 8 0 4
H h t b   j u o o   k h i h

Indem er in der alphabetischen Reihenfolge um eben so viel Buchstaben, als der Wert der betreffenden Ziffer betrug, nach oben zählte, erhielt er folgende Reihe:

G . t .   i m o k   j . i d

welche gar keinen Sinn hatte!

Und dabei fehlten ihm noch drei Buchstaben, die er durch Punkte hatte ersetzen müssen, weil die Ziffern 8, 4 und die über den drei Buchstaben h, b und h standen, keine Buchstaben ergaben, die denselben beim Zählen aufwärts entsprochen hätten.

»Das ist es auch noch nicht!« rief der Richter Jarriquez. »Versuchen wir es mit einer andern Zahl!«

Und er fragte sich, ob anstatt dieser Zahl der Schreiber des Dokuments nicht eher die Zahl des Jahres hätte wählen sollen, in welcher das Verbrechen verübt wurde.

Das war das Jahr 1826.

Indem er nun in derselben Weise verfuhr, erhielt er die Formel:

1 8 2 6   1 8 2 6   1 8 2 6
H h t b   j u o o   k h i h

was folgendes ergab:

G . r .   i m m i   j . g b.

Dieselbe inhaltlose Buchstabenreihe, die gar keinen Sinn ergab. Wie in der vorigen Formel fehlten immer noch mehrere Buchstaben.

»Verwünschte Zahl!« rief der Beamte. »Auch das muß aufgegeben werden! Eine andere Zahl! Sollte dieser Idiot die Zahl der Kontos, die der Raub betrug, gewählt haben?«

Der Wert der gestohlenen Diamanten betrug 834 Kontos. Etwa 2 500 000 = 2 025 000 Mk.

Die auf diese Weise erhaltene Formel war:

8 3 4   8 3 4   8 3 4   8 3 4
H h t   b j u   o o k   h i h

welche folgendes ebenso wenig befriedigende Resultat ergab:

. e p   . g q   g l g   . f d.

»Zum Teufel das Dokument und der, der es ersann!« rief der Richter Jarriquez und warf das Papier hin, das in die andere Ecke des Zimmers flog. »Ein Engel würde darüber die Geduld verlieren und zu fluchen anfangen!«

Aber sobald diese augenblickliche Wut verflogen war, hob der Beamte das Dokument auf, denn er wollte sich nicht aus dem Felde schlagen lassen. Was er mit den ersten Buchstaben der verschiedenen Paragraphen versucht hatte, versuchte er nun mit den letzten – ebenso erfolglos.

Worauf seine überreizte Phantasie nur kommen mochte, alles wurde probiert. Nacheinander wurden die Zahlen probiert, wie das Alter Joam Dacostas, das dem Urheber des Verbrechens bekannt sein mußte, das Datum seiner Verhaftung, das Datum seiner Verurteilung vorm Schwurgericht von Villa-Rica, das für die Vollstreckung festgesetzte Datum, usw. usw., selbst die Zahl der bei dem Verbrechen von Tijuco gefallenen Opfer wurde probiert.

Nichts! immer noch nichts!

Der Richter Jarriquez befand sich in einem Zustande der Ueberreizung, bei dem tatsächlich für das Gleichgewicht seiner geistigen Fähigkeiten zu fürchten war. Er strampelte förmlich mit Händen und Beinen und rang sich ab, als kämpfte er mit einem Gegner Leib an Leib.

»Aufs Geratewohl,« rief er, »und möge der Himmel mir helfen, da die Logik nichts vermag!«

Seine Hand griff nach der Schnur einer Klingel, die über seinem Arbeitstische hing. Er klingelte heftig und lief sogar nach der Tür, die er aufriß.

»Bobo!« rief er.

Es vergingen einige Augenblicke.

Bobo, ein freigelassener Neger, der bevorzugte Hausbursche, kam nicht zum Vorschein. Augenscheinlich fehlte Bobo der Mut, ins Zimmer seines Herrn zu treten.

Der Richter schellte noch einmal. Er rief Bobo noch einmal, der in seinem eigenen Interesse den Schwerhörigen machen zu sollen meinte.

Endlich nach dem dritten Klingeln – wobei die Klingel herunterfiel und die Klingelschnur zerriß – erschien Bobo.

»Was befiehlt mein Herr?« fragte Bobo, vorsichtigerweise auf der Schwelle stehen bleibend.

»Komm herein, ohne ein Wort zu sprechen!« antwortete der Beamte, dessen flammender Blick den Neger erzittern machte.

Bob kam herein.

»Bobo,« sagte der Richter Jarriquez, »gib wohl acht auf das, was ich dir sagen werde, und antworte auf der Stelle, ohne auch nur einen Moment nachzudenken, oder ich ...«

Bobo riß Mund und Augen auf und stand da wie einer, der sich willenlos in sein Schicksal ergibt.

»Bist du soweit?« fragte sein Herr.

»Bin ich,« stammelte der Schwarze.

»Aufpassen! Sage mir, ohne zu suchen, verstehst du wohl, die erste beste Zahl, die dir in den Sinn kommt.«

»Sechsundsiebzigtausendzweihundertdreiundzwanzig!« antwortete Bobo in einem Atem.

Ohne Zweifel dachte Bobo seinem Herrn einen besondern Gefallen zu tun, wenn er eine recht hohe Zahl nannte.

Der Richter Jarriquez war nach seinem Tisch gelaufen, und mit dem Bleistift in der Hand hatte er nach der von Bobo als dem bloßen Werkzeug des Zufalls angegebenen Zahl seine Formel festgestellt.

Begreiflicherweise wäre es nur zu unwahrscheinlich gewesen, wenn diese Zahl 76 223 gerade die hätte sein sollen, die den Schlüssel des Dokuments ergab.

Die Zahl hatte daher keinen andern Erfolg, als daß sich dem Munde des Richters Jarriquez ein so nachdrücklicher Fluch entrang, daß Bobo sich beeilte, aufs schleunigste zu verschwinden.


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